LITERATUR

Wider das Schubladendenken

Von Axel Schock
In seinem neuen Roman „In einer Person“ schildert John Irving ein bisexuelles Leben von den prüden fünfziger Jahren über die Aidskrise bis ins queere Zeitalter der Gegenwart. Von Axel Schock

US-Autor John Irving schildert ein queeres Lebenspanorama (Foto: Jane Sobel Klonsky)

Ob Homosexualität vielleicht doch erblich ist? Die augenfällige Häufigkeit queerer Lebenskonzepte im familiären Umfeld von Billy Dean ließe einen durchaus auf diesen Gedanken kommen: Sein Vater nämlich war ein schwuler GI und Billys Zeugung nichts weiter als ein sexueller Betriebsunfall.

Billys Großvater mütterlicherseits wiederum übernimmt in der Laientheatertruppe seiner Gemeinde First Sister nicht ganz uneigennützig ausschließlich Frauenrollen. Auf der Bühne hat er die beste und auch einzige Gelegenheit, ausladende Damenroben zu tragen und dafür garantiert Applaus zu bekommen.

Verstörend ist das für Billy nicht, schließlich trägt auch er selbst gerne mal den BH seiner besten Freundin und zeitweiligen Bettgefährtin Elaine. Seine Unschuld hingegen verliert Billy an die Leiterin der örtlichen Bibliothek, Miss Frost.

„Als ich das erste Mal Miss Frost begegnete und mir vorstellte, Sex mit ihr zu haben, bedeutete dieser Augenblick meines sexuellen Erwachens zugleich die Sturzgeburt meiner Phantasie. Was wir begehren, prägt uns. Ein flüchtiger Moment verstohlenen Begehrens, und ich wollte Schriftsteller werden und Sex mit Miss Frost haben – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“

Schenkelverkehr für Anfänger

Miss Frost führt den Jugendlichen nicht nur in die Welt der Literatur ein, sondern bringt ihm auch die Kunst des „Schenkelverkehrs“ bei (hat man je und dann auch noch so ausführlich in einem Roman über diese Sexpraktik gelesen?).

Faible für BHs und Transsexuelle (Bildausschnitt aus dem Cover der US-Ausgabe)

Dass Miss Frost einmal ein Mann und zudem erfolgreicher Ringer der örtlichen College-Mannschaft war, ist dem Leser übrigens schneller klar als dem mit seiner sexuellen Identität hadernden Ich-Erzähler. Als Bisexueller mit einem besonderen Faible für Transsexuelle bleibt Billy zeitlebens ein Mensch zwischen den Stühlen, der sich erfolgreich dagegen wehrt, in festgelegte Schubladen gesteckt zu werden.

Skurrile Gestalten und mit der größten Selbstverständlichkeit geschilderte groteske Ereignisse sind in John Irvings Romanen nun freilich keine Seltenheit. Genaugenommen erwarten Irving-Fans eben solche bizarren, ausschweifend erzählten Lebensgeschichten liebenswerter Außenseiter. Dass sich die sexuellen Probleme des Teenagers Billy ausgerechnet in der unkorrekten Aussprache des Worts „Penisse“ äußern, ist da nur eine Pointe am Rande. Dass er bei der Logopädin auf seinen verklemmt schwulen Klassenkameraden Tom Atkinson trifft, der sich beim Wort „Vagina“  stets formvollendet übergeben muss, wird sogar zum Running Gag.

Geschwätzige Plaudertausche

Sonderlich und kurios sind einige der Ereignisse in seinem neuen Roman also in der Tat, und was den Umfang von „In einer Person“ angeht, so hat sich Irving mit 723 Seiten nicht gerade kurz gefasst. Aber mal ganz unter uns: Er ist manchmal auch eine recht geschwätzige Plaudertasche.

Irving wurde bei diesem Roman vom Coming-out seines schwulen Sohnes inspiriert (Foto: Elke Wetzig/CC-BY-SA)

In epischer Breite setzt er sich mit Billys Theaterfahrungen auseinander und lässt uns an seiner literarischen Seelenbildung von Charles Dickens über William Shakespeare bis James Baldwin teilhaben. Und so manches Detail erzählt Irving sicherheitshalber gleich doppelt, für den Fall, dass der Leser zuvor unaufmerksam gewesen sein könnte. Vielleicht war auch einfach nur Irvings Lektor zu nachsichtig.

Dann wieder gibt es auch überraschende Zeitsprünge. Flugs landet Billy beispielsweise in den achtziger Jahren und damit mitten in der beginnenden Aids-Krise. Die wichtigsten Menschen, die Billy bis dahin geprägt haben, kreuzen alle noch einmal seine Lebensbahn: Freunde, Liebhaber, Feinde. Viele erkranken, manche sterben, die meisten leiden – am Verlust, an der Angst vor der bedrohlichen Seuche, an ihrem Doppelleben.

Ein Leben in Lüge

Irving schildert diesen Lebensabschnitt erstaunlich kühl, passagenweise ist es ein nüchterner Bericht über Aids-spezifische Krankheiten, die verabreichten Medikamente, eine Aufzählung von Abschieden und Todesfällen. Auch Billys ehemaliger Mitschüler Tom Atkinson hat noch einmal einen berührenden Auftritt, und Irving gelingt damit eine der aufwühlendsten Episoden dieses Romans.

Cover der deutschen Ausgabe

Das Wiedersehen an Toms Sterbebett und die Begegnung mit dessen ebenfalls bereits schwer an Aids erkrankten Ehefrau und deren gemeinsamen Sohn, für den sie bereits nach Ersatz-Eltern Ausschau halten, sind beklemmende Szenen, in denen das ganze Dilemma eines Lebens in Lüge komprimiert ist.

In großen zeitlichen Sprüngen bewegt sich Irving schließlich weiter in Richtung Gegenwart. Billy muss lernen, dass Transsexuelle inzwischen Transgender genannt werden, und er darf erleben, dass sich nun auch bereits Schulkids das Recht herausnehmen, selbst zu entscheiden, ob und in welche sexuelle Schubladen sie gehören möchten.

Moralische und politische Fossilien

Das Szenario einer auch hinsichtlich der Geschlechterzuschreibung offenen Gesellschaft wirkt bei Irving wie eine Szene aus der TV-Serie „Glee“, und wie dieses High-School-Märchen soll auch „In einer Person“ in erster Linie wohl als ein Versprechen auf eine tolerantere Zukunft verstanden werden.

„Ich halte Leute, die sexuelle Identität nicht als ein Bürgerrecht akzeptieren können, für moralische und politische Fossilien“, sagte Irving in einem Interview. „Die sexuell Intoleranten werden aussterben – sie wissen es nur noch nicht.“

 

John Irving: In einer Person.  Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog und Astrid Arz. 725 Seiten, Diogenes Verlag, 24,90 Euro 

Weiterführende Links:
Internetseite von John Irving mit u.a. mit Interviews und Videoclips zum Roman

Interview mit John Irving im Kölner Stadt-Anzeiger u.a. über „ In einer Person“

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