„Drogenpolitik“ mit der Kalaschnikow
(Original: „Like ʻJust Say No,ʼ but with more Kalashnikovs“ von Lily Hyde, erschienen am 03.03.2015 auf foreignpolicy.com; Übersetzung: Holger Sweers. Herzlichen Dank an die Autorin und den Verlag für die Erlaubnis zur Veröffentlichung!)
Luhansk [russisch: Lugansk], Ukraine. Meilenlange, erst kürzlich ausgehobene Schützengräben verunstalten die vereiste Landschaft im Donbass in der östlichen Ukraine – Folge des andauernden Krieges zwischen Separatisten und Truppen der ukrainischen Regierung. Felder sind verwüstet, an strategisch wichtigen Fernstraßen stehen haushohe Bunker inmitten von Panzerspuren und Granatenkratern. Wer durch die halb zerstörten Städte fährt, sieht manchmal bunt zusammengewürfelte Trupps von Arbeitern, die unter bewaffneter Aufsicht Gräben ausheben und Sandsäcke füllen.
„Am schlimmsten waren die ständigen Demütigungen“
Im Juli letzten Jahres gehörte auch der 33-jährige Ruslan aus Horlivka zu einem solchen Trupp. Nachdem die Milizionäre die Kontrolle über die Stadt übernommen und ihn vor seinem Haus festgenommen hatten, musste er für 21 Tage an die Front. „Ich hab Löcher gegraben wie ein Hund und wie ein Hund in diesen Löchern vegetiert“, erzählt er. „Die Kämpfer haben mit mir gemacht, was sie wollten. Ich kann gar nicht erzählen, wie schrecklich das war. Sie haben mich verprügelt und mehrmals täglich auf mich geschossen. Aber das war nicht das Schlimmste. Am schlimmsten waren auch nicht die körperlichen Misshandlungen, sondern die ständigen Demütigungen – Junkie hier, Junkie da.“
Ruslan konsumiert Drogen. Als er sich seine erste Dosis selbst produziertes Opium spritzte, war er gerade mal zwölf. Trotz mehrfacher Entzugsversuche ist er nicht von den Drogen losgekommen. Heute hat er zwar fast keine Zähne mehr – Folge der beliebten Straßendroge „Krokodil“ –, aber er lächelt unentwegt. In den letzten Jahren ging es sogar wieder aufwärts mit ihm. 2010 fing er mit einem Programm zur Schadensminderung (Harm Reduction) an, zu dem auch eine Substitutionsbehandlung gehörte: Unter engmaschiger ärztlicher Kontrolle nahm er den Ersatzstoff Methadon. Doch jetzt hat sich das Blatt für Ruslan und viele andere Drogensüchtige in den abtrünnigen Gebieten im Osten der Ukraine wieder zum Schlechteren gewendet – und die Aussichten sind düster.
Brutaler „Krieg“ gegen Drogen(süchtige)
Die Anführer der „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk, unter deren Kontrolle diese Gebiete jetzt stehen, haben einen brutalen Krieg gegen Drogen und Alkohol gestartet – einen Krieg, der mit willkürlichen Verhaftungen, Zwangsarbeit und angeblich auch mit Hinrichtungen geführt wird.
„Die schlechte Behandlung von Drogengebrauchern gehört zu ihrer erklärten Strategie“, sagt Ruslan. Dass er zum Ausheben von Gräben gezwungen wurde, ist typisch für Drogenkonsumenten in den Gebieten um Donezk und Lugansk. Ein Freund von ihm sei sogar von Separatisten der „Volksrepublik Donezk“ erschossen worden, weil er Geld für die Beschaffung von Drogen gestohlen haben soll, beteuert Ruslan – auch solche Geschichten hört man häufig. Diese neue „Politik“ hat viele Drogengebraucher, die bisher vom Staat zum Beispiel durch die Vergabe steriler Spritzen oder die Substitutionsbehandlung unterstützt wurden, wieder in den Untergrund gedrängt – und droht die mühsam errungenen Erfolge in der Suchthilfe und HIV-Prävention in einer der am stärksten von Drogen betroffenen Region der Ukraine zunichtezumachen.
Der erste „Krieg gegen Drogen“ in der Ukraine begann Anfang der 1990er Jahre. Zuvor hatten sich illegale Substanzen wie zum Beispiel selbst produziertes Opium in den von Armut und Arbeitslosigkeit hart getroffenen östlichen und südlichen Landesteilen ausgebreitet und eine Spur der sozialen Verwüstung hinterlassen. Drakonische Drogengesetze, die schon den Besitz kleinster Mengen hart bestraften, brachten damals zahlreiche User ins Gefängnis und hielten sie von der Nutzung gesundheitlicher oder sozialer Unterstützungsangebote ab. Die Folge: Die HIV-Infektionsrate unter intravenös Drogen Konsumierenden schoss in die Höhe.
Ende der 1990er schlug die Ukraine aber einen anderen Kurs ein. Internationale Geldgeber fingen an, Programme zur Schadensminimierung zu finanzieren, die durch die Förderung von Safer Use und durch besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung auch zur Vermeidung von HIV-Infektionen beitrugen. 2006 wurde außerdem die Substitutionsbehandlung eingeführt, und Aktivisten setzten sich für mildere Strafen und einen humaneren Umgang mit Drogensüchtigen ein.
„Dank Substitution bin ich noch am Leben“
Im Allgemeinen gilt die Ukraine als Erfolgsgeschichte, was die Schadensminderung angeht. Die Zahl der neuen HIV-Infektionen unter Drogengebrauchern ist gesunken, insbesondere bei den unter 21-Jährigen: Hier ging die Rate von 20 Prozent im Jahr 2007 auf fünf Prozent im Jahr 2013 zurück. Im März 2014 befanden sich landesweit rund 8.000 Patienten in einer Substitutionsbehandlung, und viele von ihnen konnten dadurch weiter in ihrem Job arbeiten, ihren Gesundheitszustand verbessern und sich um ihre Familien kümmern. Ruslan war einer dieser Patienten. „Als ich damals mit der Substitution anfing, roch ich schon nach Tod“, sagt er. „Dank diesem Programm bin ich noch am Leben.“
Die Führungen der „Volksrepubliken“ aber haben das Ruder erneut herumgeschwenkt und gehen mit harter Hand gegen Drogenkonsum und den weit verbreiteten Alkoholismus vor – mit Erfolg, wie sie behaupten. In seinem Büro in der Stadtverwaltung im Zentrum von Luhansk sagt der für Sozialpolitik zuständige Vize-Premierminister Vasiliy Nikitin, der Konsum illegaler Drogen in Luhansk sei durch die Maßnahmen der Milizionäre gegen den Drogenhandel um das Zehnfache zurückgegangen.
„Das war ganz leicht“, meint er. „Wir haben das mit den Strafverfolgungsbehörden gemacht, haben die Korruption besiegt, und schon war das Problem gelöst.“ Als ich nach Details frage, bricht Nikitin das Interview allerdings ab. Im Foyer treffe ich dann einen Milizionär, der sich „Akim“ nennt. Auch er ist überzeugt, dass es schon bald in der Volksrepublik keine Alkohol- und Drogensucht mehr geben wird. „Unsere Gesetze werden da sehr streng sein“, sagt er.
Auch das Hilfesystem ist im Visier
In der Tat sind die Straßendrogen im Sommer 2014 verschwunden, wie mir Mitarbeiter der Gesundheitsdienste, Sozialarbeiter und Drogengebraucher bestätigt haben. Nach der Auflösung der ukrainischen Strafverfolgungsbehörden schlossen die bewaffneten Kämpfer, die an ihre Stelle traten, damals einschlägig bekannte Drogenumschlagsplätze und gingen rücksichtslos gegen User und Dealer vor – mit Schnellverfahren vor Militärtribunalen und angeblich auch mit Hinrichtungen.
Viele Einheimische sehen dieses Vorgehen positiv – wie zum Beispiel Tatiana Boyko, Ingenieurin und Mutter aus Horlivka, die ich in einem Flüchtlingslager kennenlernte. Das Beste, was die Volksrepublik Donezk im letzten Sommer getan habe, sei die Schließung von Apotheken gewesen, in denen man die zur Herstellung von „Krokodil“ nötigen Medikamente bekam – der Straßendroge, die Ruslans Kiefer zerstört hat. „In nur zwei Tagen haben sie alles dichtgemacht“, erzählt sie, „danach war das Krokodil verschwunden. Und außerdem wurden die ganzen Bars geschlossen, in denen sich unsere Männer aus Horlivka immer betrunken haben. Die Milizionäre haben die Männer im wahrsten Wortsinn am Schlafittchen gepackt und nach draußen gezerrt. Am nächsten Tag waren alle nüchtern. Und das ist eine gute Sache“, schließt sie.
Im Visier standen aber nicht nur Drogengebraucher, Dealer oder Alkoholiker. Als Ruslan verhaftet wurde, konsumierte er gar keine Straßendrogen, sondern bekam medizinisch kontrolliertes und ärztlich verschriebenes Methadon. Auch Dima, ein Sozialarbeiter aus Ruslans Schadensminderungs-Programm in Horlivka, war mehrere Tage in Haft, weil er Spritzen in seinem Auto mit sich führte. Die Kämpfer beschuldigten ihn, ein Drogendealer zu sein – und als sie ihn endlich freiließen, meinten sie: „Du kannst froh sein, dass du hier lebend rauskommst.“
Die illegalen Drogen sind längst wieder da
Unter den Kämpfern, die ihn drei Tage im Keller eines öffentlichen Gebäudes in Horlivka gefangen hielten, will Dima auch mehrere seiner Klienten erkannt haben. Viele Medizinier und Sozialarbeiter aus Substitutions- und Schadensminderungsprogrammen erzählen ähnliche Geschichten – ihre richtigen Namen möchten sie aus Angst vor Vergeltung nicht veröffentlicht sehen. „Der Krieg gegen Drogen war doch nur Show“, meint Irina*, eine Sozialarbeiterin aus Luhansk. „Die Kämpfer kommen immer noch zu uns. Nur halt nicht in Uniform.“
Übereinstimmend berichten Sozialarbeiter und ihre Substitutionspatienten auch, dass die illegalen Drogen längst wieder in die Region zurückgekehrt seien. Das Geschäft werde jetzt lediglich von anderen Bossen kontrolliert, die Preise seien höher und die Quelle sei eine andere: Russland, vermuten sie. In Luhansk sind die alten synthetischen Drogen wie „Krokodil“ nämlich von Heroin abgelöst worden, das im großen Nachbarland weit verbreitet ist, in der Ukraine bis dato dagegen fast unbekannt war.
„Plötzlich tauchten diese neuen Dealer auf, die unantastbar sind“, erzählt der Substitutionspatient Kolya, der in seinen besseren Tagen als Bauarbeiter den Lebensunterhalt für sich und seinen jungen Sohn verdiente. „Da stehen immer mindestens zehn Leute in der Schlange, um sich ihre hübsch in kleine weiße Päckchen verpackte Dosis abzuholen.“
Der Krieg hat die Versorgung unterbrochen
Kolya spricht aus eigener Erfahrung: Seit sein Substitutionsprogramm Ende letzten Jahres eingestellt wurde, nimmt er wieder Straßendrogen. Einrichtungen, die weiterhin substituieren, sind zwar bisher von den Separatisten nicht geschlossen worden, aber Vasiliy Nikitin will sich nicht dazu äußern, ob die Führung der Volksrepublik die Behandlung auch weiterhin erlauben wird. In Russland jedenfalls, von dem die abtrünnige Region unterstützt wird, ist Methadon verboten, und auf der im letzten März annektierten Krim verloren etwa 800 Patienten über Nacht den Zugang zu entsprechenden Programmen.
Bei Kolya dagegen, einem der rund 600 Substitutionspatienten im von den Rebellen kontrollierten Donbass, ist der Krieg schuld daran, dass er keinen Zugang mehr zu seiner Therapie hat, denn die Versorgung mit Arzneimitteln, also auch mit den für die Substitutionsbehandlung nötigen Stoffen, ist unterbrochen.
Die ukrainischen Lieferanten weigern sich, Methadon über die von den Separatisten kontrollierten Checkpoints zu liefern – weil es als Betäubungsmittel gilt, muss Methadon nach ukrainischem Recht mit einer bewaffneten Eskorte geliefert werden. Die „International HIV/AIDS Alliance in Ukraine“, welche die Substitutionsbehandlung im Land koordiniert, wollte das Problem umgehen und von internationalen Geldgebern finanziertes Methadon per Flugzeug in die Gegend bringen. Doch einen Tag nach der ersten Lieferung im Mai wurde der Flughafen in Donezk bombardiert, und auch andere Versuche wie zum Beispiel die Auslieferung des Methadons durch angeheuerte militärische Kräfte scheiterten. Die letzte Lieferung in die Rebellengebiete erfolgte im Juli 2014. Am 1. Dezember 2014 stoppte die Ukraine dann offiziell sämtliche Zahlungen und Unterstützungsleistungen für Gebiete, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen – also auch für Substitutionsmittel oder HIV-Medikamente.
Ende Februar 2015 hatten nur noch vier der 13 Substitutionszentren im Donbass Methadon. „Wir stecken in einer Sackgasse“, sagte Anya Nikolaevna, Ärztin am Luhansker Suchtbehandlungszentrum, schon im Dezember. Vor ihrem Büro warteten damals Patienten einer anderen Methadon-Abgabestelle, die zwei Tage zuvor die letzte Dosis vergeben hatte, doch auch Anya konnte ihnen nichts mehr anbieten.
„Entweder Überdosis, Haft oder Tod“
Seit April 2014 hat die „International HIV/AIDS Alliance in Ukraine“ mehr als 200 Substitutionspatienten von der Krim und aus dem Donbass dabei unterstützt, vorübergehend Substitutionsplätze in anderen Orten der Ukraine zu finden. Aber die finanziellen Mittel und auch die Plätze sind begrenzt, und für viele bedeutet Substitution eine lebenslange Behandlung. Einige Ärzte im Donbass haben daher die Methadondosen reduziert, um länger mit den restlichen Vorräten auszukommen. Doch viele Patienten konsumieren mittlerweile wieder Straßendrogen, um etwas gegen die dadurch verursachten Entzugsschmerzen zu tun.
„Ja, viele haben wieder mit dem Spritzen angefangen“, bestätigt der 42-jährige Andrey, ein ehemaliger Substitutionspatient und auch ehemaliger Unterstützer der „Volksrepublik“ (bis auch er von Kämpfern aufgegriffen, mehrere Tage festgehalten wurde und zum Ausheben von Gräben gezwungen werden sollte). „Wenn die Methadondosis reduziert wird, brauchst du was Anderes zusätzlich. Und außerdem muss man irgendwie einen Weg finden, um mit dem ständigen Beschuss klarzukommen.“
Drakonische Strafen der Milizionäre, neue und ungewohnte Straßendrogen und immer stärkere Einschränkungen des Zugangs zu Schadensminderungsprogrammen – die Ukraine könnte bald wieder vor einer Situation wie in den 1990er Jahren stehen, als hochriskanter Drogenkonsum, HIV und andere Infektionskrankheiten zahlreiche Opfer forderten.
„Entweder Überdosis, Haft oder Tod“, sagt Kolya aus Luhansk. „Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“
Daten zum Stand der HIV-, Tuberkulose- sowie Hepatitis-C-Prävention und Behandlung (einschließlich Substitution) in der Ostukraine bietet die International HIV/AIDS Alliance in Ukraine (Stand: Ende Februar 2015; PDF-Datei in englischer Sprache)
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