„I did it my way”: Der Seelsorger für die Menschen am Rand
Petrus Ceelen war zwar gläubiger Katholik, aber zeitlebens im Konflikt mit seiner Kirche, nicht zuletzt wegen deren Umgangs mit Homosexuellen. Als Gefängnis- und später Aidsseelsorger begegnete er jenen auf Augenhöhe, die sonst übersehen wurden: Drogengebrauchenden, Wohnungslosen, Menschen mit HIV/Aids. Der JES-Aktivist Roland Baur hat ihn als engagierten Verbündeten und mitfühlenden Gesprächspartner erlebt.
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.
Auf den ersten Blick wirkte der Gefängnisseelsorger nicht sonderlich sympathisch. „Da waren dieser wuchtige schwarze Bart, die buschigen Augenbrauen und wie er einen angeschaut hat“, erinnert sich Roland Baur. „Ich habe mich bei diesem ersten Gespräch mit Petrus Ceelen deshalb nicht sonderlich wohlgefühlt.“ Was der langjährige JES-Aktivist aber gleich bei der ersten Begegnung 1987 spürte, war eine Form der Zuwendung und ein empathisches Interesse für seine gesamte persönliche Situation. Dass Baur seinerzeit im Gefängnis Stammheim Petrus Ceelen überhaupt begegnete, war einem Zufall geschuldet. Der katholische Seelsorger war eigentlich im Gefängniskrankenhaus Asperg im Dienst und nur als Urlaubsvertretung in der durch die RAF-Prozesse legendär gewordenen Haftanstalt am Rande Stuttgarts eingesetzt.
Roland Baur war dort nach einer kleinen Odyssee gelandet. Verurteilt wegen eines Drogendelikts, hatte man ihm bei Haftantritt in einem Aachener Gefängnis einem Bluttest unterzogen und HTLV-III (wie HIV damals noch hieß) diagnostiziert. Bevor er überhaupt von diesem Befund erfuhr, hatte man ihn in einen stillgelegten Trakt des Gefängnisbaus verfrachtet, weit weg von allen anderen Inhaftierten, in absolute Isolation. Danach wurde er ins Hochsicherheitsgefängnis Stammheim überstellt.
Petrus Ceelen wandte sich den Menschen zu, ohne deren Lebensweise zu verurteilen
Roland Baur war maximal verstört, verzweifelt und verängstigt. Was eine Infektion mit diesem neuen Virus bedeutet, hatte er bei vielen anderen drogengebrauchenden Menschen bereits miterlebt. Zu der Ausgrenzungserfahrung kam die Tatsache, dass es keinerlei Aussicht auf eine Behandlung gab. Vielleicht zwei, höchstens drei Jahre – mehr gaben ihm die Gefängnisärzt*innen nicht. Er musste davon ausgehen, dass er die Haftanstalt nicht mehr lebend verlassen würde.
Roland Baur blieb bei diesem ersten Gespräch mit Petrus Ceelen zwar zunächst auf Distanz, aber er erlebte etwas, das zu dieser Zeit und erst recht im Kontakt mit Kirchenvertreter*innen selten war: Der Laientheologe interessierte sich tatsächlich für seine Sorgen und wandte sich Baur emphatisch zu, ohne dessen Lebensweise zu verurteilen – weder den Drogengebrauch noch die Tatsache, dass er für seinen Konsum Drogen aus den Niederlanden geschmuggelt hatte und dafür schließlich im Knast gelandet war. Und nicht weniger wichtig: Petrus Ceelen nahm auch die Ängste und die Verzweiflung ernst, die Baur durch die Erlebnisse seit der Diagnose belasteten.
Mit Umwegen zum Seelsorger
Zum Gefängnisseelsorger war der 1945 im belgischen Lommel geborene Petrus Ceelen erst durch Umwege geworden. Als Kind hatte er bereits vom Priesterseminar geträumt, doch er scheiterte bereits beim katholischen Internat. Der Junge war zu rebellisch und äußerte zu laut Kritik. Bereits nach wenigen Wochen musste er die Einrichtung verlassen. Nicht anders erging es ihm, als er 21-jährig dann tatsächlich in ein Priesterseminar eintrat. Bereut hat er diesen erneuten Rauswurf nicht, da er ohnehin mit dem geforderten Zölibat haderte. Also studierte er Theologie und schloss ein Studium der Religions- und der Erziehungswissenschaft an.
1971 kam er von Belgien nach Deutschland und gelangte über Stationen in Speyer, Mainz und Berlin schließlich vier Jahre später nach Stuttgart. Im Gefängniskrankenhaus auf dem Hohenasperg fühlte er sich am richtigen Ort. 17 Jahre lang war er dort den Insassen Gesprächspartner und Vertrauter: für Prominente wie Peter Graf, den Vater des Tennisstars Steffi Graf, für RAF-Terrorist*innen wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar und für Hunderte andere, die wegen Mordes, Vergewaltigung, Steuerbetrugs, Einbruchs oder Drogendelikten zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren.
„Verein für Menschen am Rande“
Als Roland Baur 1987 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde, engagierte er sich bei der Stuttgarter Aidshilfe, deren Gründungsteam er vor seiner Inhaftierung bereits angehört hatte. Ceelen war ihm in starker Erinnerung geblieben, und er sah in ihm einen möglichen Verbündeten. Auf Baurs Anregung wurde Ceelen zu einem Sommerfest der Aidshilfe eingeladen.
„Er hat dort nicht nur eine beeindruckende Rede gehalten“, wie sich Roland Baur erinnert, sondern sich in den Folgejahren auf vielen Ebenen auch außerhalb des Gefängnisses engagiert. „Petrus Ceelen hatte nicht nur irgendwelche Knastsprüche drauf, er hat sich tatsächlich für die Leute eingesetzt und ihnen bei persönlichen Problemen geholfen – ganz unbürokratisch und schnell.“ Wenn jemand in finanzielle Bedrängnis gekommen war, etwa wenn eine Nachzahlung für Heizkosten nicht beglichen werden konnte, fand Ceelen immer irgendwo einen „Topf“. Auch die Tantiemen seiner zahlreichen Bücher nutzte er für solche Zwecke. Er sah, dass Hilfe benötigt wurde, und schuf dafür mit dem Verein „Die Brücke“ eine eigene Struktur.
Mit diesem „Verein für Menschen am Rande“, der gezielt Menschen mit HIV/Aids, Wohnsitzlosen und Drogengebraucher*innen Gespräch, Beratung und Hilfe anbietet, hatte Ceelen in Stuttgart eine wichtige Anlaufstelle ins Leben gerufen, die bis heute existiert und die Arbeit in seinem Sinne fortführt. So manches, das er innerhalb der katholischen Kirche gegen viele Widerstände angestoßen hat, ist inzwischen zu offiziellen Arbeitsfeldern geworden, wie er in selbst einem Gespräch anlässlich seines 80. Geburtstages mit Genugtuung und Stolz konstatierte.
Petrus Ceelen und sein Verein „Die Brücke“ wurden verlässliche Unterstützer des ebenfalls bis heute bestehenden Aktionsbündnisses zum „Internationalen Gedenktag für verstorbene drogengebrauchende Menschen“. Der Seelsorger gestaltete über viele Jahre die vielbesuchten Gedenkgottesdienste und regte auch an, eine prominente Person für die Schirmherrschaft einzuladen, um so mehr Öffentlichkeit zu schaffen. „Durch seine Kontakte konnte er als ersten Schirmherrn den ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel gewinnen. Der Gedenktag hat dadurch eine größere Bedeutung erhalten und ist seitdem in der Stadtgesellschaft fest verankert“, sagt Roland Baur.
Mit der katholischen Kirche als Institution hatte auch Petrus Ceelen zeitlebens gehadert
Petrus Ceelen blieb bei alledem nahbar und suchte auch von sich aus die Nähe zu den „Menschen am Rande“. Es gelang ihm, Vertrauen aufzubauen, und er wurde vor allem unter Drogengebrauchenden als Gesprächspartner weiterempfohlen. „Da hieß es dann: ‚Das ist Petrus. Der Typ ist okay, auch wenn er von der Kirche ist. Aber mit ihm kannst du reden‘“, erzählt Roland Baur. „Viele wussten jedoch gar nicht, dass er von der Kirche ist, und schon gar nicht von der katholischen Kirche. Wer ihn erlebt hat, wäre nie von selbst darauf gekommen. Er hat das auch nicht vor sich hergetragen.“
Mit der Kirche als Institution hatte auch Petrus Ceelen zeitlebens gehadert. Dass sie den Kondomgebrauch verboten hatte, Homosexuelle, Drogenkonsumierende moralisch verdammte, Aids gar als Strafe Gottes bezeichnete, konnte und wollte Ceelen nicht akzeptieren. „Beim Gottesdienst zum Welt-Aids-Tag habe ich mich mehrmals bei Schwulen und Lesben für das zugefügte Leid entschuldigt, auch wenn es unentschuldbar war“, erläuterte Ceelen seine Haltung in einem Interview. Dies erklärt auch seinen Entschluss, sich gezielt um Aidserkrankte kümmern zu wollen.
Der erste deutsche Aidsseelsorger
Während seiner Tätigkeit im Gefängniskrankenhaus auf dem Hohenasperg hatte er fast täglich die körperlichen wie seelischen Leiden der Menschen mit HIV und Aids erlebt. Und ihrer wollte er sich auch außerhalb der Gefängnismauern annehmen.
1992 gelang es ihm, dass der damalige baden-württembergische Bischof Walter Kasper den Ehemann und Vater zweier Töchter gegen das Votum der Personalverwaltung zum ersten Aidsseelsorger einer deutschen Diözese ernannte. Ceelen war sich bewusst, mit welchen Vorurteilen er hier zu kämpfen haben würde.
„Für die Medien war ich der Stuttgarter Aidspfarrer. Hinter meinem Rücken wurde gemunkelt: ‚Der hat wohl selber Aids.‘ Manchen war es schon verdächtig genug, dass da einer freiwillig in den Knast geht. Und jetzt geht er noch zu solchen“, schilderte Petrus Ceelen die Reaktionen.
„Ich bin immer meinen Weg gegangen, und darüber bin ich froh“
Als Seelsorger war er jedoch nicht nur in der baden-württembergischen Landeshauptstadt zuständig, sondern kümmerte sich auch um Erkrankte in der gesamten Region, von Heilbronn bis Tübingen.
Die Zusammenarbeit mit den Aidshilfen gestaltete sich in den ersten Jahren jedoch nicht immer leicht. „Ich bin immer meinen Weg gegangen, und darüber bin ich froh. Denn nichts ist schlimmer als sterben zu müssen, ohne sein Leben gelebt zu haben. I did it my way“, formulierte er in seinem Buch „Denk-Zettel“. Ceelen wusste, dass er auch stur sein konnte. „Er hatte klare Vorstellungen, die er auch meinungsstark vertrat“, bestätigt Roland Baur.
Ehrenmitglied der AIDS-Hilfe Stuttgart
Ceelen machte da bei der Aidshilfe keine Ausnahme und funkte gerne auch mal dazwischen, nicht immer zur Freude der dort tätigen Ehren- und Hauptamtlichen. Er aber hatte auch hier ein offenes Ohr – und lernte dazu. „Petrus Ceelen hatte anfänglich die Haltung, dass den Armen und Schwachen geholfen werden müsse“, sagt Roland Baur. „Ihm war jedoch noch nicht bewusst, dass viele gar nicht schwach sind, sondern schwach gemacht wurden.“ Dass es also nicht darum gehen kann, Almosen zu geben, sondern das Ziel sein muss, Menschen dabei zu unterstützen, wieder auf die Beine zu kommen. Unzählige Menschen hat er dabei im Laufe seines langen Berufslebens auf unterschiedlichste Weise bestärkt und geholfen, ihr Leben in und nach der Haft wieder in den Griff zu bekommen, sich mit der Familie auszusöhnen, mit der Krankheit zu leben. Manchmal aber auch, das Sterben menschenwürdig zu gestalten. Die AIDS-Hilfe Stuttgart würdigte sein jahrzehntelanges Engagement 2003 mit der Ehrenmitgliedschaft.
„Ich bin erst durch die Gefangenen, Obdachlosen, Drogenabhängigen und Aids-Kranken der Mensch geworden, der ich heute bin. Dafür bin ich dankbar“, sagte er 2023 in einem Interview.
Als seine Frau 2005 an Krebs erkrankte, verabschiedete sich Petrus Ceelen vorzeitig in den Ruhestand. Am 10. März 2024 ist er 81-jährig einer Lungenkrebserkrankung erlegen.
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