Flüchtlingsmarsch nach Berlin: „Respektiert unsere Menschenwürde!“
Am 8. September haben sich Flüchtlinge von Würzburg nach Berlin in Bewegung gesetzt, um gegen die deutschen Asylgesetze zu protestieren. Sophie Neuberg hat mit Teilnehmern über ihre Forderungen gesprochen.
Angefangen hat alles mit dem Suizid eines iranischen Flüchtlings in Würzburg am letzten Januarwochenende. Am Montag darauf protestierten rund 80 Asylbewerber in der Würzburger Innenstadt gegen ihre Situation – „Wir werden behandelt wie die Tiere“, sagte damals einer von ihnen. Der Funke sprang über: Mit Protestcamps versuchten bald Flüchtlinge im ganzen Land, auf ihre Lage aufmerksam zu machen.
Seit dem 8. September marschieren nun Flüchtlinge von Würzburg nach Berlin, um dort und auf dem Weg deutlich hörbar ihre Forderungen vorzutragen: Abschaffung aller Flüchtlingslager in Deutschland, Abschaffung der Abschiebegesetze, Abschaffung der Residenzpflicht, schnellere Asylverfahren, Abschaffung des Arbeitsverbots. Unterwegs sollen sich Flüchtlinge aus anderen Lagern sowie Unterstützer dem Protestmarsch anschließen können.
Eine weitere Gruppe ist mit einem Kleinbus unterwegs nach Berlin – am 18. September waren im Bus sechs, zu Fuß 18 Flüchtlinge „on the road“. Ende September, Anfang Oktober wollen alle in Berlin ankommen. „Wann genau, können wir noch nicht sagen“, erklärt Ashkan von der „Busgruppe“: „Wir machen so lange weiter, wie wir können, und besuchen so viele Flüchtlingslager wie möglich.“
„Die Residenzpflicht ist ein Gesetz gegen Menschen“
Schon der Marsch an sich ist nicht nur ein politisches Statement, sondern bringt die Flüchtlinge in Konflikt mit dem Gesetz. Am 13. September passierte die „Fußgruppe“ die Grenze von Bayern nach Thüringen. Sämtliche Teilnehmer verstoßen damit gegen die sogenannte Residenzpflicht und riskieren eine Strafanzeige: Asylbewerber dürfen sich nur in dem Bezirk aufhalten, in dem sich die für sie zuständige Ausländerbehörde befindet (§ 56 Asylverfahrensgesetz).
Doch die Protestierenden sind unerschrocken: „Wir sind Menschen und wir glauben, die Residenzpflicht ist ein Gesetz gegen Menschen“, sagt Teilnehmer Omid. Um die Unmenschlichkeit der Asylpolitik zu demonstrieren, haben bei dem Grenzübertritt 16 Flüchtlinge sogar ihre Duldungspapiere öffentlich zerrissen. Anschließend wollen sie die Papiere an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge senden, um dort „die Fehler verbessern zu lassen“, sprich: Sie wollen Papiere ohne Residenzpflicht, ohne Lagerpflicht, ohne Verbot einer regulären Arbeit und ohne entwürdigende Essensgutscheine. „Wir wissen, dass wir etwas tun, was gegen das Gesetz ist, aber wir glauben, dieses Gesetz ist nicht gut, denn es respektiert unsere Menschlichkeit nicht“, sagt Ashkan.
Respekt der Menschenwürde ist das, was die Flüchtlinge einfordern – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und Omid betont: „Wir haben keine Angst, wir haben nichts getan.“ Trotzdem sieht Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl, Strafanzeigen auf die Teilnehmer zukommen. Pro Asyl wird dann gegebenenfalls die Flüchtlinge anwaltlich vertreten. „Wir unterstützen die meisten Forderungen, die vom Protestmarsch ausgehen“, erklärt Mesovic: „Wir fordern auch die Abschaffung der Residenzpflicht, die Abschaffung der Flüchtlingslager sowie schnellere Asylverfahren.“
Auch die medizinische Versorgung von Asylbewerbern auf der Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes ist problematisch: Das Gesetz gewährt die „Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ (§ 4), doch nach den Erfahrungen von Bernd Mesovic von Pro Asyl ist die Interpretation einer akuten Erkrankung und die Handhabung des Gesetzes regional unterschiedlich. Daraus ergeben sich Probleme, insbesondere eine sehr bedenkliche Unterversorgung psychisch traumatisierter Flüchtlinge. Und es gibt immer mehr Flüchtlinge, die schwer traumatisiert sind: „Es gibt keine gesicherten Zahlen, aber ich vermute eine Verdoppelung solcher Fälle“, erzählt Mesovic. Dies liege an der Zunahme akuter Krisenherde, etwa Syrien, Afghanistan oder Somalia, wo die Menschen extreme Gewalterfahrungen durchleben.
„Das Leben im Lager ist wie ein Gefängnis“
Hinzu kommen die schrecklichen Bedingungen der Flucht, zum Beispiel, wenn Menschen in einem Flüchtlingsboot erlebt haben, wie andere um sie herum verhungert sind. Wenn diese Überlebenden in einer Massenunterkunft eingepfercht sind und aufgrund der langen Dauer des Verfahrens monatelang in Unsicherheit leben, was mit ihnen geschehen wird, werden sie von Tag zu Tag verzweifelter. „Das Leben im Lager ist wie ein Gefängnis“, erzählt Omid, „deshalb hat es erst kürzlich wieder zwei Selbstmordversuche im Flüchtlingslager Weiden gegeben.“ „Eine richtige Versorgung bei psychischen Problemen gibt es nicht, nur Pillen“, empört sich auch Ashkan.
Das Thema Aids kommt den Mitarbeitern von Pro Asyl dagegen seltener zu Ohren – Bernd Mesovic vermutet und hofft, dass die Betroffenen relativ gut Zugang zu Aidshilfen und zur medizinischen Versorgung finden. Allerdings stellt sich auch hier oft das Problem der Residenzpflicht: Wer seinen Landkreis verlassen will, um die nächstgelegene Aidshilfe oder eine Schwerpunktpraxis zu besuchen, muss eine Genehmigung beantragen und sich so als HIV-Positiver „outen“, wie Melike Yildiz von der Kontakt- und Anlaufstelle BeKAM in der Berliner Aids-Hilfe dem d@h_blog an anderer Stelle erläuterte. Laut Mesovic ist ein strittiger Punkt im Asylverfahren außerdem oft, ob die Behandlung von HIV und Aids im Herkunftsland gewährleistet ist und deshalb HIV-Positive zurückgeschickt werden können oder ob ein Abschiebungshindernis aus Krankheitsgründen vorliegt (§ 60 (7) Aufenthaltsgesetz).
Mit dem Ablauf des Protestmarschs sind bislang beide Gruppen sehr zufrieden. Landesflüchtlingsräte und Pro Asyl unterstützen die Forderungen der Flüchtlinge, lokale Aktivistengruppen helfen zum Beispiel mit Essen und Übernachtungsmöglichkeiten. Die „Fußgruppe“ habe zwar Blasen an den Füßen, erzählt Omid, sei aber weiterhin in guter Verfassung und schöpfe aus den Protestaktivitäten viel Kraft. In welcher Form sie dann in Berlin ihre Forderungen zu Gehör bringen, steht noch nicht fest: „Es gibt bei uns keine Hierarchie, sondern das sollen alle Teilnehmer gemeinsam entscheiden“, betont Ashkan.
Weitere Informationen
Ablauf und Route des Protestmarschs auf der Website der Organisatoren verfolgen: www.refugeetentaction.net
Informationen über die Arbeit von Pro Asyl: www.proasyl.de
Den Protestmarsch mit Spenden unterstützen: Spendenkonto: Förderverein Karawane e.V. | GLS Gemeinschaftsbank eG | Stichwort: Protestmarsch Berlin | Kontonummer: 4030780800 | Bankleitzahl: 43060967
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