„Er war bei diesem Abenteuer immer präsent“
In einer Hinsicht wird Daniel Deferts Buch „Ein politisches Leben“ manchen Leser enttäuschen. Wer hofft, darin intime Einblicke in Deferts Leben mit dem Philosophen Michel Foucault zu erhalten, wird nicht auf seine Kosten kommen.
Auch über die Differenzen mit Hervé Guibert, der in seinem autobiografischen Roman „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“ kaum verschlüsselt die Aids-Erkrankung Foucaults und dessen Schweigen darüber thematisierte, verliert Daniel Defert kaum mehr als drei Sätze.
Der Soziologe, Journalist und Aktivist will explizit keine Memoiren liefern. Der Titel seines Buchs, das in Gesprächen mit Philippe Artières und Éric Favereau entstand, ist unmissverständlich: „Ein politisches Leben“.
Sexualität ist politisch
Nur dieser – gewissermaßen öffentliche – Teil seiner Biografie ist ihm mitteilenswert. Die erste Fassung des Gesprächsprotokolls, so ist es dem Vorwort zu entnehmen, war Defert noch zu intim und privat. Vermeiden wollte er unter anderem, auf die Rolle des Foucault-Witwers reduziert zu werden. Gleichwohl haben ihn die zwei Jahrzehnte an der Seite seines Lebensgefährten geprägt und begreifen lassen, „dass die Sexualität politisch ist“.
Defert, geboren 1937 und damit zehn Jahre jünger als Foucault, ist bereits während seines Studiums in linken Projekten und politischen Aktionsgruppen aktiv. In den 1970er-Jahren etwa arbeiten Defert und Foucault zusammen mit Jean-Paul Sartre und Jean Genet in der „Groupe d’information sur les prisons“ (Gruppe Gefängnisinformation) , die die miserablen Haftbedingungen in den französischen Gefängnissen publik macht. Aber erst durch die Konfrontation mit Aids, so Defert, sei er „vollends in die politische Praxis eingetreten“.
Am 25. Juni 1984 war Foucault in einem Pariser Krankenhaus gestorben. Dass ausgerechnet er, der sich zuletzt so intensiv und wegweisend mit dem Verhältnis von Macht, Wissen und Sexualität auseinandergesetzt hatte, seine HIV-Erkrankung verschwieg, erschien vielen Homosexuellen- und Aids-Aktivisten wie ein Verrat.
Das Schweigen über Foucaults Aids-Erkrankung
Doch wie Defert nun schildert, hatte Foucault selbst erst zwei Tage vor seinem Tod von den Ursachen seiner Erkrankung erfahren, und dies auch nur, weil sich ein Assistenzarzt verplappert hatte. „Machen Sie sich keine Sorgen, wir streichen die Diagnose aus dem Totenschein“, glaubte man Defert beruhigen zu müssen.
Aids war nicht nur eine Krankheit, über die man am besten nicht einmal spricht, Aids war ein gesellschaftlicher Skandal, den man diskret verschwieg. Defert wollte und konnte das nicht akzeptieren. Man habe Foucault nicht nur seines Todes, sondern auch seiner Entscheidungen beraubt. „Das entsprach nicht dem politischen Leben, das wir geführt hatten.“
Drei Monate nach Foucaults Tod wartet Defert noch auf sein eigenes Testergebnis (es wird negativ ausfallen), aber er fühlt sich bereits in der Lage, reagieren zu können. In einem Brief, datiert vom „25. September 1984, 13.15 Uhr“ ruft er ein Dutzend nahestehender Menschen zum gemeinsamen Handeln auf: „Wir müssen uns mit unserem Verhältnis zur Krankheit, zur Individualität und zum Tod auseinandersetzen und es institutionalisieren. Diese Community wird bald die Bevölkerungsgruppe sein, die am besten über Immunerkrankungen informiert und am wachsamsten ist, was die Semiologie von Aids betrifft“. Sein Vorschlag: eine Organisation zu schaffen, „um Personen, die Aids haben, ihre Freunde und Risikogruppen zu informieren, zu beraten und ihnen zu helfen“.
Sein bereits detailliert ausgearbeitetes Konzept, das er seinem Schreiben beifügt, endet mit einer klaren Situationsbeschreibung: „Das Problem ist ernst, Krankheitsfälle sind selten, die Forschung wird von einer Meinung überwacht. Alles spricht dafür, sich schnell und solidarisch zu engagieren. AIDES muss die Umkehrung von Aids sein.“
Deferts Brief geht an Menschen aus den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern, mit denen er bereits zusammengearbeitet hat – Mitglieder von „Ärzte ohne Grenzen“, Politiker und Schwulenaktivisten. Kein einziger antwortet ihm. Auch von Teilen der Schwulenpresse kann er keine Unterstützung erwarten. Defert wird klar, „dass es in Kürze zwei verschiedene und sich streitende Lager geben würde: der Kampf gegen Aids und die sexuelle Befreiung“.
Aids hat die Wahrnehmung von Homosexualität verändert
Defert aber lässt sich nicht entmutigen und findet Verbündete für das Projekt AIDES, Frankreichs erste Selbsthilfeorganisation von HIV-Infizierten und an Aids Erkrankten.
„Ich glaube, Aids hat uns dazu gezwungen, das, was Homosexualität bedeutet, anders zu denken, das heißt nicht nur die sexuellen Akte und die Organisation der freizügigen Orte, sondern auch die affektiven, kulturellen Dimensionen, die ein ganzes Leben bestimmen können“, erklärt Defert. „Die Krankheit hat diese Dimensionen den Krankenhäusern, den Familien, den staatlichen Institutionen und der ganzen Gesellschaft enthüllt. Man hat gesehen, wie die Liebe der Liebenden und der Hass der Familie aufeinanderprallten.“
Ganz bewusst positionieren Defert und seine Mitstreiter AIDES als Projekt der Gesundheits- und nicht der Schwulenbewegung. „Wir wussten, dass die Kranken, die mit ihrer Familie und ihrer Umgebung nicht über ihre Homosexualität gesprochen haben, niemals zu uns kommen würden, wenn wir uns so präsentieren.“ Die ehrenamtlichen Helfer werden deshalb ganz bewusst nicht als „Aktivisten“, sondern als „volontaires“ (Freiwillige) bezeichnet.
Diese Kursbestimmung verläuft nicht ohne ideologische Debatten. Doch Defert setzt sich durch. Er versteht AIDES nicht als Lobbygruppe, die lediglich Forderungen an die Politik stellt und den Staat in die Pflicht nimmt, sondern konkrete Vorschläge zur Umsetzung unterbreitet.
So werden Konzepte für „Unterstützungsgruppen“ entwickelt, in denen HIV-Positive voneinander lernen sollten, mit der Krankheit, der Trauer, dem eigenen Sterben umzugehen. Eine landesweite Telefonberatung, der freie Verkauf von Spritzen und ein häuslicher Pflegedienst werden aufgebaut und Informationsveranstaltungen in schwulen Szenelokalen durchgeführt.
Nicht zuletzt aber geht es immer wieder darum, auch auf politischer Ebene gegen Aids zu kämpfen und entsprechende gesetzliche Grundlagen zu schaffen: zum Beispiel das Werbeverbot für Präservative aufzuheben. Erst im Januar 1987 wird ein Gesetz erlassen, das Werbung „als Mittel zur Vorbeugung gegen übertragbare Geschlechtskrankheiten“ erlaubt und damit die legale Verteilung von Kondomen im Rahmen der Prävention ermöglicht.
Aktiv gegen das Verbot von Kondomwerbung
„Wir waren eine Macht des Gegenvorschlags“, betont Defert. „Wir wollten keine Dienstleistungen übernehmen, für die der Staat zuständig war: Wir wollten sie ausprobieren, bevor der Staat sie allgemein verbreitetet.“
In diesen Schilderungen wird immer wieder deutlich, wieso Defert so nachdrücklich zwischen politischem Aktivismus und politischer Praxis unterscheidet. AIDES nutzt seine Netzwerke in die Ministerien und in die Verwaltung.
Um auch die Aufmerksamkeit der schwulen Community zu gewinnen, wird ein Posten im Leitungsgremium gezielt mit einem gutaussehenden, charismatischen schwulen Mediziner besetzt. Mit einem hochqualifizierten Team aus Forschenden, Medizinern und anderen Fachleuten, die sich bei AIDES engagieren, kann sich die Organisation gegenüber der Medienöffentlichkeit als zentraler Informationspool für alle Fragen rund um die HIV-Forschung und Behandlung positionieren.
1987 kommt es zu einem internen Konflikt, der AIDES zu zerreißen droht. Soll AIDES eine Organisation von Erkrankten sein oder eine Vereinigung von Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten? Sollen die Belange, Rechte und Bedürfnisse von Erkrankten im Zentrum stehen oder die HIV- und Aids-Forschung, zum Beispiel durch eine selbstfinanzierte Kohorten-Studie?
AIDES in der Krise
Wenige Jahre später stand man auch bei ACT UP in New York vor einer ähnlichen Frage; dort kam es zu einer Abspaltung der Treatment Action Group (TAG). In Paris hingegen gibt es nur wenige Austritte: AIDES bleibt auf Wunsch der Mitglieder- und Mitarbeitermehrheit eine Selbsthilfeorganisation von und für Menschen mit HIV/Aids.
„AIDES zu gründen, war für mich eine Weise, mit Foucault zusammenzubleiben, weil wir zusammen gekämpft haben. Er war bei diesem Abenteuer immer präsent“, sagt Defert. Sieben Jahre leitete er als Präsident die Organisation, und die Zusammenarbeit mit ihm – auch das verschweigt er nicht – war wohl nicht immer einfach.
Seine Ausführungen zu diesen entscheidenden und bewegten Anfangsjahren von AIDES sind denn auch die spannendsten Kapitel dieses Buches. Spannend zum einen, weil man die Gründungsphase und Strategien von AIDES in Vergleich setzen kann etwa zur Entstehung der Deutschen AIDS-Hilfe oder des Terrence Higgins Trust in Großbritannien.
Zum anderen sind sie immer wieder auch bewegend, weil es Defert gelingt, trotz seiner klaren, analytischen Darstellung mit packenden Fallbeispielen und schlaglichtartigen Momentaufnahmen die gesellschaftliche wie politische Ausnahmesituation in dieser Periode der Epidemie greifbar zu machen.
Daniel Defert: „Ein politisches Leben. Gespräch mit Philippe Artières und Éric Favereau in Zusammenarbeit mit Joséphine Gross“ Aus dem Französischen von Ronald Voullié. Merve Verlag Berlin 2015, 240 Seiten, 22 Euro.
Buchpremiere am 29. Oktober, 19.30 Uhr im ICI Berlin. Daniel Defert im Gespräch mit Cord Riechelmann (in englischer Sprache)
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