Links, schwul und scharfzüngig
Eine Figur wie Gore Vidal fehlt in der deutschen Literatur und ist dort letztlich auch undenkbar. Ein Intellektueller und Dandy, der sowohl dickleibige historische Romane und Drehbücher („Ben Hur“) als auch tiefgründige Essays zur Literatur und Politik schreibt, der in der High Society zu Hause ist, sich mit Präsidenten oder deren Gattinnen zum Kaffeeplausch trifft, sich bisweilen als Schauspieler verdingt (unter anderem in Fellinis „Roma“) und sich vorzugsweise als schandmäuliger Salonlöwe gibt.
Er liebte die Rolle des schandmäuligen Salonlöwen
Zweimal, 1960 und 1982, trat er, der scharfe und zugleich amüsante Sozialkritiker, im Wahlkampf als Kongresskandidat der Demokratischen Partei an. Sein Slogan: „You’ll get more with Gore“. Aus seiner Homosexualität machte er keinen Hehl, im Gegenteil, sie war ein sichtbarer Teil seines Lebens und seiner Literatur.
Gore Vidal gelangte durch die Familie in die Upper Class. Der Großvater war der US-Senator T. P. Gore, sein Vater Fluglehrer an der Militärakademie von West Point, der US-Vizepräsident Al Gore ist sein Cousin. Seine früh geschiedene Mutter heiratete in zweiter Ehe den Stiefvater von Jackie Kennedy-Onassis, was Gore Vidal mitten in die Ostküsten-Aristokratie katapultierte. „Truman Capote hat mit einigem Erfolg versucht, in die Welt hineinzukommen, aus der ich mit einigem Erfolg herauszukommen versuchte“, schreibt Vidal. Um sich von seiner Familie zu distanzieren, legte er seinen Vornamen Eugene ab und nahm statt dessen den Nachnamen seines Großvaters zum Vornamen. Damals war er 14 Jahre alt.
Sein Vermögen hat er auch keineswegs geerbt, sondern selbst erarbeitet – durch Drehbücher und Millionenauflagen seiner Bücher: Krimis, die er unter dem Namen Edgar Box veröffentlichte, Historienschinken wie „Empire“ (1989) oder die – verfilmte – Transsexuellen-Satire „Myra Breckinridge“ (1968). „The Best Man“, sein unterhaltsames Lehrstück über den amerikanischen Politikbetrieb, hat an Wahrhaftigkeit nicht verloren und wird deshalb im US-Wahljahr auch wieder am Broadway gespielt.
Gore Vidal hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in der Oberschicht den Revolutionär zu spielen. Was ihm dabei half, war seine umfassende Bildung und Belesenheit, sein Stil und sein Esprit, die Geradlinigkeit seines Denken und Handelns. Sich anzubiedern hatte Vidal nie nötig. Das Schockieren lag ihm mehr und entsprach seinem Hang zur Selbstinszenierung und dem unverhohlenen Bekenntnis zum Snobismus.
Vidals Autobiografie liest sich wie das Who is Who der Schönen und Reichen, der Kulturschaffenden und Politiker
Vidals Autobiografie „Palimpsest“ liest sich daher wie das Who is Who der Schönen und Reichen, der Kulturschaffenden und Politiker, lauter famous people des anglo-amerikanischen Establishments: Paul Bowles und Tennessee Williams („Er besaß das Talent, schöne Körper auszusuchen, in deren Köpfen sich meistens nichts befand als das unbeschwerte Konfetti des Schwachsinns“), Charlton Heston und Christopher Isherwood, Prinzessin Margaret („viel zu klug für ihren Job“), Jack Kennedy („Es ist immer heikel, wenn ein Freund oder Bekannter Präsident wird“), die Windsors („Ich mochte Wallis. Sie hatte den geistreichen Charme einer Fliegenklatsche“), André Gide und Paul Newman, Eleanor Roosevelt und Leonard Bernstein.
Die Wunde seines Lebens hieß Jimmy Trimble
Vidal liebte die Rolle des liberalen Enfant terrible. Legendär sind seine offen ausgetragenen Fehden mit Schriftstellern und Intellektuellen. Um seine Standpunkte zu verteidigen, zog er im Zweifelsfalle auch vor Gericht – oder trug die Streitigkeiten von Mann zu Mann aus. Mit Norman Mailer prügelte er sich vor laufender Fernsehkamera. Vidal schonte aber auch sich selbst nicht. In seiner Autobiografie offenbarte er die Wunde seines Lebens. Sie hieß Jimmy Trimble, war ein Mitschüler Vidals an der St. Alban’s School for Boys in Washington und seine erste große Liebe. Als sie beide 13 Jahre alt waren, begann ihre leidenschaftliche Beziehung. Sie dauerte bis zu Trimbles Tod.
Trimble kam mit 19 Jahren im März 1945 bei Kämpfen auf Iwo Jima ums Leben. „Von nun an war ich die überlebende Hälfte dessen, was einst ein Ganzes gewesen war, und ich gab es auf, weiterhin danach zu suchen.“ Künftig gab er sich „mit Tausenden kurzen, anonymen Beziehungen zufrieden“, wie Vidal in „Palimpsest“ schreibt. Der Ikone seiner Jugend hatte Vidal bereits mit „The City and the Pillar“ ein literarisches Denkmal gesetzt, entschlüsselt hat er es allerdings erst in seinen Memoiren. In diesem 1948 erschienen Roman (deutscher Titel „Geschlossener Kreis“), der „J. T. gewidmet“ ist, wagt Vidal eine imaginäre – und tragische – Fortentwicklung der Liebesbeziehung. Er fragt: Was wäre passiert, wenn Jimmy Trimble nicht im Krieg gefallen wäre?
Der erste bedeutende Homosexuellenroman Amerikas
„Geschlossener Kreis“ war Vidals dritter Roman. Als er erschien, ging gerade der Kinsey-Report über „das sexuelle Verhalten des Mannes“ durch die Presse und belegte zum ersten Mal anhand statistischer Daten die Verbreitung von Homosexualität. Vidals Roman schien wie eine literarische Ergänzung zu diesem aufsehenerregenden Zahlenmaterial. Denn mit ihm wagte er „den ersten bedeutenden Homosexuellenroman Amerikas“ (Tennesse Williams). Seine Figuren waren keine exzentrischen oder exotischen Gestalten der Halbwelt, sondern all American guys aus jenen fünf Prozent Bevölkerungsanteil, die Kinsey in seiner Umfrage ermittelt hatte. 1948 war ein Coming-out-Roman noch ein wirklicher Skandal und Grund für eine Ächtung durch die Medienöffentlichkeit. Große Zeitungen wie die „New York Times“, „Newsweek“ und „Time“ weigerten sich jahrelang, Vidals Romane und Theaterstücke zu besprechen – als eine Art Strafe für seine ungehörige Offenheit in „Geschlossener Kreis.“
Jimmy Trimbles Tod hatte Vidals Lebenseinstellung völlig verändert. An eine Beziehung, in der Liebe und Sex gleichermaßen möglich sind, glaubte er fortan nicht mehr. Als Vidal Mitte 20 war, lernte er Howard Austen kennen. Die Voraussetzung für diese Bindung fasste Vidal in knappe, deutliche Worte: „Kein Sex!“ Seit 1972 lebten sie weitgehend in ihrer Villa im italienischen Ravello am Golf von Salerno.
Er kritisierte den Rassismus in seinem Land ebenso wie die misslungene Aidspolitik
Vidal mochte zwar weit weg von den USA sein, aber er blieb spitzfindigen, klugen und analytischen Kommentatoren des Politikgeschehen ein gefragter Mann. So böse, so pointenreich und aufrecht demokratisch wie er war eben sonst niemand. Er kritisierte den Rassismus in seinem Land ebenso wie die misslungene Aidspolitik unter Reagan und Bush oder die neoimperialistische Auslandspolitik der US-Regierungen. Treffend bezeichnet ihn die Los Angeles Times als „herrischen Störenfried des nationalen Gewissens!“.
Am Dienstagabend ist Gore Vidal an seinem kalifornischen Alterssitz in Hollywood Hills im Alter von 86 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. Er wird auf dem Rock Creek Cementery in Washington, D. C. neben seinem 2003 verstorbenen Lebensgefährten Howard Austen beigesetzt werden.
Diesen Beitrag teilen