Die Angst vor der Gewissheit
Die Mitreisende in seinem Zugabteil ist eine „alte Vettel“, die Tauben in der Bahnhofshalle sind „Ratten der Lüfte“ und Autofahrer allesamt „hinterfotzige Schweine“ – um Sympathie beim Leser buhlt der namenlose Ich-Erzähler, ein international erfolgreicher Maler, in Thomas Pregels Debütroman ganz gewiss nicht.
Im Gegenteil: Seine Übellaunigkeit, gepaart mit Selbsthass, und seine quälende innere Unruhe dominieren für eine ganze Zeit den Eindruck, den man von ihm gewinnt. Erst allmählich zeichnet sich ein vielschichtigeres Bild ab. Rückblenden auf zentrale biografische Episoden geben zumindest Anhaltspunkte, was diesen Mann zu jenem Psychowrack gemacht hat, als das er sich in den ersten Szenen präsentiert.
Sex „ohne Rücksicht auf Verluste“
Eine lange heftige Nacht mit viel Alkohol und noch mehr Sex liegt hinter ihm. Ein „schneller, dreckiger Fick“ in der engen Toilettenkabine einer schwulen Disco, „ohne Rücksicht auf Verluste“. Ohne Rücksicht, das heißt für den Ich-Erzähler: ohne Kondom.
Es ist für ihn keineswegs das erste Mal, dass er ungeschützten Sex hat, im Gegenteil. Er sucht in Saunen, Darkrooms und Cruisingparks ganz gezielt nach dieser „berauschenden Gefahr“, genießt „die nackte Hemmungslosigkeit der dunklen Räume“ und stürzt sich in eine für ihn längst nicht mehr zu überschauende Zahl anonymer Sexabenteuer.
Rausch der Gefahr
Die Befriedigung aber währt nie lange, sondern wird von Selbstzweifeln und Gewissensbissen überlagert, die sich am besten mit neuen, härteren, wilderen sexuellen Erlebnissen verdrängen lassen – ein Teufelskreis, bei dem der Erzähler jedes Mal feststellen muss, dass sein Herz immer noch genauso lädiert und einsam ist wie zuvor.
Der Wahlberliner Thomas Pregel, Jahrgang 1977, wagt in seinem Roman ein differenziertes Porträt eines Sexjunkies – süchtig nach Sex ohne Kondom. Dabei bedauert er allerdings, dass er nicht zu jenen Männern gehört, denen die „Konsequenzen ihres sexuellen Treibens scheißegal“ sind und für die „nur die reine Lust“ zählt: „Ich kann und will auch gar nicht verantwortungslos sein, weil das einfach dumm ist, nur bin ich leider zu feige, meinem eigenen Verantwortungsgefühl zu folgen“.
Zu feige, dem eigenen Verantwortungsgefühl zu folgen
Gewissheit erlangen, das wäre ein wichtiger und richtiger Schritt. Doch dies würde bedeuten, sich einem HIV-Test zu unterziehen oder einen Arzt aufzusuchen. Diesen Mut vermag er nicht aufzubringen. „Deshalb verdränge ich und ziehe wieder und wieder los und wiederhole mich in der berauschenden Gefahr, anstatt mich zumindest zu schützen.“
Pregels Anti-Held hadert, schlingert, scheitert. Immer und immer wieder. Psychisch und physisch am Ende schleppt er sich ins Ferienhaus eines Freundes auf Föhr. Es ist eine Flucht, die Chance auf eine kurze Auszeit, um Luft zu holen, die Unordnung im Kopf und im Herzen zu sortieren und sich im wahrsten Sinne des Wortes den Versuchungen und sexuellen Möglichkeiten der Großstadt zu „entziehen“.
Das kurze Wochenende auf der Insel, vor allem aber die langwierige Anreise dorthin, bilden den Erzählrahmen. Pregel vermeidet jegliche moralische Wertung und auch jede allzu vorschnelle oder vereinfachte psychologische Deutung des selbstzerstörischen Verhaltens seines Protagonisten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: „Die unsicherste aller Tageszeiten“ ist kein Debattenbeitrag zur Diskussion um Bareback, Safer Sex oder schwulen Hedonismus. Ebenso wenig sollte man einen Reportageroman über einen bestimmten Ausschnitt der schwulen Szene erwarten.
Stattdessen liefert Thomas Pregel eine reflektierende Innenschau seines Ich-Erzählers, die sich über 360 Romanseiten hinweg zu einer komplexen Biografie ergänzt und eine sattsame Zahl von Ansatzpunkten liefert, mit denen sich die widersprüchliche Persönlichkeit des Malers erklären ließe: von den ersten forschen sexuellen Erfahrungen des Halbwüchsigen über die harschen Reaktionen der Eltern auf sein Coming-out bis zu zwei komplizierten und gescheiterten beziehungsweise bewusst zum Scheitern gebrachten Liebesbeziehungen, die sein Leben auch nach den Trennungen weiter prägen.
Ein malender Marquis de Sade
Im gleichen Maße, wie sich der Ich-Erzähler seiner sexuellen Obsessionen bewusst wird und sie auslebt, findet er auch künstlerisch zu seinem eigenen Ausdruck. Pregel schildert diese (fiktive) Künstlerbiografie samt den verschiedenen Werkzyklen seines Protagonisten derart schlüssig und intensiv, dass man die Bilder förmlich vor Augen sieht und tatsächlich unsicher wird, ob es diesen international gehypten Maler und seine verstörenden und provokanten Gemälde und Radierungen nicht vielleicht doch gibt.
Einen „malenden Marquis de Sade“ lässt Pregel die „New York Times“ seinen Künstler nennen, doch so, wie der Autor die auf der Leinwand ausgelebten grotesken Gewalt- und Sexphantasien beschreibt, müssten wohl Gemeinschaftswerke von Francis Bacon, Tom of Finland und Norbert Bisky aussehen.
Nicht alle dunklen Nacht- und Schattenseiten aber lassen sich für den Kunststar mit Stift und Pinsel bannen. Am Ende seiner Lebensbeichte steht jener für ihn unverzeihliche Moment des Versagens, der schließlich zum Ausgangspunkt des Romans zurückführt: zur Angst, einen anderen mit HIV infiziert zu haben, weil die eigene Angst vor einem recht wahrscheinlichen positiven Testergebnis zu groß war.
Thomas Pregel „Die unsicherste aller Tageszeiten“. Roman. Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, gebunden, 382 Seiten, 23,90 Euro
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