Menschen ohne Papiere

„Wir wollen, dass alle Leute behandelt werden können“

Von Gastbeitrag
Kundgebung Zugang zur Gesundheitsversorgung
Wer eine Krankenkassenkarte besitzt, hat in Deutschland Zugang zur Gesundheitsversorgung. Doch was, wenn jemand keine Krankenversicherung hat – oder sogar keine Aufenthaltspapiere? Am 20. März will ein Aktionsbündnis ein Zeichen für das Menschenrecht auf Gesundheit setzen.

Ist es bloß ein Schnupfen oder etwas Schlimmeres? Lieber gleich zum Arzt oder noch warten? Für Hunderttausende Menschen in Deutschland stellt sich diese Frage gar nicht, denn sie haben keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem.

Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben, erklärt Dr. Johanna Offe, Referentin für Grundsatzfragen beim Verein Ärzte der Welt. Sie koordiniert die Kundgebung „Gesundheit ist ein Menschenrecht!“, die am 20. März 2018 vor dem Brandenburger Tor in Berlin auf die Probleme aufmerksam machen soll.

Keine Papiere = kein Zugang zur Gesundheitsversorgung

Am schwierigsten ist die Situation für Menschen ohne Papiere. „Die haben de facto überhaupt keinen Zugang“, sagt Anja Dieterich vom Zentrum Gesundheit, Rehabilitation und Pflege der Diakonie Deutschland. Die Ärztin leitet die Bundesarbeitsgruppe „Gesundheit/Illegalität“, eine 2006 gegründete Initiative von Sachverständigen aus dem Gesundheitssystem. Das große Problem: Für Menschen ohne Papiere ist die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen mit der berechtigten Angst vor Abschiebung verbunden.

Für Menschen ohne Aufenthaltsstatus, aber auch für Asylsuchende, ist die medizinische Versorgung in Deutschland beschränkt: auf die Behandlung akuter Erkrankungen, Schmerzzustände und die Versorgung von Schwangeren.

„Aus Angst vor Abschiebung suchen viele erst gar nicht medizinische Hilfe“

Vorher aber muss bei der zuständigen Sozialbehörde die Ausgabe eines Krankenscheins beantragt werden. Um die Bedürftigkeit zu prüfen, müssen Papiere vorgelegt werden – beispielsweise Kopien vom Pass, Mietbescheinigungen und Kontoauszüge. Für Menschen ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus ist dies kaum möglich. Außerdem ist das Sozialamt in solchen Fällen verpflichtet, Informationen an die Ausländerbehörde weiterzugeben – was eine Abschiebung nach sich ziehen kann.

„Aus diesem Grund suchen viele Menschen ohne Papiere gar nicht erst medizinische Hilfe“, sagt Tanja Gangarova, Referentin für Migration bei der Deutschen AIDS-Hilfe. „Die Folge sind vermeidbare, potenziell tödliche Erkrankungen. Zudem begünstigt der Ausschluss von der Regelversorgung die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie HIV. Davon abgesehen wird hier das Menschenrecht auf Gesundheit verletzt.“

Massive Unterversorgung von Menschen ohne Papiere

„Man muss davon ausgehen, dass Papierlose unterversorgt bis massiv unterversorgt sind“, erklärt Anja Dieterich und fordert: „Die Übermittlungspflicht muss abgeschafft werden, sodass jeder Mensch gefahrlos Hilfe in Anspruch nehmen kann.“

Nur in medizinischen Notfällen könne ohne Krankenschein behandelt werden, so Dieterich weiter. Dann gelte ein „verlängerter Geheimnisschutz“. Damit dürften keine Informationen an die Ausländerbehörde oder Polizei weitergegeben werden. Diese Vorschrift sei aber nicht ausreichend bekannt, weshalb Informationen doch immer wieder weitergegeben würden. Und was als Eilfall definiert werde, sei zudem je nach Kommune und Bundesland unterschiedlich.

Hilfe in der Not bieten humanitäre Vermittlungsstellen, Sprechstunden und Ambulanzen – zum Beispiel Medi-Busse, das sind Behandlungszimmer auf Rädern. Diese Parallelstrukturen zum regulären Gesundheitssystem werden meist durch ehrenamtliche Arbeit und Spenden getragen oder sind durch Vereine und Kommunen organisiert. Vor allem lokal organisierte Medibüros und Medinetze sowie die Malteser bieten solche Hilfen in verschiedenen Städten an.

„Alles beruht auf informellen Netzwerken, Spenden und Ehrenamt“

Auch Ärzte der Welt und die Diakonie betreiben Anlaufstellen. Teilweise leisten die Helfer_innen vor Ort medizinische Hilfe, teilweise vermitteln sie Patient_innen an engagierte Ärzt_innen und Krankenhäuser, die unentgeltlich behandeln. „Alles beruht auf informellen Netzwerken, Spenden und Ehrenamt“, sagt Anja Dieterich.

Sie unterstreicht, dass Menschen ohne Papiere in besonders prekären Situationen lebten. Auch wenn sie punktuell ärztliche Hilfe fänden, sei eine langfristige Behandlung wegen der Lebenssituation, ungeschützter Arbeitsverhältnisse und häufiger Wohnortwechsel oft nicht möglich.

Johanna Offe betont, dass diese informellen Netzwerke keine Lösung seien. „Wir drängen darauf, dass die Lücken geschlossen werden und eine ausreichende medizinische Versorgung im Regelsystem garantiert wird.“ Leider spielten auch im Gesundheitsbereich migrationspolitische und sicherheitspolitische Erwägungen eine Rolle, sagt sie. Dahinter stecke die Angst, dass mehr Menschen nach Deutschland kämen, wenn die Versorgung besser wäre. „Die Erfahrungen anderer europäischer Länder belegen diese Befürchtung nicht. Und aus Menschenrechtsperspektive ist es fatal, so zu argumentieren.“

Bundespolitische Lösungen müssen her

Auch Anja Dieterich erläutert, dass es weder medizinisch noch volkswirtschaftlich Sinn ergebe, Menschen den Zugang zu ausreichender ärztlicher Versorgung zu verwehren. „Das führt zu einer unnötigen Verschlechterung und Chronifizierung von Erkrankungen. Das ist ethisch nicht vertretbar und auch für das Gesundheitssystem nicht sinnvoll.“

In einigen Regionen gibt es sogenannte Clearingstellen, die zum Beispiel Fragen der Legalisierung und Finanzierung von Gesundheitsleistungen klären sollen. Wenn möglich, helfen sie bei der Vermittlung in das reguläre Gesundheitssystem.

„Behandlungen verzögern sich oder werden gar nicht durchgeführt“

Einige Kommunen experimentieren außerdem mit dem Modell des anonymen Krankenscheins. Statt des Sozialamts können Menschen ohne Papiere dort eine Vergabestelle aufsuchen, die vertraulich arbeitet und den anonymen Krankenschein ausstellt, mit dem sie dann in eine reguläre Arztpraxis gehen können. Anja Dieterich lobt solche Initiativen, fordert aber trotzdem eine grundsätzliche Lösung. „Das sind Kompensationsversuche für das, was bundespolitisch nicht funktioniert.“

Neben Menschen ohne Papiere sind Asylsuchende eine weitere Gruppe, die keinen vollständigen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. Ihnen wird in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland nur ein eingeschränkter Leistungsanspruch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gewährt. „Das führt zum Teil dazu, dass medizinische Behandlungen sich verzögern oder gar nicht durchgeführt werden“, erklärt Johanna Offe. Chronische Krankheiten beispielsweise gehörten nicht zum Leistungskatalog.

Die Behandlung einer HIV-Infektion allerdings sei auch bei Menschen ohne Krankenversicherung möglich, erklärt Anja Dieterich. Diese falle nämlich unter das Infektionsschutzgesetz – was den zuständigen Stellen aber oft nicht bekannt sei. „Es hängt alles von dem jeweiligen Sozialamt ab“, sagt sie. „HIV wird oft als chronische Krankheit gewertet.“ Mit dieser Begründung werde die Behandlung in manchen Fällen schließlich verwehrt.

EU-Bürger_innen sind ebenfalls betroffen

Auch für Menschen aus Europa ist der Zugang zu medizinischer Versorgung in Deutschland nicht selbstverständlich. „Zunehmend sind es EU-Bürger_innen, die in unsere Anlaufstellen kommen“, erzählt Johanna Offe. Zum einen ist der europäische Krankenversicherungsschutz nicht ausreichend anerkannt. Zum anderen ist es möglich, dass erwerbslose EU-Bürger_innen, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten, von Sozialleistungen und damit auch von medizinischer Versorgung ausgeschlossen werden, erklärt sie.

„Es gibt auch viele Deutsche ohne Krankenversicherung“

„Es gibt aber auch viele Deutsche ohne Krankenversicherung“, sagt Johanna Offe. Egal ob gesetzlich oder privat versichert: Wer Beitragsschulden hat, dem werden nur begrenzte Leistungen gewährt. Auch wenn Selbstständige sich die Krankenversicherung sparen, geraten sie schnell in eine medizinische Notlage. Eine Forderung des Aktionsbündnisses „Gesundheit – ein Menschenrecht“, das die Kundgebung am 20. März in Berlin organisiert, ist deshalb auch die Senkung des Mindestbeitragssatzes für Selbstständige.

Kundgebung vor dem Brandenburger Tor

Das 2016 auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ gegründete Bündnis setzt sich im Großen und Ganzen dafür ein, dass alle Menschen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung haben – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. „Wir beziehen uns auf das Menschenrecht auf Gesundheit. Die Regierung muss sicherstellen, dass dieses für alle Menschen, die in Deutschland leben, gesichert ist“, sagt Johanna Offe.

22 Organisationen sind an der Kundgebung beteiligt – darunter auch die Deutsche AIDS-Hilfe. Außerdem werden Medi-Busse aus ganz Deutschland zum Brandenburger Tor rollen. Dort können sich Passant_innen über die mobilen Behandlungszimmer informieren.

Als Sprecher_innen erwartet werden unter anderem Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, und Lillian Petry Kababiito, Koordinatorin von AGHNiD, dem Afrikanischen Gesundheits- und HIV-Netzwerk in Deutschland, sowie Vertreter_innen von Ärzte der Welt, des Caritasverbands, des Medibüros Berlin und des Vereins Armut und Gesundheit.

Die unsichtbare Barriere, die viele Menschen von einer ausreichenden medizinischen Versorgung trennt, soll mit einer Aktion greifbar gemacht werden. „Wir wollen 75 Umzugskartons zu einer Mauer stapeln“, erklärt Johanna Offe. Diese stehen für einzelne Hürden beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Sprechblasen erzählen von tatsächlichen Schicksalen. Anschließend soll die Mauer symbolisch eingerissen werden.

In der Realität sind Veränderungen allerdings schwieriger. Die Aktion richtet sich an den Gesetzgeber, aber auch an das gesamte Gesundheitssystem. „Wir wollen, dass die Leute behandelt werden können“, sagt Johanna Offe.

Von Inga Dreyer

Die Kundgebung „Gesundheit – ein Menschenrecht“ findet am 20. März 2018 um 18:30 Uhr vor dem Brandenburger Tor (Westseite) statt.

Weitere Infos:

www.gesundheit-ein-menschenrecht.de

Facebook-Veranstaltung

Forderungen der Bundesinitiative „HIV und Migration“ (PDF)

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