„Jeden Tag stirbt in Weißrussland ein Mensch mit HIV“
Die HIV- und Aids-Prävention in Weißrussland leidet unter der schlechten medizinischen Versorgung, mangelnder Koordination und politischem Desinteresse oder Gegenwind. Außerdem ist sie fast völlig vom Globalen Fonds gegen Aids, Tuberkulose und Malaria abhängig. Philip Eicker sprach mit der Aktivistin Lena Grigoryeva
„Osteuropa droht eine Vierfach-Epidemie“, warnte Michel Kazatchkine, UN-Sondergesandter für HIV in Osteuropa und Zentralasien, im Oktober 2013 auf der Europäischen Aids-Konferenz in Brüssel. „Wird die Epidemie nicht bald unter Kontrolle gebracht, tragen die regionalen Regierungen die volle Verantwortung für die menschliche Tragödie, die dort ihren Lauf nimmt.“ Nicht nur die Zahl der HIV-Infektionen steige drastisch an, auch die Fälle von Tuberkulose und Hepatitis C häufen sich. Die vierte bedrohliche Entwicklung: immer mehr Menschen gebrauchen Drogen intravenös – und sind dadurch besonders gefährdet durch HIV und Hepatitis-C. In keiner Erdregion sterben mehr Menschen an Aids. Besserung ist nicht in Sicht – denn die verantwortlichen Regierungen ergreifen keine geeigneten Gegenmaßnahmen.
Die HIV-Situation in Weißrussland ist alarmierend
Wie schwierig die Situation in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist, davon weiß Lena Grigoryeva ein Lied zu singen. Die 35-jährige Weißrussin arbeitet in mehreren Nichtregierungsorganisationen, die Menschen mit HIV unterstützen. Unter anderem leitet sie in ihrem Heimatland eine Arbeitsgruppe zu „Gesundheit in Haft“, außerdem ist sie im Lenkungsausschuss von AIDS Action Europe, einem Zusammenschluss von mehr als 430 NGOs in Europa und Zentralasien. Die ausgebildete Dolmetscherin und Psychologin ist zudem Mitglied in einem Unterausschuss des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria. Im Interview mit aidshilfe.de berichtet sie von ihrer Sisyphusarbeit.
Frau Grigoryeva, die Europäische HIV-Konferenz sprach von einer „menschlichen Tragödie“ in Osteuropa. Wie ist die Situation in Weißrussland?
Was HIV angeht, ist die Situation wirklich alarmierend. Die Zahl der HIV-Fälle steigt, jeden Tag stirbt in Weißrussland ein Mensch mit HIV. Die Ärzte können zwar viele verschiedene Gründe aufzählen, warum all diese jungen Menschen sterben mussten, aber ich bin überzeugt: Es liegt vor allem an der schlechten medizinischen Versorgung. Die Behandlung beginnt zu spät, die Zahl der Helferzellen wird zu selten bestimmt, die Versorgung der Patienten mit Medikamenten ist lückenhaft, es mangelt an Beratungsmöglichkeiten und Peer-to-Peer-Unterstützung. Noch dazu werden die vorhandenen Gesundheitsangebote kaum koordiniert.
Ihre Arbeit wird unter anderem aus dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria finanziert. Wie wichtig ist diese Geldquelle?
Der Globale Fonds ist in Sachen HIV der Hauptgeldgeber in unserer Region. Das ist besonders für diejenigen problematisch, die eine antiretrovirale Behandlung benötigen. Die weißrussische Regierung hat dafür bis heute keinen einzigen Rubel bereitgestellt – alle Behandlungskosten trägt bisher der Globale Fonds. Aber nun hat die Weltbank Weißrussland – so wie einige andere Länder in der Region – als ein Land mit „höherem mittleren Einkommen“ eingestuft. Das heißt, Weißrussland kann in Zukunft keine Mittel mehr aus dem Globalen Fonds gegen HIV, Tuberkulose und Hepatitis-C beantragen. Wenn diese Förderung 2016 wie geplant ausläuft, könnten Tausende ohne HIV-Patienten ohne Medikamente dastehen. Um diese schreckliche Situation zu verhindern, müssen wir unsere Community mobilisieren und die Regierung dazu bringen, ihre Versprechen einzuhalten.
Häftlinge sind die Verletzlichsten unter den Verletzlichen
In Ihrer täglichen Arbeit unterstützen Sie vor allem Menschen in Haft. Dürfen Sie in den Gefängnissen ungehindert HIV-Beratung anbieten?
In der derzeitigen Lage sind Häftlinge die Verletzlichsten unter den Verletzlichen. Es kostet sehr viel Kraft, im Gefängnis auf die eigenen Rechte zu pochen. Für die Behörden ist es dagegen einfach, die Situation unter Kontrolle zu behalten – sie entziehen den Leuten nicht nur die Freiheit, sondern auch wichtige Informationen. Leider hat sich die Situation verschlechtert. Es war für uns noch nie einfach, in die Haftanstalten reinzukommen. Man muss viele verschiedene Dokumente vorlegen. Bei Vorträgen und Workshops soll man manchmal jedes einzelne Wort vorab dokumentieren, das fallen wird. Aber letztlich war es möglich reinzukommen. Mit den gegenwärtigen Justizvollzugsbehörden ist nicht einmal das möglich. Nur ein aktuelles Beispiel: Meine Kollegen und ich haben sehr viel Kraft und Zeit investiert, um unsere Angebote in Haft für 2013 durchzubekommen. Als das nicht ging, haben wir uns bemüht, ein gemeinsames Seminar zwischen Gefängnisverwaltungen und unseren Spezialisten hinzubekommen, um wenigstens einen für beide Seiten akzeptablen Arbeitsplan für die Zukunft zu erstellen. Wir waren so glücklich, dass auch unsere Kollegen von der Deutschen AIDS-Hilfe zu diesem Treffen mitkommen konnten, um sich bei dieser Gelegenheit über ihre Erfahrungen mit HIV-Prävention in Haft auszutauschen. Das Vorgespräch mit den Verantwortlichen in den Justizbehörden habe ich persönlich geführt, um alle möglichen Fragen zu diesem Seminar schon im Vorfeld auszuräumen. Ein paar Tage vor dem Termin bekamen wir einen Brief, in dem es hieß: Die zuständigen Beamten könnten aus Zeitgründen nicht teilnehmen.
An liberale Hilfsangebote wie Drogensubstitution ist da vermutlich nicht zu denken?
Nein. Solche Erlebnisse sind sehr frustrierend, aber sie zeigen, wie die Wirklichkeit in Weißrussland aussieht. Wir versuchen seit einem Jahr vergeblich, Zugang zu den Häftlingen zu bekommen, um zumindest lebensrettende Angebote machen zu können: zum Beispiel Informationen zur Therapietreue. Wir wissen, dass HIV-Positive in der Haft nicht mehr dieselben HAART-Medikamentenkombination bekommen wie zuvor in Freiheit. Die Test- und Behandlungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. Das liegt oft daran, dass die Gefängnisse schlicht überfüllt sind. Einige Insassen müssen während der gesamten Haftzeit auf dem Boden schlafen, was alle möglichen Hautkrankheiten auslösen kann. Dazu kommt der oft eingeschränkte Zugang zu Sanitäranlagen. Ein Substitutionsprogramm gibt es in keinem weißrussischen Gefängnis, nicht einmal erste Ansätze zur Harm Reduction. Die Justizvollzugsbehörden wollen von so etwas nichts hören. Immerhin ist es dank des Globalen Fonds in einigen Städten möglich, nach der Haftentlassung an Substitutionsprogrammen teilzunehmen. Aber auch hier ist das Risiko sehr groß, dass die Angebote mit dem Ende der Fonds-Förderung in Weißrussland einfach verschwinden.
Gibt es keine einheimischen Quellen, aus denen Sie ihre Arbeit finanzieren könnten?
Der Globale Fonds finanziert über 95 Prozent der HIV-Angebote
Nur sehr wenige. Jede zivilgesellschaftliche Organisation in Weißrussland ist politisch leicht angreifbar – und damit auch finanziell gefährdet. Sie bekommen keinerlei Zuwendungen von der Regierung und müssen außerdem viele Hürden überwinden, um sich überhaupt zu registrieren. Erst dann sind sie in der Lage, Zuwendungen von internationalen Geldgebern wie dem Globalen Fonds zu beantragen. Was HIV angeht, ist der Fonds definitiv der Hauptgeldgeber. Er finanziert über 95 Prozent der HIV-Angebote. Viele NGOs hängen vollständig von ihm ab. Für sie wird es kritisch, wenn der Fonds 2016 ausläuft. Viele in den Fondsjahren 2004 bis 2016 gut ausgebildete Mitarbeiter werden dann das Land verlassen, um anderswo Jobs zu finden. Beratungseinrichtungen werden schließen. Die meisten werden sich wohl anderen Gesundheitsthemen zuwenden, die besser ausgestattet sind als die HIV-Arbeit. Nach meiner Einschätzung werden nach 2016 nur Community-basierte NGOs überleben. Sie haben gar keine andere Chance: Als registrierte Rechtspersonen können sie zumindest mit der Regierung verhandeln und um Angebote „betteln“, die unsere Verfassung eigentlich jedem garantiert.
Aus dem wohlhabenden Deutschland gesehen wirkt die Lage in Weißrussland erschütternd. Könnten Sie zur besseren Einschätzung die Lage vergleichen? Ist Ihre Situation eher schlechter oder eher besser als zum Beispiel in den Nachbarländern Russland und Ukraine?
Die Situation in Weißrussland ist sehr speziell. Meinem Eindruck nach schlägt sich die Ukraine besser als ihre Nachbarn. Es gibt dort einige bemerkenswerte Verbesserungen, die Regierung unterstützt Menschen mit HIV an vielen Stellen. Unter anderem dämpft sie die Preise für HIV-Medikamente. Und der bürokratische Rahmen für Investitionen ist größer, das zieht Geldgeber an. Der größte Troublemaker in der Region ist zweifellos Russland. Da ist die homophobe Haltung, die 2013 durch das Gesetz gegen homosexuelle Propaganda sogar legalisiert wurde, und da sind die Drohgebärden gegen jede Form von Harm Reduction. Die Zahl der Menschen mit HIV wächst, und gleichzeitig erfinden die Politiker immer neue diskriminierende Regeln oder erzwingen die Schließung lebensrettender Einrichtungen – nur weil die Regierung keine ausländischen Geldgeber duldet. Dabei reichen die staatlichen Mittel bei Weitem nicht aus, um die vier Epidemien auszubremsen. Weißrussland ist da nicht viel besser. In den letzten zehn Jahren wurde in der HIV-Prävention zwar einiges verbessert. Gleichzeitig behandelt die Regierung die zivilgesellschaftlichen NGOs so stiefmütterlich wie eh und je. Sie setzt weiterhin darauf, Epidemien vor allem dadurch zu „kontrollieren“, indem sie die wahren Zahlen und Informationen dazu unter Verschluss hält.
Angesichts dieses Gegenwinds: Wie motivieren Sie sich?
Die größte Herausforderung für jede Interessenvertretung, egal in welchem Land, ist die Tatsache, dass man seine Zeit in eine Sache investiert, die erst dann gute Ergebnisse bringt, wenn die meisten Verbündeten bereits gestorben sind. Und selbst dann kann sie noch scheitern. Oder sie gelingt, aber dann wechselt die politische Führung und alle Errungenschaften verschwinden wieder. Manchmal, wenn ich gar kein Licht im Tunnel sehe, denke ich mir: „Das ist alles so nutzlos! Und so endlos.“ Dann klappe ich meinen Laptop zu, gehe raus und treffe die Leute, für die ich arbeite. Ich schaue in ihre Augen, ich höre ihre Lebensgeschichten – und dann gehe ich nach Hause zurück, öffne meinen Laptop, schreibe weiter an meinem x-ten Brief an die Regierung und bestehe darauf, dass die Bürger einen Anspruch auf Gesundheitsleistungen haben, wie sie die Verfassung garantiert. Diesen Sommer habe ich meine Oma verloren, die ich sehr geliebt und bewundert habe. Bei jedem Besuch haben wir lang miteinander geredet, immer über dasselbe Thema: den Zweiten Weltkrieg. Der Krieg hat Weißrussland völlig zerstört und das Leben meiner Großmutter umgekrempelt. Sie ist nun seit drei Monaten tot und ich vermisse unsere Gespräche. Sie haben mir so viel Energie gegeben, um denen zu helfen, die es schaffen, trotz allem am Leben zu bleiben. Seit meine Oma tot ist, lässt meine Kraft zu kämpfen nach. Aber glauben Sie mir: Wenn Sie sich für Menschenrechte einsetzen wollen, dann ist Weißrussland – zumindest in Europa – ein echtes Paradies. (lacht) Kommen Sie doch mal zu Besuch! Solange Sie nicht ins Gefängnis kommen, wird es Ihnen gut gefallen! Es gibt noch viel zu tun!
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