Im Labyrinth aus Schönheit und Schmutz

Die Tagebücher des Schriftstellers Horst Bienek sind nicht nur ein monumentales Panorama des 20. Jahrhunderts, sondern auch das intime Psychogramm eines schwulen Mannes zu dessen zwiespältigem Umgang mit Sexualität in Zeiten von Aids.
Als Horst Bienek am 7. Dezember 1990 mit gerade einmal 60 Jahren starb, war selbstverständlich, dass alle großen Zeitungen den Schriftsteller mit Nachrufen würdigten. Denn der 1930 in Gleiwitz (heute Gliwice) geborene Münchner war nicht nur ein ungemein produktiver Autor, die „Gleiwitzer Tetralogie“ (1972 bis 1985) über seine Kindheit in Schlesien war ein international beachteter Bestseller. Darüber hinaus war er als Rundfunkredakteur, dtv-Lektor, Essayist, Journalist und Direktor der Literaturabteilung der Bayrischen Akademie einflussreich im Literaturbetrieb. Während der erklärte Antikommunist – er war 1951 in Ostberlin denunziert und in ein sowjetisches Straflager verschleppt worden – sich immer wieder zur Tagespolitik äußerte, wusste man wenig über die Privatperson. So sorgte die Nachricht, dass er an den Folgen von Aids gestorben war, für Aufsehen.
Nächtliche Ausschweifungen und die „Droge Sex“
Ein knappes Jahr nach seinem Tod erschien ein letzter Lyrikband mit Texten aus seinem Nachlass. Im Gedicht „In den Kaschemmen“ thematisiert Bienek zum ersten Mal seine Homosexualität: „Und schon vor Mitternacht / bin ich wieder unterwegs / (…) auf der Suche nach der Ekstase / dieses Labyrinth aus Schönheit und Schmutz / aus Lust und Gier und Verlorenheit.“ In seinem Tagebuch notiert er dazu am 18. August 1986, dass er ein Gedicht über seine nächtlichen „Ausschweifungen“ geschrieben habe: „Ich glaube es ist zu pornografisch, um es zu veröffentlichen. Aber es gehört zu meinem Leben! Und nach meinem Tod soll das alles veröffentlicht werden.“
Im Falle des Gedichts „In den Kaschemmen“ hatte es nur wenige Monate gedauert; seine Tagebücher wurden hingegen erst jetzt unter dem Titel „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts“ veröffentlicht – ein Mammutwerk: 1550 Druckseiten Notate und 150 Seiten Erläuterungen plus Namensregister. Das Tagebuch liefert neben tagespolitischen Beobachtungen einen intensiven Werkstattbericht des nach öffentlicher Anerkennung Strebenden sowie Anekdoten aus dem Kulturbetrieb, etwa über Wolfgang Koeppen, Hans Werner Henze, Fritz J. Raddatz oder David Hockney.
Doch es gibt neben dem „offiziellen“ Horst Bienek auch den ganz privaten. Ab Oktober 1978 entschließt er sich zu absoluter „Offenheit, auch in erotischen Situationen. (…) Rücksichten (auf wen?) werde ich nicht nehmen.“ Seine Sexsucht und seine Versuche, sie in zügellosen Begegnungen zu befriedigen, schildert er fortan explizit in seinem Tagebuch. „Abends noch zum Ficken. Bin völlig ausgeliefert“, notiert er etwa am 28. Oktober 1981. „Manchmal frage ich mich, bin ich ein Schriftsteller – oder nur noch Opfer meiner sexuellen Hörigkeit. Allerdings, ein fantastischer Fick an der Friedhofsklappe. Ein Traumschwanz; Gesangsstudent…“
„Rücksichten (auf wen?) werde ich nicht nehmen“
Was seine schriftstellerischen Qualitäten und seine Rolle im Literaturbetrieb angeht, mangelt es Bienek nicht an Selbstbewusstsein. Und er weiß Prioritäten zu setzen. So sagt er etwa kurzfristig seine Teilnahme an der Herbsttagung der Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ab und schwänzt auch die Verleihung des Büchner-Preises. Keine Lust, Höflichkeiten auszutauschen. „Da gehe ich doch lieber ficken. Das ist ehrlicher. Vitaler. Und geht mich schließlich mehr an, auch meine Seele.“
Seine in Saunen, Darkrooms und an Cruising-Orten rund um die Welt exzessiv ausgelebte Sexualität ist für Bienek von geradezu existenzieller Bedeutung. Bei Heterosexuellen vermutet er abschätzig monogame, unbefriedigende Monotonie im Ehebett. „Die haben doch keine Ahnung, was für eine Faszination, Erregung es ist, in einer Bar, nachts um ½ 1, in einem dunklen Raum, mit dreißig, vierzig, fünfzig andern zusammen in einer sexuellen Gier zu stecken, wo man fickt und gefickt wird, wo die Luft gesättigt ist von Schweiß, Sperma, Poppers, da gibt es Momente (Sekunden) wo man meint, man müsste vergehen … Wer das nie erlebt hat.“
Bienek ist ein von seiner Sexualität Getriebener. An einer Stelle vermutet er, dass er „ein wirklich guter Schriftsteller werden“ könnte, „wenn erst einmal diese verfluchte Sinnlichkeit“ von ihm abgefallen sei. Doch Mitgefühl vermag man beim Lesen nicht empfinden. Das verhindert unter anderem seine grobe Misogynie und auch, wie er seine Sexpartner auf deren Körper und die Größe ihres Genitals reduziert. Rassistisch spekuliert er über die sexuelle Leistungsfähigkeit von „Arabern und Schwarzen“ (meist verwendet er das N-Wort). Kuba, die USA und Südamerika sind für ihn erotische Paradiese. In Manila und Bangkok beschönigt er den Sex gegen Bezahlung „als eine Art private Entwicklungshilfe“.
„Wer Kondome benutzt, gilt als hysterisch.“
Als 1983 das Magazin „Spiegel“ bereits zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit Aids zu einer Titelgeschichte macht, ist Bienek alarmiert. „Das Ganze wirkt wie ein Pogrom gegen die Schwulen. Da braut sich etwas zusammen im kollektiven Unbewußten der Massen – aufgehetzt von den Medien.“ Und er hat auch eine ganz eigene Erklärung dafür: „Manchmal denke ich, AIDS haben sich die Heteros ausgedacht, um Rache an den Homos zu nehmen, aus purem Sexualneid.“ Dennoch entschließt sich Bienek in den kommenden Monaten und Jahren immer wieder, vorläufig abstinent zu bleiben oder nur noch Sex mit Kondom zu haben. Beides hält er nie lange durch.
Als er 1983 eine schwule Sauna in Amsterdam besucht, ist er über den Betrieb dort überrascht. „Es schien, als habe hier noch niemand etwas von AIDS gehört.“ Seine Ängste sind dann auch gleich verflogen. „Ich habe mich nach anfänglichem Zögern dann auch ins Getümmel geworfen“. Dieses Muster verfestigt sich. Immer wieder gibt es Momente der Panik. Die Nachrichten über die neue Krankheit wühlen auf, aber werden kurz danach wieder weggewischt. „Die Stimmung in der Münchner Szene und auf den Klappen: Gelassen. Wer Kondome benutzt, gilt als hysterisch. Die Krankheit betrifft allenfalls die USA und auch dort nur die Metropolen NYC und San Francisco, aber ganz bestimmt nicht die ‚europäische Provinz‘“. Bei einem längeren Aufenthalt als Dozent an einer Uni in New Orleans sucht er sich dezidiert einen nicht ganz so attraktiven Lover, weil dieser weniger Sexkontakte gehabt habe und damit auch nicht infiziert sei.
„Opfer der Angst“
Zurück in München will er mit guten Vorsätzen „bummeln gehen“: „Ich kam mir etwas lächerlich vor mit meinem Gummi. Aber den hole ich immer hervor“, notiert Bienek stolz. Aber der Trieb siegt über die Vernunft. „Einer, mit einem wunderbaren Schwanz, lachte mich aus. Und so ließ ich mich dann doch von ihm, ungeschützt, ficken!“ Und Bienek fragt sich schuldbewusst: „The only wrong fuck???!!“
Horst Bieneks Notizen zu seinem persönlichen Umgang mit der Aidskrise sind ein Zeugnis dafür, welchen inneren Konflikten und Entscheidungen diese Generation schwuler Männer seinerzeit ausgesetzt waren. Welchen Informationen ist zu trauen, wie die Gefahr tatsächlich einzuschätzen? Vor allem aber: Wie will ich und wie kann ich meine Sexualität in dieser Situation anpassen? Bienek ist dies äußert schwergefallen. Zudem lähmt ihn die Angst. „Was die bürgerlichen, ja die faschistischen Verhaltensweisen nicht geschafft haben, das gelingt offensichtlich jetzt diesem publizistischen Virus“, notiert er 1985. „Ohne wirklich jemandem begegnet zu sein, der AIDS hat, ja der nur einen solchen Kranken oder Todgeweihten kennt – bin ich doch ein Opfer der Angst.“
Fehlende Verantwortung und späte Diagnose
Immer wieder wägt er ab, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sein könnte, sich mit dem Virus zu infizieren – und rechnet sie zu seinen Gunsten herunter. Jedoch kein Gedanke, dass er womöglich längst infiziert sein und das Virus mit jedem Sexkontakt weitergeben könnte. Diese fehlende Mitverantwortung ist für die Lesenden – gerade mit dem Wissen um Bieneks spätere Erkrankung und dem heutigen Kenntnisstand zu HIV/Aids – schwer auszuhalten. Lange bevor sich Bienek zu einem Test entschließt, wissen wir aufgrund der beschriebenen Symptome – Fieberschübe, Lungenprobleme, Ausschläge, Pilzinfektionen –, wie das Ergebnis ausfallen wird, das Bienek schließlich aus der Bahn wirft. „Spiele alle Möglichkeiten durch, wie lange ich noch zu leben habe.“
Knapp drei Jahre bleiben ihm noch. Er ordnet sein Leben, er lernt, was T4-Helferzellen bedeuten, und beobachtet, wie deren Zahl zweistellig wird. Er hofft auf medizinische Wunder und entschließt sich nach langem Zögern, das umstrittene Medikament Retrovir zu nehmen. Er hat gute und schlechtere Phasen, plant letzte Buchprojekte, verfasst ein Testament und übergibt sein Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover; darunter seine rund 12.000 Briefe umfassende Korrespondenz und seine Tagebücher.
Ausgerechnet an seinem 60. Geburtstag werden Kaposi-Sarkome auf seinem Zungenrücken diagnostiziert. „Der Schrecken war groß – aber ich muß ja mit solchen Geschichten rechnen“, notiert Bienek kühl. Am 1. August erfolgt der letzte Eintrag. Wegen anhaltender Krämpfe musste er eine Kur abbrechen. Bei einer Endoskopie wird ein Pilz in der Speiseröhre festgestellt. „Ich hätte gleich in die Klinik gehen sollen“, stellt Bienek nüchtern fest. Fünf Monate später stirbt er.
Horst Bienek „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts. Die Tagebücher 1951 bis 1990“. Nachwort von Michael Krüger. Carl Hanser Verlag, 1710 S., 58 Euro.
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