Generationen

Vom Homolulu nach Reinhausen

Von Dirk Ludigs
Rainer Marbach
Rainer Marbach übergibt nach 40 Jahren das Steuerrad der Akademie Waldschlösschen © Wilfried Weber/provat
Er hat die Akademie Waldschlösschen als eine Art schwuler Volkshochschule auf den Weg gebracht und sie zu einer der wichtigsten Einrichtungen der Positiven- und LGBTI-Community gemacht. Jetzt hat Rainer Marbach den Platz am Steuerrad verlassen und ist in den Vorsitz des Stiftungsrats gewechselt. Mit unserem Autor Dirk Ludigs sprach er über die Etappen seines Lebenswerks.

Lieber Rainer, Anfang März hast du offiziell die Leitung der Akademie Waldschlösschen und den Vorstandsvorsitz der gleichnamigen Stiftung an deinen Nachfolger Dr. Christoph Schmitt abgegeben. Als Ideenstifter und Mitbegründer dieser weltweit einzigartigen Institution nach 40 Jahren den Stab weiterzureichen: Wie schwer ist es dir gefallen?

Das war ganz bestimmt nicht einfach. Aber die Entscheidung, mich aus dem operativen Geschäft zurückzuziehen, ist schon im Dezember 2019 gefallen, und selbst da lag der Zeitpunkt meiner Pensionierung schon zehn Jahre zurück. Ich bin jetzt immerhin 77 Jahre alt.

Natürlich gab es im letzten Jahr das Gefühl in der Magengrube: Muss ich nicht an Bord bleiben, bis Corona ausgestanden ist? Aber das Haus ist besser über die Runden gekommen, als wir angenommen haben, auch dank der großen Welle der Solidarität und der Spenden. Von daher kann ich sagen: Ich habe geliefert, und mit diesen Pfunden kann man wuchern.

Wie nah ist das Waldschlösschen von heute noch an eurer Gründungsidee von 1980?

Eine Jugend unter dem von den Nazis verschärften § 175

Dafür möchte ich ein bisschen weiter zurück in die „Vorgeschichte“ greifen, ohne die mein Engagement für ein politisch-soziales Bildungsprojekt nicht denkbar gewesen wäre. Ich habe ja meine gesamte Jugend noch unter dem von den Nazis verschärften Paragraphen 175 verbracht und alle Begleiterscheinungen der Kriminalisierung auf mich nehmen müssen. Ich konnte mir sozusagen „aussuchen“: entweder Viktimisierung – dem bin ich entgangen – oder Pathologisierung. Dem bin ich nicht entgangen.

Was heißt das konkret?

In meiner Studentenzeit war die Frage „Bist du so?“ nicht mehr länger zu unterdrücken. Da es für mich keine Vorbilder gab, nichts, woran ich mich hätte orientieren können, habe ich eine Psychoanalyse gemacht. Der Auftrag war, „das“ wegzukriegen, wenn da „sowas“ ist.

Das Ergebnis war aber ein anderes: Ich erlebte auch mit Hilfe meiner Therapeutin mein Coming-out, und das war in diesen Zeiten von 1968 für mich nicht zu trennen von meiner Politisierung – verbunden mit Sozialität und Emotionalität.

Welche Schlussfolgerungen hast du daraus gezogen?

Ich bin dann seit 1972 in der Schwulenbewegung dabei gewesen – zunächst in der Homosexuellen Aktion Göttingen. Gleichzeitig war ich einer der wenigen, die in der frühen Schwulenbewegung schon im Beruf standen – und das als Lehrer, was ja nicht ganz einfach war.

…für schwule Lehrer gab es ja praktisch ein Berufsverbot!

Ich habe relativ rasch auch auf überregionaler Ebene gearbeitet und bin dann zur NARGS gestoßen, der damaligen „Nationalen Arbeitsgruppe gegen Repression gegen Schwule“, die 1979 „Homolulu“ in Frankfurt organisiert hat. Diese Veranstaltung hat einen enormen Schub gegeben, aus dem heraus viele Projekte entstanden sind. Und auch aufgrund meiner Tätigkeit als Lehrer ist im Anschluss in der NARGS die Idee entstanden, eine alternative Bildungsstätte als „schwules Tagungshaus“ zu gründen – parallel zu Gründungen wie zum Beispiel den Frauenbildungsstätten, die übrigens ausnahmslos lesbische Projekte waren.

All unsere Traditionen waren durch die lange Verfolgung verschüttgegangen

Im Sommer 1980 wurde die Planung in der Gruppe dann am Bolsenasee in Italien diskutiert und konkret umgesetzt mit der Suche nach einem Haus in der Nähe von Göttingen. Dort war ich Studienrat und mein Mann Ulli (Ulli Klaum, Anm. d. Red.) Student. Mit dabei war damals noch Joachim „Joagnes“ Prüß, die aber nach einem halben Jahr aus beruflichen Gründen aussteigen musste und nach Berlin ging.

Schließlich wurde dieses ehemalige, verrottete Hotel im Wald gefunden, das im Grunde viel zu groß für uns war. Denn zu Anfang war es nicht als Bildungseinrichtung mit alternativen Arbeitsplätzen gedacht, sondern als ein rein ehrenamtliches politisch-soziales Projekt. Es ging um überregionale Vernetzung, um Empowerment, einen Treffpunkt für Gruppen und um eine Art schwule Volkshochschule, denn alle unsere Traditionen waren ja durch die lange Verfolgung verschüttgegangen. „Nachsozialisation“ habe ich das damals genannt.

Dass es am Ende doch eine professionelle Bildungseinrichtung geworden ist, hatte viel mit Aids zu tun…

Über unsere Netzwerke erfuhren wir sehr früh von Aids und haben die sich überall gründenden regionalen Aidshilfen zu mehreren Treffen im Waldschlösschen miteinander vernetzt. Diese Art der Arbeit kannten wir ja schon. 1985 entstand dann aus diesen Treffen heraus die Deutsche Aidshilfe, die als Verein schon 1983 in Berlin gegründet worden war, als bundesweiter Dachverband.

In welcher gesellschaftlichen Situation fanden diese Treffen im Waldschlösschen statt?

Es gab viel Hetze, die Rede war von der „Schwulenseuche“, es gab die Forderung nach Kasernierung der Betroffenen auf einer Insel, und in München agitierte Peter Gauweiler von der CSU als Scharfmacher. Darum war uns klar: Wir müssen das in die Hand nehmen und das Thema besetzen. Also fingen wir an, Aufklärung zu betreiben, zogen mit Informationsveranstaltungen und Vorträgen übers Land. Gleichzeitig begann das Waldschlösschen in Kooperation mit der DAH, die Qualifizierung von zunächst ehrenamtlichen und später auch hauptamtlichen Mitarbeiter*innen der Aidshilfen zu organisieren. Und wir haben ganz früh angefangen, die von Aids Betroffenen zu vernetzen.

Wie darf ich mir das vorstellen?

So wie es im Waldschlösschen in den vierzig Jahren immer wieder passiert ist: Zwei schwule Männer fragten: „Wir sind doch nicht allein, wie können wir uns vernetzen?“ So kam es 1986 zur Gründung der Bundesweiten Positiventreffen. Zu Anfang waren das übrigens Geheimtreffen, weil die meisten Teilnehmenden befürchteten, als doppelt Diskriminierte, als Schwule, als Drogenabhängige oder Strafgefangene und HIV-Positive identifiziert zu werden.

Wir mussten Staatsknete annehmen, ja einfordern

Mit den Herausforderungen der sich entfaltenden Aidskrise war unser Ursprungskonzept, das Waldschlösschen nebenher als rein ehrenamtliches Projekt zu betreiben, nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wir mussten uns professionalisieren und auch, was vorher in der autonomen Schwulenbewegung verpönt war, mit dem Staat zusammenarbeiten. Wir mussten „Staatsknete“ annehmen, ja einfordern. Ich sage immer: Das Paradigma der Emanzipation wurde erweitert durch das Paradigma der Partizipation, der Einforderung von Teilhabe.

Das klingt so einfach, man nimmt jetzt die Staatsknete an und ist etabliert. Aber so einfach ist es wohl nicht!

Nein, natürlich gab es viele Hindernisse und Anfeindungen. Aber für die Aids-Arbeit war es ein Glück, dass Rita Süssmuth damals Gesundheitsministerin war. Sie hatte Göttingen als Wahlkreis und deshab von Anfang an auch das Waldschlösschen im Blick. Bis in die Zeit hinein, in der sie Bundestagspräsidentin war, kam es ab und an vor, dass in der Verwaltung das Telefon klingelte, Ministerbüro am Apparat: „Frau Süssmuth hat im Waldschlösschen-Programm gelesen, es gibt die-und-die Veranstaltung, sie würde gerne kommen, ist das okay?“ Und so besuchte sie Weiterbildungsmaßnahmen, aber auch ganz früh schon Bundespositiventreffen. Sie hat später einmal gesagt: Ohne das Waldschlösschen wäre die Aids-Politik der Bundesrepublik Deutschland eine andere gewesen. So etwas habe ich in der Politik danach nie wieder erlebt.

Rita Süssmuth auf Weiterbildung im Waldschlösschen

Parallel dazu gab es natürlich weiter große Reserviertheit und Ablehnung in der Gesellschaft gegenüber Schwulen und Lesben. In Niedersachsen hat es in der Politik bis zum Beginn der ersten rotgrünen Landesregierung 1990 gedauert, bis wir eine staatliche Antidiskriminierungspolitik und auch finanzielle Förderung von „Selbsthilfe“ durchsetzen konnten.

In den Kreis der staatlich anerkannten Bildungseinrichtungen wart ihr damit aber immer noch nicht aufgenommen.

Das hat nochmal zehn Jahre gedauert. Entscheidend für diesen Erfolg war, dass wir uns nie als „schwules Ghetto“ verstanden haben, wir waren stets offen für andere gesellschaftliche Gruppen. Und wir suchten immer aktiv nach Bündnispartnern. Wir wollten uns in den neuen sozialen Bewegungen fest etablieren und mitarbeiten. Mir war klar, dass wir nur in Bündnissen vorankommen können. Auch war ich politisch immer gut vernetzt.

Stichwort Bündnisse. Mir fällt immer wieder auf, wie relativ geräuschlos sich das Waldschlösschen in den letzten Jahren zunächst lesbischen und dann auch trans* und inter* Inhalten geöffnet hat, auch wenn der Prozess sicher noch nicht abgeschlossen ist. Was ist da dein Geheimrezept?

Daran ist nichts geheim, sondern es war immer unser Selbstverständnis, offen zu sein. In den vier Jahrzehnten haben sich die Communities immer wieder verändert, und wir wollten uns stets entsprechend weiterentwickeln, Raum bieten und Bedarfe erkunden. Und natürlich hat auch die zunehmende pädagogische Kompetenz durch unsere Professionalisierung eine Rolle gespielt.

Hat die zunehmende Akademisierung der queeren Themen einen Anteil daran?

Das ist ja im Großen und Ganzen eine Entwicklung dieses Jahrhunderts. Bis zu den Nullerjahren hat sich mit dem Thema ja niemand universitär beschäftigt, weil man damit nicht reüssieren konnte. Aber sicher befruchtet sich das gegenseitig. Das Waldschlösschen ist auch zu einer Art Transmissionsriemen zwischen der Forschung an den Universitäten und den Bewegungen vor Ort geworden.

Das Waldschlösschen als „Durchlauferhitzer“

Das Wichtigste aber bleibt die Offenheit, das unaufdringliche Angebot: Nutzt unsere Ressourcen – pädagogisch, in der Projektentwicklung, finanziell, vernetzungstechnisch. Es gibt mittlerweile sehr viele Menschen, die durch den „Durchlauferhitzer“ Waldschlösschen gelaufen sind, sowohl in Bezug auf ihre Biographie als auch auf ihre Professionalität. Und daraus sind vielfältige Wechselwirkungen entstanden, für die wir immer wieder versucht haben, den adäquaten Raum zu bieten.

Womit wir beim Vermächtnis wären. Man soll ja Nachfolgenden keine Ratschläge erteilen, aber ist dies genau das Wesen des Waldschlösschens, das du so weitergeführt und ausgebaut sehen möchtest?

Das würde ich so sehen, und da bin ich auch guten Mutes, dass Christoph Schmitt das so verfolgen wird. Ich weiß nicht, ob ich das ausplaudern darf, aber er hat sich auch selbst als Waldschlösschenleiter als „Gastgeber“ bezeichnet, und das trifft es doch ganz gut!

Wie geht es jetzt für dich weiter?

Untertauchen in Cannaregio

Ich bin zum 1. März als Vorsitzender in den Stiftungsrat gewechselt und insofern „meinem Kind“ auch weiterhin institutionell verbunden. Nur eines wurmt mich nach 13 Monaten pausenloser Arbeit: Gern wäre ich ab 1. März für sechs Wochen in Cannaregio (einer der venezianischen Sestieri, Anm. d. Red.) untergetaucht!

Ich hoffe sehr, dass du das bald nachholen darfst! Lieber Rainer, vielen Dank, dass du so viele Jahrzehnte lang unser Gastgeber warst, und vielen Dank für das Gespräch!

 

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