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Zehn Tage Filmrausch

Von Axel Schock
bunte Filmrollen
Die internationale Filmwelt schaut in den nächsten beiden Wochen wieder gebannt auf Berlin. Eine Vorschau auf das Programm der 67. Internationalen Filmfestspiele

Selbst eingefleischte Cineast_innen verlieren da schnell mal den Überblick: Rund 400 Filme werden bei den diesjährigen Berliner Filmfestspielen vom 9. bis 19. Februar präsentiert, verteilt auf mittlerweile elf Sektionen – vom offiziellen Wettbewerb bis hin zu Sonderreihen wie Kulinarisches Kino.

Zu entdecken sind dabei auch erwartungsgemäß eine ganze Menge Filme rund um queere Geschichte und Geschichten, aber auch zum Leben von Drogenabhängigen.

So zeigt die Kanadierin Ashley McKenzie in ihrem lakonisch erzählten Spielfilm „Werewolfe“ (Forum) den Alltag des Liebespaares Nessa und Blaise. Jeden Morgen stehen die beiden in der Schlange vor der Apotheke, um sich ihre Dosis Methadon abzuholen, lassen die Gespräche mit den Sozialarbeiter_innen über sich ergehen und versuchen über die Runden zu kommen. Ein schrottreifer Rasenmäher ist ihre einzige Einnahmequelle. Mit ihm ziehen sie durch die Straßen und bieten ihre Dienste bei der Pflege der Vorgärten an.

Filmstill aus Werewolf
Filmstill aus Werewolf (Foto: Steve Wadden)

„Werewolfe“ nimmt mit seinen nüchternen Bildern fast dokumentarischen Charakter an. Anders als ihrem Lebensgefährten gelingt es Nessa schließlich, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie meistert einen Job in einer Waffelbude und bekommt ihre Methadon-Ration für die ganze Woche mit nach Hause. Zu zweit aber, das muss sie schmerzhaft erfahren, wird sie es nicht weiter schaffen.

Auch „Die beste aller Welten“ (Perspektive Deutsches Kino) handelt von der Schwierigkeit, trotz Sucht ein Leben in Würde zu führen. Das Besondere aber: Adrian Wachter erzählt seinen Debütfilm aus der Perspektive eines siebenjährigen Jungen. Es ist seine eigene Geschichte.

Filmstill „Die beste aller Welten“
Filmstill aus „Die beste aller Welten“ (Foto: Ritlz Film)

Die alleinerziehende Mutter ist heroinabhängig, versucht dies und die damit verbundenen Umstände aber vor ihrem Sohn zu verbergen. Junkies und Dealer sind ständige Gäste in der kleinen Wohnung, Euphorie und Depression wechseln bei der Mutter, die sich liebevoll um ihren Sohn kümmert und doch ihre Grenzen und Überforderung erkennen muss. Das ist durchaus komisch, berührend und bewegend gleichermaßen.

Erinnerungen an eine schmerzvolle Kindheit

Und auch die Spanierin Carla Simon „Estiu 1993/Summer 1993“ (Generation) verarbeitet ihre eigenen Kindheitserlebnisse zu einem Spielfilm. Nicht genug, dass die sechsjährige Frida den Tod ihrer Mutter verkraften muss, die Waise muss nun auch noch von Barcelona zu ihrem Onkel aufs Land ziehen. Alles ist neu und befremdlich hier.

Das Getuschel der Nachbarn und die bemühte Fürsorglichkeit der Familie machen das Einleben nur noch schwerer. Warum man sie schon wieder für einen Bluttest ins Krankenhaus bringt? Sie versteht es nicht. Und mit ihr begreifen auch die Zuschauer_innen erst nach und nach die Umstände des Todes von Fridas Mutter, die in jenem Sommer 1993 an den Folgen von Aids verstarb.

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Filmstill aus „Estiu 1993“ (Foto: Inicia Films | Lucia Faraig)

Traditionsgemäß ist das Berlinale-Programm reich bestückt an Spiel- wie Dokumentarfilmen zu queeren Themen, da machen die Filmfestspiele auch dieses Jahr keine Ausnahme. Gleich ein halbes Dutzend Mal wird von ersten schwulen Lieben erzählt, jedoch unter höchst unterschiedlichen Vorzeichen und von ganz verschiedenen Lebenszusammenhängen ausgehend.

Lauter erste schwule Lieben

Da wäre zum Beispiel Francis Lee „God’s Own Country“ (Panorama). Seit der Vater einen Schlaganfall erlitten hat, liegt die Verantwortung für die heruntergekommene kleine Farm in der kargen Einöde von Yorkshire allein bei Johnny. Dem rumänischen Gastarbeiter Gheorghe, der als Aushilfe eingestellt wird, begegnet er mit Misstrauen und offener Ablehnung. Doch nach und nach bricht bei dem frustrierten wie emotional verhärteten Johnny das Eis. Schwierige schwule Liebesgeschichten auf Bauernhöfen und unter Farmern hatten wir in den letzten Jahren schon einige – man denke an „Brokeback Mountain“ oder „Oben ist es still“.

„God’s Own Country“ aber entwickelt mit authentischen Bildern vom beschwerlichen Alltag in dieser kargen, betörenden Landschaft, eine ganz eigene Intensität. Ein wortkarges, aber sinnliches wie intensives Festival-Highlight.

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Filmstill „God’s own Country“ (Foto: Dales Productions Limited – The British Film Institute)

Im Vergleich dazu wirkt „Bing Lang Xue“ (The Taste of Betel Nut; Panorama) geradezu schamvoll, und dabei geht’s hier um eine überraschend unverkrampfte bisexuelle Dreiecksgeschichte – angesiedelt im Surferparadies der chinesischen Insel Hainan zwischen Delphinshow, Strandpartys und Karaoke-Mobil.

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Filmstill aus Bing Lang Xue

Ein anderer Strand, eine andere Liebesgeschichte: In „Call Me by Your Name“ (Ruf mich bei deinem Namen; Panorama), basierend auf dem gleichnamigen Roman von André Aciman, trifft der Teenager Oliver an der italienischen Riviera auf seine erste große Liebe, einen amerikanischen Harvard-Absolventen.

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Filmstill aus „Call me by your name“ (Foto: Sony Pictures Classics)

In dem in lakonischen Schwarz-Weiß-Bildern erzählten Coming-of-Age-Drama „Weirdos“ (Generation) wiederum küsst der 15-jährige Kit an der kanadischen Ostküste seinen ersten Mann im Schein des Lagerfeuers einer Strandparty. Das turbulente Wochenende im Sommer 1976 wird damit zu einem Wendepunkt im Leben des eigensinnigen, aber selbstbewussten Jugendlichen.

So richtig schräge Vögel gibt’s in dem US-Streifen Freak Show“ und dem australischen „EMO the Musical“ (beide in der Sektion Generation 14plus). Der schwermütige Emo-Boy Ethan hat sich an der Highschool mit seiner Außenseiterrolle abgefunden, nur die Schulrockband nimmt ihn wegen eines anstehenden Wettbewerbs wirklich ernst.

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Filmstill aus „EMO the Musical“ (Foto: Ellery Ryan © Matthewswood Pty Ltd)

Und während er von der penetrant frohsinnigen Trinity, Kopf einer evangelikalen christlichen Jugendgruppe, angebaggert wird, muss sich deren schwules Mitglied eingestehen, dass die Homoheilungstherapie nicht wirklich viel bringt. Obwohl vollgepackt mit ernsten Themen rund ums Erwachsenwerden und Sexualität macht dieses Musical ungemein Spaß.

Auch Trudie Stylers „Freak Show“ spielt in einer Highschool, und hier ist der Höhepunkt der jährliche Wettbewerb um die Homecoming-Queen. Warum aber sollten da immer nur Mädchen eine Chance haben?, fragt sich Billy und stellt sich selbst zur Wahl auf. Mit seinem exzentrischen Outfit bringt er Spießer und Bibeltreue in Rage. In einer Nebenrolle ist übrigens Bette Midler mit dabei.

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Filmstill aus „Freak Show“ (Foto: Maven Pictures)

Auch in dem semidokumentarischen Film „Casa Roshell“ (Forum) der Chilenin Camila José Donoso verschwimmen die Grenzen zwischen den Geschlechtern und sexuellen Identitäten. An dem titelgebenden Veranstaltungsort in Mexico-Stadt bekommen Männer die Gelegenheit, ihre femininen Seiten auszuleben.

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Filmstill aus „Casa Roshell“ (Foto: Casa Roshell)

In eine völlig andere, archaische Welt führt hingegen John Trengove mit seinem fast dokumentarisch anmutenden Spielfilm „The Wound“ (Panorama). In einer entlegenen Bergregion Südafrikas begeht das Volk der Xhosas alljährlich ein mehrtägiges Beschneidungsritual.

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Filmstill „The Wound“ (Foto: Uncu Media)

Xolandi, der in Johannesburg als Lagerarbeiter lebt, wird von seinem Vater genötigt, sich dieser Initiation zu unterziehen, damit aus ihm ein „richtiger Mann“ wird. Xolandi ist nicht der einzige Teilnehmer, der Männer liebt; doch wie er und die anderen mit diesen Gefühlen und dem sozialen Druck jeweils umgehen, könnte unterschiedlicher kaum sein.

Verstörend ist Travis Mathews’ Mystery-Thriller „Discreet“ (Panorama). Bekannt wurde der US-Regisseur durch seine explizite Episodenfilmreihe „In Their Room“, in der er in schwule Schlafzimmer blickt. Zwar findet auch in diesem neuen Spielfilm immer wieder Sex statt – mal arrangiert die Hauptfigur Alex merkwürdige schwule Gruppensessions, dann treibt man es in den engen Kabinen von Hetero-Pornokinos. Doch es wird auch eine Leiche verpackt und in einen Fluss geworfen, und es gibt kryptische Gespräche mit der suchtkranken Mutter. Um das thrillerhafte Missbrauchsdrama zu entschlüsseln, das sich hinter diesen elliptisch montierten Szenen verbirgt, müssen die Zuschauer_innen Geduld und Aufmerksamkeit aufbringen.

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Filmstill aus „Discreet“ (Foto: Drew Xanthopoulos)

Auch Chris Miera springt in seinem Spielfilm „Ein Weg“ (Perspektive Deutsches Kino) innerhalb der Zeitebenen hin und her. Doch hier fügen sich die einzelnen Episoden beinahe von selbst zu einer fast idyllisch-perfekten Beziehung zweier Männer in einer thüringischen Kleinstadt: vom ersten Kennenlernen bei einem Rockkonzert, über die gemeinsame Vaterschaft bis zur Trennung nach 15 Jahren gemeinsamen Weges.

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Fimstill aus „Ein Weg“ (Foto: Chris Miera)

Schwules Traumschiff und schwules West-Berlin

Hervorzuheben sind auch drei Dokumentationen. Andrea Weiss begibt sich in „Bones of Contention“ (Panorama) auf die Spuren des Schriftstellers Federico Garcia Lorca, der wie über 100.000 weitere Menschen während des Spanischen Bürgerkrieges in einem anonymen Massengrab verscharrt wurde. Am Beispiel des berühmtesten Opfers des Franco-Regimes zeigt die Regisseurin, wie schwer es sich Spanien mit der Aufarbeitung dieser Verbrechen macht, und skizziert zugleich die wichtigsten Etappen der LGBTI-Geschichte des Landes.

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Filmstill aus „Bones of Contention“ (Foto: Berlinale)

Jochen Hick wiederum widmet nach „Out in Ost-Berlin“ seinen neuen Film nun dem queeren Leben im Westteil der Stadt. In „Mein wunderbares West-Berlin“ (Panorama) verbindet der Dokumentarfilmer Zeitzeugeninterviews mit Archivmaterial zu einer Zeitreise von den studentenbewegten 1960er-Jahren und den Anfängen der Nachkriegs-Schwulenbewegung bis in die 1980er-Jahre und zu den neuen Herausforderungen durch die Aidskrise.

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Filmstill aus „Mein wunderbares Westberlin“ (Foto: Peter Hedenström)

Und zu guter Letzt geht’s aufs Schiff. In Tristan Ferland Milewskis „Dream Boat“ (Panorama) heißt es: Allein ohne Homos. 3000 Schwule cruisen für eine Woche auf einem Kreuzfahrtschiff durchs Mittelmeer. In seinem Kinofilmdebüt blickt Regisseur Milewski hinter die Kulissen dieser zunächst oberflächlich erscheinenden Party-Welt und unterhält sich mit den Männern über schwules Begehren, Beziehungs- und Lebensmodelle.

So reflektiert der HIV-positive Martin zum Beispiel über den Hang der Schwulen zum Hedonismus. Dipankar aus Indien und der Palästinenser Ramzi finden auf dem Schiff den Freiraum, den es in den homophoben Gesellschaften ihrer Heimatländer nicht gibt, und der Pole Marek will als Mensch akzeptiert und geliebt werden, und nicht wegen seines gestählten Körpers.

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Filmstill aus „Dreamboat“ (Foto: Gebrüder Beetz Filmproduktion)

Ob „Dream Boat“ womöglich als beste Dokumentation mit dem TEDDY Award ausgezeichnet wird? Rund drei Dutzend Berlinale-Beiträge haben Chancen, mit dem begehrten queeren Filmpreis prämiert zu werden. Eine Preisträgerin steht bereits jetzt schon fest: Der Special TEDDY Award für besondere Verdienste um das queere Filmschaffen geht in diesem Jahr an die deutsche Regisseurin, Produzentin und Autorin Monika Treut („Gendernauts“, „My Father is Coming“), eine der wichtigsten Wegbereiter_innen des New Queer Cinema.

Die Gala zum 31. TEDDY AWARD findet am 17. Februar im Haus der Berliner Festspiele (Schaperstraße 24) statt. Weitere Informationen rund um die Preisverleihung gibt’s unter www.teddyaward.tv , zu den Filmfestspielen auf der offiziellen Webseite www.berlinale.de.

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