Im Rahmen eines Austauschprogramms für Nichtregierungsorganisationen zwischen China und der EU lernt unser Mitarbeiter Werner Bock vier Wochen lang die Arbeit einer chinesischen HIV-Organisation in Hefei kennen. Seine Erlebnisse schildert er in Bock bloggt.

Hefei, Luan Road Nr. 86. Hier befindet sich mein neuer „Arbeitsplatz“, denn hier sind die Räume des „Anhui Hefei Qingwei Health Center“. Um genau zu sein: Es sind zwei. Der erste Raum ist Empfang, Büro und Gruppenraum zugleich, im zweite Raum finden Beratung und Test statt – und er dient als Lager.

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Pan und Tommy, meine chinesischen Kollegen

Die Ausstattung ist einfach und zusammengewürfelt, ein paar Poster hängen an der Wand, von der an vielen Stellen die Farbe abblättert. Ein Telefon, zwei Computer. Und zwei Mitarbeiter: Pan und Tommy, meine chinesischen Kollegen. Die Aufgaben sind gewaltig, und ich bin beeindruckt, was die beiden hier auf die Beine stellen.

HIV in China

In der Provinz Anhui, deren Hauptstadt Hefei ist, leben 70 Millionen Menschen. Laut Statistik gibt es in der gesamten Provinz 20.000 HIV-Positive, 2.000 davon leben in Hefei.

70 % der HIV-Übertragungen finden über heterosexuellen Sex statt

„In den Städten machen Männer, die Sex mit Männern haben, die größte Gruppe von HIV-Positiven aus“, sagt Pan. „In Hefei sind das 80 %.“ Auf ganz China bezogen zeigt sich aber ein anderes Bild: 70 % der HIV-Übertragungen finden über heterosexuellen Sex statt. HIV betrifft hier die heterosexuelle Bevölkerung also weitaus mehr als in Deutschland.

Für ganz China nennt die Statistik für 2017 die offizielle Zahl von 760.000 HIV-Positiven. Man schätzt aber, dass viele HIV-Infektionen noch unentdeckt sind und die tatsächliche Zahl eher bei über 1,1 Millionen liegt. 134.500 neue HIV-Infektionen wurden 2017 diagnostiziert, 12 % mehr als im Jahr zuvor. 31.000 Menschen sind 2017 in China an den Folgen von Aids gestorben. Viel zu viele in Zeiten, in denen man eine HIV-Infektion gut behandeln kann.

Test and treat

HIV-Medikamente sind kostenlos

Es besteht also großer Bedarf an Aufklärungs- und Testangeboten. Die sind aber äußerst rar, egal ob für Schwule oder Heteros. „Qingwei“ ist die einzige Organisation in Hefei und der ganzen Provinz Anhui, die speziell für Männer, die Sex mit Männern haben, Beratung und Unterstützung anbietet. Die Mittel für HIV-Aufklärung und Prävention sind sehr begrenzt, dafür setzen die Behörden auf die Strategie „test and treat“ – also testen und behandeln. Unter medikamentöser Therapie ist HIV nicht mehr übertragbar, man will so verhindern, dass sich HIV rapide ausbreitet. HIV-Medikamente sind kostenlos. Das hat mich erstaunt und zeigt, dass Regierung und Behörden auf steigende HIV-Zahlen reagieren. Auch im „Qingwei“ muss man für den HIV-Test nichts bezahlen.

Unglaubliche 2.000 HIV-Tests werden pro Jahr von der kleinen Organisation vor Ort durchgeführt. Sieben Prozent der Tests fallen HIV-positiv aus! Den HIV-Test für zu Hause, der bald auch in Deutschland erhältlich sein wird, gibt es in China übrigens schon lange. 800 HIV-Selbsttests hat „Qingwei“ im letzten Jahr verschickt.

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Werner Bock erzählt freiwilligen Helfern von seiner Arbeit in Deutschland

„Wenn ich es nicht mache, macht es vielleicht keiner“

Mit 40 Stunden Wochenarbeitszeit ist das alles nicht leistbar. Pan ist eigentlich immer im Dienst. Ständig hängt er am Smartphone und beantwortet Beratungsanfragen, egal ob er gerade im Büro ist, oder ob wir zum Abendessen im Restaurant sitzen. „Auch nachts haben mich schon Leute angerufen, weil sie verzweifelt waren“, sagt Pan. Er lebt sehr für seinen Job – und das schon seit 13 Jahren. Umso mehr überrascht es mich, als er mir erzählt, dass er auch schon ein paarmal daran gedacht hat, aufzuhören: „Ich habe ja eigentlich Informatik studiert, und in der IT-Branche könnte ich viel mehr Geld verdienen, aber hier werde ich gebraucht. Mit vielen bei „Qingwei“ bin ich freundschaftlich verbunden und manchmal denke ich, wenn ich es nicht mache, macht es vielleicht keiner.“ Ich bewundere Pan für das, was er macht, und gleichzeitig mache ich mir wegen seiner nicht vorhanden Work-Life-Balance auch ein wenig Sorgen.

Raus aufs Land

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Die Gelben Berge des Huangshan Gebirges

Deswegen gehe ich mit gutem Beispiel voran – und mache Urlaub! Nachdem ich mich seit Wochen in überfüllten Millionenstädten aufhalte, sehne ich mich nach Natur und Ruhe. „Du musst dir unbedingt Huang Shan, das Gelbe Gebirge anschauen“, sagt mir einer der Volunteers, und auch mein China-Reiseführer preist die Schönheit der Berge, während Hefei darin mit keiner Zeile Erwähnung findet. Also mache ich mich auf, die Fahrt nach Tonkou – Ausgangsort für die Bergtour – dauert nur vier Stunden.

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Am nächsten Morgen mache ich mich zeitig auf den Weg, um die Berge zu erklimmen, und schon der Andrang an der Seilbahn im Tal hätte mich stutzig machen müssen. Oben angekommen, ist der Ausblick wirklich spektakulär und atemberaubend. Zeit, die Natur in Ruhe zu genießen, gibt es allerdings nicht. Auf 1.600 Metern Höhe geht es zu wie an einem verkaufsoffenen Sonntag kurz vor Weihnachten in einer deutschen Fußgängerzone. Menschenmassen, wohin man schaut!

Allerdings ist in China alles wohl organisiert. Es sind viele geführte Gruppen  unterwegs, bei denen über laute Mikros die Schönheiten der Berge erklärt werden. Einheitliche Kopfbedeckung stärkt das Gruppengefühl – zudem findet man sich viel leichter, wenn der Nebel aufzieht. Der kam dann übrigens wirklich, sodass man kaum mehr drei Meter sehen konnte. Dahin war sie, die spektakuläre Aussicht. Das hat die Chines_innen aber nicht davon abgehalten, weiterhin fleißig Fotos zu machen: Selfie im Nebel, zehn Meter weiter dann nochmal Selfie im Nebel, und nach weiteren zehn Metern nochmal. So ganz verstehe ich dieses Land noch nicht.

Atemlos durch die Nacht

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Werner Bock und Sue, die Betreiberin der schwulen Kneipe

Von meinem Landausflug komme ich mit heftigem Muskelkater und viel neuer Motivation zurück. Die brauche ich auch, denn Pan verpasst mir Wochenend-Dienst. Am Samstag nehme ich an einem Training für neue Volunteers teil und erzähle dort auch über HIV und schwules Leben in Deutschland. Sonntag geht´s zum Kondomeverteilen in den Park, in die einzige schwule Kneipe der Stadt und in eine schwule Sauna. Atemlos durch die Nacht. Szenetechnisch kenne ich mich dafür nun bestens aus.

Pan will übrigens auch mal in die Berge fahren. Irgendwann, wenn er mal Zeit hat.

Zaijian aus China!

Bisher erschienen:

Bock bloggt 1 | Die Ankunft

Bock bloggt 2 | (Not) that different

Bock bloggt 3 | Schwulsein in China – nicht illegal, aber „abnormal“

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Werner Bock

Werner Bock ist Mitarbeiter der Deutschen AIDS-Hilfe. Seit vielen Jahren ist er im Bereich Beratung tätig.

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