REINGEHÖRT

Langsamer, genauer, intensiver singt niemand

Von Paul Schulz
„Es gibt keinen besseren!“, hat John Coltrane über den Jazz-Interpreten Andy Bey gesagt. Der 74-Jährige, der seit 20 Jahren offen HIV-positiv lebt, hat sein neues Album „The World according to Andy Bey“ jetzt auch in Deutschland veröffentlicht. Eine überfällige Entdeckung. Von Paul Schulz

AndyBey2aPortwein. Bitterschokolade. Pfirsiche, die so reif sind, dass einem beim ersten Bissen der Saft das Kinn herunterläuft. Eine feste, zielstrebige Massage. Eine Hand, die einen zärtlich am Hinterkopf packt, um einen in einen langen Kuss zu ziehen. Der Abend des ersten wirklich warmen Tages im Jahr. So ist Andy Beys Stimme: Ein ganzkörperlicher Vier-Oktaven-Sinneseindruck, satt und weich, vollmundig, etwas, an das man sich noch Jahre später lächelnd erinnert.

Der 74-Jährige ist seit 1996, dem Jahr, in dem sein zweites Debüt „Ballads Blues and Bey“ erschien, einer der ganz großen Geheimtipps des internationalen Jazz. Obwohl er schon von der New York Times zum „vielleicht besten Vokalisten seiner Generation“ erklärt worden ist. Und obwohl John Coltrane über ihn gesagt hat: „Es gibt keinen anderen, der so gut ist wie Andy.“

„Ich muss sein, wer ich bin. Wahrhaftig. Sonst kann ich nicht singen.“

Warum ihn trotzdem kaum jemand kennt? So ist das eben manchmal im Leben. Jazz ist eine Männerdomäne, neben HipHop der vielleicht letzte echte Hort heterosexueller Komplizenschaft. Und Bey ist schon immer schwul. Und seit 20 Jahren HIV-positiv. Und sagt das auch. „Sie müssen mich nehmen wie ich bin. Nur wenn du ihnen Macht über dich gibst, können sie die auch ausüben. Ich muss sein, wer ich bin. Wahrhaftig. Sonst kann ich nicht singen.“

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Gefeiert, trotzdem immer noch ein Geheimtipp

Er singt schon lange. Und mit den Großen: Shirley Horn, Aretha Franklin, Miles Davis. Mit dem Meister arbeiteten Andy und seine Schwestern in den 1950ern in Paris. Wo sie alle leben wollten, weil dort nicht wie in ihrer Heimat nach Hautfarben, sondern nur nach musikalischen Fähigkeiten getrennt wurde. Und weil sich der junge Andy in der pulsierenden europäischen Metropole auch sexuell ausprobieren konnte.

Im nächsten Jahrzehnt nahm das Geschwister-Trio als „Andy and the Bey Sisters“ drei Alben auf und tourte ausgiebig in Europa und den Staaten. Aber der große Erfolg wollte sich nicht einstellen. Andy lieh seine Stimme einigen heute vergessenen Bürgerrechtshymnen, veröffentlichte 1974 noch sein erstes Soloalbum, dann war er für zwei Jahrzehnte nur noch ab und zu auf den Alben anderer Künstler zu hören, unterrichtete viele Jahre lang Jazzgesang in Graz und tat große Dinge auf kleinen Bühnen in der ganzen Welt.

1994 erfuhr Andy Bey von seiner Infektion

Als er 1994 frustriert nach New York zurückkehrte, erfuhr er von seiner Infektion. Der Schock weckte, so beschreibt er das selbst, „meine Lebensgeister“. 24 Monate später erschien nach 22 Jahren Soloalbum Nummer zwei: „Ballads, Blues and Bey“, im selben Jahr, in dem auf der Welt-Aids-Konferenz in Vancouver die erste Kombinationstherapie vorgestellt wurde.

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Auch mit 74 noch bestens bei Stimme

Da war Bey 57. Und legte los. Das Album war zu seiner großen Überraschung ein riesiger Kritiker- und ganz passabler Verkaufserfolg und machte Bey für seine Verhältnisse „über Nacht“ zu einer festen Größe bei Jazzfestivals rund um den Globus. Plötzlich hatte er Fans, unter ihnen viele junge Kollegen. Die durften sich seitdem über sieben weitere Alben freuen, von denen vor allem das dritte, „Tuesdays in Chinatown“, auch in Deutschland auf Gegenliebe stieß.

Plötzlich hatte er Fans, unter ihnen viele junge Kollegen

Mit dieser famosen Sammlung aus eigenen Liedern und amerikanischen Standards erntete Bey hymnische Besprechungen in der FAZ und der ZEIT. Er wurde von Jazz-Magazinen gefeiert und gab in weniger als einem Jahr zwei Dutzend Konzerte im deutschsprachigen Raum. Sein bisheriger Karrierehöhepunkt, in einem Alter, in dem sich viele seiner Kollegen längst zur Ruhe gesetzt haben.

Es sieht nicht so aus, als würde Andy Bey das bald selbst tun. „Ich muss natürlich auf mich achten und mit meiner Energie haushalten. Aber es ist eine Freude zu sehen, dass sich meine Stimme auch mit 74 immer noch weiterentwickelt, neue Farben preisgibt, mich nicht im Stich lässt.“

„The World According to Andy Bey“ ist ein kleines Wunder

Im Gegenteil. Andys letztes Album „The World According to Andy Bey“ ist im Herbst in den USA erschienen und nun auch in Deutschland zu haben. Und es ist ein kleines Wunder, denn darauf ist nichts weiter zu hören als Bey: Er begleitet sich selbst auf dem Klavier, während er einige der besten Interpretationen abliefert, die man von den Songs „But not for me“, „The Joint is jumpin“ oder „S’ Wonderful“ je gehört hat.

Cover des Albums "The World According to Andy Bey"
Cover des Albums „The World According to Andy Bey“

Dabei stellt sich heraus: Bey ist nicht nur ein wunderbarer Sänger, sondern auch ein begnadeter Pianist, dessen Talent auch im Alter endlos scheint: In „Dedicated to Miles“ singt und spielt er mit leichter Hand die Trompetenphrasierungen von Miles Davis nach und setzt sich mit der Eigenkomposition „The Demons are after you“ mal schnell ein Denkmal.

Wobei „schnell“ vielleicht das falsche Wort ist. Es sind seine ins grenzenlose gezogenen Phrasierungen, die Geduld, die er mit seinen Tönen aufbringt, sein nie enden wollender Atem, die Beys Aufnahmen so besonders machen. Langsamer, genauer, intensiver singt niemand. Wie man das macht? Ernährung und Yoga, ganz im Ernst.

„Singen ist etwas, das du mit dem ganzen Körper tust“

„Meine ältere Schwester hat mich vor vielen Jahren zum Yoga gebracht, und ich praktiziere immer noch. Körperliche Flexibilität ist wichtig, schließlich ist Singen etwas, das du mit dem ganzen Körper tust.“ In den kommen auch nur gute Sachen: „Ich bin seit vielen Jahren Vegetarier und ernähre mich sehr bewusst. Was gut für mich ist. Und ein großer Freund von ‚unterhaltsamen’ Substanzen war ich noch nie.“

Seit seiner Diagnose 1994 kümmert er sich sehr intensiv nicht nur um seine Kunst, sondern auch um seine Seele und seinen Körper. Das hört man jeder Note von „The World According to Andy Bey“ an, für das Bey 2014 für den Grammy als „Best Jazz Vocalist“ nominiert war. Was hoffentlich dazu beiträgt, dass immer mehr Menschen in den Genuss von Andy Bey kommen. Man sollte sich das gönnen. Es ist eine überfällige Entdeckung.

 

„The World According To Andy Bey“ (High Note/ZYX), jetzt erhältlich

Soundcloudlink zu „S’ Wonderful“ aus dem Album

Youtube-Videolink

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