Ein Höllenritt zum pragmatischen Aktivismus
Am 7. Dezember 1985 wurde aus dem bislang lokal agierenden Verein Deutsche A.I.D.S.-Hilfe e.V. ein Dachverband für eine im gesamten Bundesgebiet rasant wachsende und bis dahin beispiellose Hilfestruktur: die Gründung der Deutschen Aidshilfe in ihrer heutigen Form.
Es ist immer hilfreich, bei einer Vereinsgründung einen Juristen in den eigenen Reihen zu haben, der sich auch gleich um die Satzung kümmern kann. Praktischerweise trafen die Initiatorinnen sich am 23. September 1983 im noch neuen Anwaltsbüro von Stefan Reiß in Berlin-Charlottenburg. Zehn Menschen drängten sich um den Tisch. Zusammengetrommelt hatte sie die einzige Frau in der Gruppe, die sonst aus schwulen Männern bestand: Sabine Lange, die durch ihre Tätigkeit in der auch für sexuell übertragbare Krankheiten zuständigen Berliner „Landesimpfanstalt mit tropenmedizinischer Beratungsstelle“ einen direkten und engen Draht zur schwulen Szene hatte. Sie erlebte tagtäglich, wie die alarmierenden Meldungen über die neue Krankheit Ängste und Verunsicherung schürten – aber auch, wie schlecht teilweise die ersten Erkrankten in den Praxen, Kliniken oder zuhause versorgt wurden. Und so kam es an diesem Abend zur Gründung der Deutschen A.I.D.S.-Hilfe e.V. Dass es sich bei der Krankheitsbezeichnung um die Abkürzung von „Acquired Immune Deficiency Syndrome“ (Erworbenes Immunschwächesyndrom) handelt, musste man damals in der Schreibweise noch deutlich machen.
„Wir ahnten nicht, welche Welle an Arbeit bald über uns hereinbrechen würde“
Ziel des neuen Vereins laut Satzung: die „Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens und des Wohlfahrtswesens“. Er hatte sich viel vorgenommen: Man wollte die noch spärlichen medizinischen Informationen sammeln und weitergeben, Telefonberatung anbieten, Kranke unterstützen, Menschen würdig bis zu ihrem Ende begleiten und der diffamierenden, homosexuellenfeindlichen Berichterstattung etwas entgegensetzen.
„Wir ahnten noch nicht, welche Welle an Arbeit schon bald über uns hereinbrechen würde“, sagt Stefan Reiß, der zum ersten Vorstand des neugegründeten Vereins gehörte. „Aber glücklicherweise fanden sich auch schnell viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer.“ Auch in anderen Städten gründeten sich innerhalb kurzer Zeit ähnliche Organisationen. „Das ging in einem rasanten Tempo“, erinnert sich Reiß. „Die Aidshilfe-Landschaft hat sich quasi jeden Monat verändert.“
Getragen wurden diese neuen Initiativen durchweg von Akteuren aus der Schwulenbewegung, die sich bislang gerne mit internen politischen Richtungsstreitereien beschäftigt hatte. Behörden und staatlichen Stellen stand man aus guten Gründen eher misstrauisch gegenüber; hatte es doch gerade in vielen Bundesländern wieder zunehmend Razzien in der Schwulenszene und andere einschüchternde Maßnahmen gegeben. „Daher war die Befürchtung eines Rollbacks infolge von Aids durchaus begründet“, sagt Stefan Reiß. Umso erstaunlicher, wie schnell die jungen Aidshilfen zu einer pragmatischen Form des Aktivismus gefunden hatten. Andererseits war auch allen bewusst, dass angesichts dieser immer noch schwer einzuschätzenden Bedrohung die enge Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden und Gelder der öffentlichen Hand notwendig waren.
Öffentliche Mittel und die Tücken des Verwaltungsrechts
In West-Berlin hatte der damalige CDU-Gesundheitssenator Ulf Fink die Problematik früh erkannt und war bereit, die Arbeit der kaum ein Jahr alten Deutschen A.I.D.S.-Hilfe aus einem „Selbsthilfe-Topf“ mit immerhin 43.114 DM zu unterstützen. Doch die Sache hatte einen Haken: Das im April 1985 bewilligte Geld war „zweckgebunden für das Projekt ‚Selbsthilfebereich der Deutschen A.I.D.S.-Hilfe e.V. in Berlin‘“. Die zuständige Beamtin hatte im Bewilligungsbescheid „Berlin“ zur Sicherheit unterstrichen.
Nicht bewilligt wurden beispielsweise die Kosten für die damals noch technisch aufwendige und entsprechend teure Anrufweiterschaltung, mit der die enorm wichtig gewordene Telefonberatung bundesweit möglich gewesen wäre. Zugleich wuchs mit der Zahl der regionalen Aidshilfen auch die Notwendigkeit, nicht nur Aufgaben wie Pressearbeit und die Herstellung von Aufklärungsmaterial zu bündeln, sondern auch mit geeinter Stimme Forderungen an das damals noch existierende Bundesgesundheitsamt heranzutragen.
Es war, wie sich Stefan Reiß erinnert, die Berliner Landesverwaltung, die einen Weg aufzeigte. Sie schlug vor, das Kernprojekt der Deutschen A.I.D.S.-Hilfe in Berlin, nämlich die Betreuung der Erkrankten, auszugliedern und so die Senatsförderung dafür zu sichern. Der ursprüngliche Verein könne sich dann für die bundesweiten Aufgaben mit weiteren Förderanträgen an das von Heiner Geißler geleitete Gesundheitsministerium in Bonn wenden.
Dort wurde im Herbst 1984 noch darüber diskutiert, ob das Bundesseuchengesetz in seiner bestehenden Form auch auf diese schwer einzuschätzende neue Erkrankung angewendet werden könnte oder ob vielleicht sogar ein „Lex AIDS“ notwendig würde. Sexualwissenschaftler wie Martin Dannecker und Erwin J. Haeberle intervenierten öffentlich gegen diese Überlegungen. Und sie machten deutlich, dass man schwule Männer mit Aufklärungs- und Präventionskampagnen nur dann würde erreichen können, wenn man sie mit ins Boot holte.
Der Schulterschluss am Airport Düsseldorf
Ute Canaris, die damalige Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), und der zuständige Ministerialdirektor des Bundesgesundheitsministeriums Manfred Steinbach zeigten sich für solche Überlegungen aufgeschlossen und luden im März 1985 zu einem Treffen in einem Düsseldorfer Flughafenhotel. Neben Vertreterinnen des Ministeriums nahmen u.a. Sexualwissenschaftlerinnen, die der Aidshilfe nahestanden, und für die DAH Vorstandsmitglied Gerd Paul und Gründungsmitglied Bruno Gmünder teil. Für die DAH sei es einerseits um die „Strukturierung schwuler Interessen“ gegangen; andererseits wollte man eine Alternative gegenüber den recht hilflosen Ansätzen der Bundesregierung in der Aids-Hysterie finden, schildert Gmünder dieses von ihm als „geradezu konspirativ“ wahrgenommene Meeting. Man habe alle zur Verfügung stehenden Community-Fürsprecher mobilisiert, um dem Ministerium zu zeigen, dass die DAH der mitten in der Community stehende Partner ist, der damit die Basis und Autorität hat, in die Community zurückzuwirken.
Dass eine Schar schwuler Männer aus einem noch jungen Verein mal eben erklärte, dass sie die Prävention für ihre Gruppe besser konzipieren und organisieren könnte als die dafür eigentlich zuständigen Behörden, hätte durchaus als Dreistigkeit und Selbstüberschätzung wahrgenommen werden können. Für Rainer Schilling, der ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern gehört und später als DAH-Schwulenreferent von 1987 bis 2008 die Präventionsarbeit für MSM wesentlich geprägt hat, war es „nicht unbedingt selbstverständlich, dass eine staatliche Institution so eng mit einer Nichtregierungsorganisation zusammenarbeitet und in dieser Weise Aufgaben abgibt“.
Canaris und Steinbach aber ließen sich überzeugen, und so kam es zum „Schulterschluss zwischen der BZgA und Aidshilfe“, wie Schilling es formuliert. Ute Canaris machte allerdings deutlich, dass für eine Zusammenarbeit ein bundesweiter Dachverband als Ansprechpartner notwendig sei.
Doch eben dieser Dachverband musste erst noch gegründet bzw. der bestehende Verein in einen solchen umgewandelt werden. Im Herbst 1983 war es um eine Organisation gegangen, die die notwendigen Formalitäten übernimmt – z. B. die Beantragung von Telefonanschlüssen oder eines Bankkontos für Spenden an diejenigen, die sich unter ihrem Dach um Bedürftige, Kranke und von Vorurteilen Bedrängte kümmern würden. „An Primärprävention – also Informationskampagnen, um Neuinfektionen zu verhüten – hat damals noch niemand gedacht“, sagt Rainer Schilling. Das Virus, damals noch HTLV-III genannt, wurde erst 1984 entdeckt; zudem verdichteten sich erst nach und nach die Hinweise auf die Übertragungswege. Wie die Deutsche Krebshilfe sollte auch die Deutsche Aidshilfe bei ihrer Gründung vor allem die Funktion einer Patientenvereinigung erfüllen, erläutert Schilling.
Aidshilfelandschaft im Aufbruch
Bei einem bundesweiten Treffen der Aidshilfen im Januar 1985 in Köln bot die DAH an, künftig als Dachverband zu fungieren. Um diese Umwandlung zügig vorzubereiten, wurden die regionalen Aidshilfen Mitglieder der DAH und konnten so bereits einen Monat später bei einer Mitgliederversammlung am 9. Februar in Berlin einen Überblick über die Aktivitäten in ihren Städten vermitteln: München berichtete von der konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt und verteilte ein eigenes Safer-Sex-Infoblatt. Die Frankfurter Aids-Initiative bot telefonischen Beratungsdienst an, in Göttingen hatten sich alle Schwulengruppen zu einem Aids-Informationskreis zusammengeschlossen. In Düsseldorf wollte sich eine „Deutsche AIDS-Hilfe Düsseldorf“ gründen; gemeinsam mit der Bonner AIDS-Hilfe überlegte man, einen „Verband Rheinland-Westfalen“ ins Leben zu rufen. In Hamburg arbeiteten zwei konkurrierende Aids-Gruppen eher gegen- als miteinander, was das Gespräch mit der Stadtregierung nicht gerade einfacher machte.
Eine wichtige Entscheidung an diesem Tag: Um die bundesweite Arbeit besser koordinieren zu können, sollte im Dachverband neben dem Vorstand ein „Bundeshauptausschuss“ mit Vertreterinnen aller regionalen Aids-Gruppen installiert werden.
Auf einem Koordinationstreffen im April 1985 im Tagungshaus Waldschlösschen wurde ein Interimsbeirat beauftragt, die bisherige Satzung so zu ändern, dass sie einem Bundesverband gerecht wird. Und es wurden auch schon erste Forderungen gestellt: mehr Geld für Forschung, für Betreuung von Infizierten und Erkrankten sowie für Aufklärung der Hauptbetroffenengruppen – „Homosexuelle, Bluter, Fixer und Prostituierte“. Zugleich wurde angesichts der sich dramatisch entwickelnden Ereignisse deutlich, wie wichtig es ist, dass der Dachverband als politisches Sprachrohr aller Aidshilfen der sensationsheischenden, angstschürenden und diffamierenden Berichterstattung von Boulevardmedien wie auch von Magazinen wie „Spiegel“ und „Quick“ etwas entgegensetzt.
Zehn Stunden zähes Ringen um Details
Der letzte und entscheidende Akt fand schließlich am 7. Dezember 1985 im Rathaus Schöneberg statt: Auf der Außerordentlichen Mitgliederversammlung sollte die Deutsche A.I.D.S.-Hilfe nun als Dachverband von damals 27 örtlichen Aidshilfen konstituiert werden. Was nach einem formalen und vielleicht sogar festlichen Akt klingt, war in Wahrheit ein Höllenritt. Zehn Stunden dauerte die Sitzung im Fraktionssaal der Alternativen Liste. Um 2.15 Uhr morgens wurde sie vom Schriftführer offiziell beendet. Immer wieder hatten die Anwesenden über Formulierungen und Details diskutiert, wie etwa die Stimmberechtigung von „juristischen Personen“ wie Vereinen und die Zusammensetzung des Beirats. Dann war es endlich vollbracht, und die neue Satzung war mit 53 Ja- und 5 Nein-Stimmen eine beschlossene Sache. Die ehemalige Betreuergruppe der DAH als Kern der Neugründung Berliner A.I.D.S.-Hilfe hatte sich bereits im Juli als eigenständiger Verein konstituiert.
„Der Dachverband kam gerade noch zur rechten Zeit“
Die Erwartungen an die Geschäftsstelle des Dachverbands waren groß und die To-do-Liste enorm, wie sich der damalige Vorstand Gerd Paul erinnert: „Vernetzung und Koordination der regionalen Aidshilfen, Entwicklung erster Präventionsaussagen und -medien, offensive Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyarbeit in Bonn, Schutzfunktion gegenüber Diskriminierten und Betroffenen – und das alles mit minimalen finanziellen Eigenmitteln.“ Nicht zuletzt galt es, „die Forderungen der DAH durch die Beteiligung der verschiedenen Aidshilfen erstmals bundesweit politisch zu legitimieren und einheitlich zu vertreten.“
„Der Dachverband kam gerade noch zur rechten Zeit“, findet Rainer Schilling. Dass die deutsche Aidshilfegeschichte auch eine Erfolgsgeschichte geworden ist, hat seiner Ansicht nach auch damit zu tun, dass der Dachverband inklusive der funktionierenden Geschäftsstelle sich „kurz nachdem es konkrete Präventionsmöglichkeiten gab, diesen notwendigen Aufgaben mit ganzer Kraft widmen konnte.“
Der erste Vorstand hätte gerne direkt mit dem Ministerium verhandelt und nicht mit der BZgA als vorgelagerter Stelle. Rainer Schilling sieht darin aber einen enormen Vorteil: „Jeder einzelne Plakatentwurf, jede Broschüre hätte dann dem Ministerium vorgelegt und dort abgesegnet werden müssen. So aber hatten wir viel größere Freiheiten.“ Allerdings auch keine uneingeschränkten. Abgesehen davon, dass „die behördengerechte Abwicklung dieser Projektanträge … erheblichen Raum in unserer Arbeit“ einnahm, wie im ersten Jahresbericht des DAH-Bundesverbands beklagt wurde. Für Präventionsmaterial, das begrifflich „zu eindeutig“ war – wie etwa die von Ralf König gezeichneten Safer-Sex-Comics – wurden Zuwendungen abgelehnt. Der Druck musste in solchen Fällen aus Spenden finanziert werden.
Ungeachtet solcher Missstimmungen in den Anfangsjahren hat sich die Arbeitsteilung zwischen DAH und der BZgA (inzwischen in Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit umbenannt) über all die Jahrzehnte hinweg bewährt. Aus den einst zwei Dutzend Mitgliedsorganisationen sind mittlerweile über hundert geworden; die Aufgaben haben sich über die Jahrzehnte zwar verändert, aber sie sind im Kern immer noch jene, wie sie in der Vereinssatzung formuliert wurden: seien es die Aufklärung und Beratung über HIV, Aids und sexuell übertragbare Krankheiten, die Stärkung der sexuellen Gesundheit und der sexuellen Rechte wie auch die Unterstützung der Menschen mit HIV und Aids.
Mehr zur Gründung der Deutschen Aidshilfe
Diesen Beitrag teilen