Dokumentarfilm

Schonungslose Blicke

Von Axel Schock
Selbstporträt Jürgen Baldiga
Selbstporträt Jürgen Baldiga © Jürgen Baldiga

Jürgen Baldiga gilt als Chronist der Westberliner Schwulen- und Tuntenszene. Der 1993 verstorbene Fotograf sorgte aber nicht nur mit seinen Bildern, sondern auch durch den schonungslosen Umgang mit seiner Aidserkrankung für Aufsehen. Nun erinnert der Dokumentarfilm „Baldiga – Entsichertes Herz“ an den Künstler und Aktivisten.

Er porträtierte die Randständigen und Außenseiter*innen der Gesellschaft, vor allem aber schwule Männer und die Tuntenszene seiner Wahlheimat Berlin. Jürgen Baldigas fotografisches Gesamtwerk ist nicht weniger als eine Chronik des schwulen Berlins in den Jahren der Aidskrise.

Als er 1993, schwer an Aids erkrankt, Suizid begeht, hinterließ er ein einzigartiges künstlerisches Vermächtnis: neben vielen Tausend Fotografien auch 40 Tagebücher. Sie bilden den Kern des Dokumentarfilms „Baldiga – Entsichertes Herz“ von Drehbuchautor Ringo Rösener und Regisseur Markus Stein.

Wenige Tage vor der Uraufführung im Rahmen der diesjährigen Berlinale sind auch die letzten Feinheiten am Film geschafft und Markus Stein hat Zeit für ein Gespräch.

Es gilt, einen Fotografen zu entdecken, der weit mehr ist als ein ‚Aidskünstler‘.

Markus, im September 1992 schrieb Jürgen Baldiga in sein Tagebuch: „Zu einer schwulen Persönlichkeit geworden, auf jeden Fall in Berlin.“ Dieser Satz wird nun auch in deinem Film zitiert. Eine breitere Anerkennung und Bekanntheit als Künstler blieb Baldiga zu Lebzeiten und letztlich bis heute versagt. Ist der Film ein Versuch, das zu ändern?

Es wäre natürlich sehr schön, wenn uns das gelingt. Denn es gilt, einen Fotografen zu entdecken, der weit mehr ist als ein „Aidskünstler“, wie er oft gesehen wurde. Eine Bezeichnung, der Jürgen Baldiga auch selbst kritisch gegenüberstand.

Er war sich gleichwohl bewusst, wie wichtig seine Form der Auseinandersetzung mit Aids nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für die Gesellschaft war. Das macht ihn wahrscheinlich auch zu einem Aktivisten. Doch seine Kunst geht weit darüber hinaus. Für viele gelten beispielsweise seine sehr direkten Momentaufnahmen von Berliner Straßen als seine stärksten Bilder.

Innerhalb der queeren Community im Westberlin der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre war Jürgen Baldiga eine sehr präsente und bekannte Persönlichkeit. Wann bist du zu zum ersten Mal auf ihn aufmerksam geworden?

Ich bin zwar bereits 1984 nach Berlin gekommen, als Heterosexueller habe ich die queere Community damals jedoch nur am Rande wahrgenommen. Durch die Arbeit an diesem Film ist mir bewusst geworden, wie sehr ich damals in einer Art Parallelgesellschaft gelebt habe. Das beförderte mein Interesse an Jürgen Baldiga und ist zugleich auch meine Perspektive auf sein Leben und Werk. Das erste Baldiga-Foto, das ich gesehen habe, war ein Porträt von Melitta Sundström, das als plakatgroßer Abzug bei Freunden von Freunden hing. Ich kannte damals weder den legendären Tuntenstar Melitta, noch den Fotografen, aber das Bild feierte Melitta unverkennbar als eine Ikone. Und wie es in dieser Wohnung hing, machte deutlich, wie sehr Melitta bewundert wurde.

Wir können durch ihn sehr intensiv die Auswirkungen der Aidskrise auf das schwule Leben aus einer Innenperspektive miterleben.

Was gab den Anstoß, viele, viele Jahre später einen Film über diesen damals dir unbekannten Fotografen zu machen?

Ringo Rösener, mit dem ich bereits den Film „Unter Männern – Schwul in der DDR“ gedreht habe, hatte eine Auswahl von Baldigas Tagebüchern für eine geplante Veröffentlichung zusammengestellt und zu mir gesagt: „Schau dir das mal an. Sollten wir dazu nicht gemeinsam was machen?“ Ich habe mich dann durch die kompletten Tagebücher, über 7.000 Seiten, durchgearbeitet. Was mir da um die Ohren geflogen ist, hat mich regelrecht umgehauen. Baldiga hat mit seiner Kamera ja nicht nur einen sehr genauen Blick auf die Berliner Subkultur geworfen, sondern ist in seinem Tagebuch auch sehr offen und schonungslos mit sich selbst, mit seiner Sexualität und dann auch mit seiner Aidserkrankung umgegangen.

Selbstporträt Jürgen Baldiga © Jürgen Baldiga

Was macht Jürgen Baldiga als Tagebuchautor und als Fotograf heute immer noch – vielleicht auch wieder – interessant?

Da ist zum einen die Freiheit der Sexualität. Sie spielt in Baldigas Tagebüchern eine wichtige Rolle und deshalb auch in unserem Film. Zum anderen können wir durch ihn sehr intensiv die Auswirkungen der Aidskrise auf das schwule Leben aus einer Innenperspektive miterleben: mit welchen Konflikten sich HIV-Infizierte auseinandersetzten und wie Nicht-Infizierte mit dieser lebensbedrohenden Lage zurechtkommen mussten. Das alles muss erzählt werden – gerade auch für Menschen außerhalb der queeren Community. Dieser Aspekt war für mich ein zentraler Antrieb, diesen Film zu machen.

Wir können hier im Kleinen sehen, wie eine Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgeht. Und wie eine Minderheit sich zusammenrauft, sich selber organisiert und daraus Kraft gewinnt.

Also die Lebensrealität in dieser Hochphase der Aidskrise retrospektiv nachvollziehbar zu machen?

Genau, denn die Situation heute ist ja eine ganz andere. Aus meiner Perspektive ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte heute auch deshalb so wichtig, weil sie nicht nur zeigt, wie die schwule Community damit umgeht. Wir können hier im Kleinen sehen, wie eine Gesellschaft mit ihren Minderheiten umgeht. Und wie eine Minderheit sich zusammenrauft, sich selber organisiert und daraus Kraft gewinnt.

Jürgen Baldigas Nachlass – sein fotografisches Werk, aber auch Videos und seine Tagebücher – liegen im Archiv des Berliner Schwulen Museums. Für einen Dokumentarfilmer ist dieses umfangreiche Konvolut ein Geschenk, zugleich aber auch eine Herausforderung. Stand für dich und deinen Drehbuchautor Ringo Rösener von Anfang an fest, wie ihr euch filmisch Baldiga nähern wollt?

Wir mussten erst einmal dieses immense Material sichten und verstehen. Für uns war relativ schnell klar, dass uns am meisten Baldigas Innenperspektive interessiert. Dass wir uns also im Wesentlichen auf die Tagebücher stützen wollen und an ihnen entlang eine Erzählung entwickeln, die seine Biografie, aber auch seine Künstlerwerdung zeigen. Mich hat begeistert, dass da ein 19-Jähriger einfach beschließt, Künstler zu werden, aber nur noch nicht weiß, was für einer. Also probiert er sich aus – als Musiker, als Aktionskünstler, als Dichter – und entdeckt dann die Fotografie für sich. Wir konnten hier auf seine Super-8-Filme, auf Musikaufnahmen und natürlich seine Fotos zurückgreifen. Zentrales Dokument für uns aber sind die Tagebücher. Als Gegengewicht und Außenperspektive haben wir Zeitzeugeninterviews hinzugefügt.

Mich hat begeistert, dass ein 19-Jähriger einfach beschließt, Künstler zu werden, aber nur noch nicht weiß, was für einer.

Es werden sehr umfangreiche Tagebuchauszüge aus dem Off eingesprochen. Baldigas Originalstimme ist allerdings im Film nicht zu hören, auch nicht in den verwendenden alten TV-Ausschnitten.

Das ist eine bewusste künstlerische Entscheidung. Jürgen Baldiga hat in seinem Tagebuch vor allem seine Ängste, seinen Frust, seine Verzweiflung festgehalten. Es ist, wenn man so will, nicht seine „echte“, sondern seine innere Stimme. Diese wollten wir durchgehend beibehalten. Um das deutlich zu machen, haben wir dafür einen Sprecher gesucht, der sich den Text aneignet, der aber nicht versucht, Baldigas wirkliche Stimme nachzuahmen.

Regisseur Markus Stein

Eine andere wichtige inszenatorische Entscheidung war, Szenen aus Baldigas Leben nachspielen zu lassen, beispielsweise im Fotolabor, auf Krankenhausfluren und im SchwuZ, dem Berliner SchwulenZentrum und heutigem queeren Club. Dienen diese Bilder vor allem dazu, eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen?

Das ist mit ein Grund. Es war allerdings nicht das Ziel, historisch exakte Szenen zu drehen, die den Eindruck vermitteln, als wäre die Kamera damals mit dabei gewesen. Vielmehr wollte ich Bilder finden, bei denen jeder sofort weiß, dass sie lediglich „Abbild ähnlich“ sind, wie ich immer sage. So haben wir uns beispielsweise an einem passenden Drehort die alten Räume des SchwuZ zusammengebaut, jedoch die Party dort sichtlich mit Leuten von heute bevölkert. Unterfüttert werden diese atmosphärischen Szenen mit den Texten von Jürgen und den Interviews, die erzählen, wie es damals tatsächlich war.

Rund ein Dutzend Zeitzeug*innen kommen im Film zu Wort, unter anderem Jürgens Schwester, sein letzter Geliebter, Freund*innen aus der Tuntenszene, Krankenschwestern und ein Klinikarzt. Gab es auch Menschen, die ein Interview abgelehnt haben?

Wir haben in der Tat einige Absagen bekommen. Einige wollten nicht darüber sprechen, weil es ihnen immer noch zu nahegeht – einerseits wegen ihrer eigenen Beziehung zu Jürgen, der auch nicht immer ganz leicht war, und andererseits aufgrund der traumatisierenden Erfahrungen in dieser Zeit, als so viele Menschen an Aids starben. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass dieser Film erst jetzt entstehen konnte. Viele der Interviewten waren erst jetzt dazu in der Lage, frei über diese Zeit zu reden. Aber eben nicht alle. Für viele ist es immer noch zu schmerzhaft.

Wie schnell und fundamental er sich entwickelte – gedanklich und emotional –, wie reflektiert er seine Situation und die seiner Umgebung behandelte, finde ich absolut bewundernswert.

Du hast jetzt mehrere Jahre mit Jürgen Baldiga verbracht. Was für einen Menschen hast du posthum durch seine Texte und Bilder wie auch durch die Erzählungen seiner Freund*innen kennengelernt?

Durch die Beschäftigung mit seinem Tagebuch, seinen Bildern, aber auch mit der Situation von HIV/Aids in Berlin ist zunächst vor allem meine Bewunderung für ihn gestiegen: wie er mit seiner eigenen HIV-Infektion und dem damals sicheren Tod umgegangen ist. Es gibt aber auch noch einen anderen Aspekt, der mir sehr wichtig war: nämlich seine rasante künstlerische Entwicklung. Die ersten Tagebucheinträge und Gedichte, die er nach der Ankunft in Berlin geschrieben hatte, wirken noch recht naiv. Er war nun mal erst 19 Jahre alt, aber eben auch kein Arthur Rimbaud. Wie schnell und fundamental er sich dann jedoch entwickelte – gedanklich und emotional –, wie reflektiert er seine Situation und die seiner Umgebung behandelte, finde ich absolut bewundernswert.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Baldiga – Entsichertes Herz“ wird am 21. Februar im Rahmen der Berliner Filmspiele uraufgeführt. Voraussichtlich im Herbst kommt der Film dann bundesweit in die Kinos.

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