Zwischen Hype und Realität: KI in der Aidshilfe
In diesem Jahr startete die Deutsche Aidshilfe ein Projekt zum Themenfeld „Künstliche Intelligenz“. Das Projekt „AI_dshilfe partizipativ“ befasst sich mit den Visionen, Chancen, Risiken und Anwendungsfällen von KI und Daten im Kontext unserer Arbeit. Projektleiter Simon Herchenbach wirft im Interview einen Blick in die Zukunft von KI in der Aidshilfe.
„Künstliche Intelligenz“ ist gerade in aller Munde. Was hat dich bei der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema überrascht?
Simon Herchenbach: Was mich wirklich fasziniert hat, ist diese paradoxe Entwicklung: Die Technologie ist gleichzeitig viel schneller und viel langsamer als gedacht. Einerseits überschlagen sich die technischen Entwicklungen – jeden Monat gibt es neue Tools, neue Modelle, neue Möglichkeiten. Andererseits haben wir festgestellt, dass die Systeme beim genaueren Hinschauen den Erwartungen schon sehr hinterherhinken. Zuletzt hat eine große Studie des BBC gezeigt, dass über die Sprachmodelle hinweg 45 % der Antworten mindestens einen groben Fehler enthalten.
Dem einher geht die Erkenntnis, dass viele der Probleme, die wir gerne von einer KI gelöst bekämen, nicht von einem Computer gelöst werden können. Entweder sind unsere Qualitätsanforderungen so hoch – zum Beispiel wollen wir nicht riskieren, dass ein KI-Beratungschatbot potenziell falsche Informationen an Ratsuchende weitergibt. Oder das Problem muss an ganz anderer Stelle gelöst werden, wobei eine neue Technologie auch nicht hilft. Verwaltungsabläufe etwa lassen sich nicht so einfach mit KI-Tools vereinfachen, da muss an den grundlegenden Arbeitsabläufen gearbeitet werden.
Worum geht es in dem Projekt „AI_dshilfe partizipativ“?
Simon Herchenbach: Das von der KKH geförderte Projekt untersucht partizipativ Chancen, Risiken und Einsatzmöglichkeiten von „Künstlicher Intelligenz“ im Kontext von Aidshilfe und Selbsthilfe, gemeinsam mit Vertreter*innen aus diesen Bereichen sowie der digitalen Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Nach einer Bedarfsanalyse mit Workshop, Online-Befragung und Interviews haben wir Expertisen zu KI im HIV-Kontext, zum Einsatz in der Onlineberatung und zu konkreten Einsatzszenarien in Auftrag gegeben. In der Veranstaltungsreihe „AI-Thursday“ hatten wir u. a. Prof. Nicola Döring zu Gast, die Auswirkungen von KI auf Sexualität aufzeigte. Dabei zeigte sie auch die Gefahren von sogenannten Deep-Fakes auf, also KI-generierten sexualisierten Bildern und Videos, die realen Personen zum Verwechseln ähnlich sehen können. Sogar KI-Chatbots können eine Beziehung simulieren und auch zum „Sexten“ einladen. Zukünftig werden uns auch KI-gestützte Sextoys und auch KI-gestützte Sexarbeit vermehrt beschäftigen, so Döring.
Warum ist es wichtig, dass wir uns als Aidshilfe damit auseinandersetzen?
Simon Herchenbach: Aus mehreren Gründen: Erstens müssen wir als Selbsthilfeorganisation zukunftsfähig bleiben. KI verändert, wie Menschen Informationen suchen und mit Organisationen interagieren – auch im Gesundheitssystem. Zweitens brauchen wir eine kompetente Zivilgesellschaft, die mitgestaltet statt nur zu akzeptieren, was Tech-Konzerne vorsetzen. Drittens arbeiten wir mit marginalisierten Zielgruppen. KI-Systeme können bestehende Diskriminierung verstärken, etwa wenn sie mit Bias trainiert sind oder sensible Themen inadäquat behandeln. Unter der zweiten Trump-Regierung sehen wir bereits, dass unsere Kernthemen aus KI-Systemen entfernt und durch konservative Positionen ersetzt werden.
Simon Herchenbach über KI in der AidshilfeIn der Beratung geht es um hochkomplexe Situationen, bei denen oft „das Nichtgesagte“ das Wichtigste ist. KI-Systeme können nur mit explizit Formuliertem arbeiten und diese empathische Arbeit nicht leisten. Hilfreich könnte KI bei der Informationssuche sein, damit Berater*innen schneller die richtigen Materialien finden.
Was ist eine zentrale inhaltliche Botschaft, die sich aus dem Projekt ergeben hat?
Simon Herchenbach: Beratung ist und bleibt menschliche Arbeit. Unsere Interviews zeigten: Wir haben kein Kapazitätsproblem. Berater*innen schätzen ihre Autonomie und nutzen ihre persönliche Erfahrung, die Arbeit ist sinnstiftend für sie. In der Beratung geht es um hochkomplexe Situationen, bei denen oft „das Nichtgesagte“ das Wichtigste ist. KI-Systeme können nur mit explizit Formuliertem arbeiten und diese emotionale, empathische Arbeit nicht leisten. Hilfreich könnte KI bei der Informationssuche sein, damit Berater*innen schneller die richtigen Materialien finden. Aber nicht für fertige Antworten, sondern nur als Verweis auf geprüfte Quellen.
Wie geht es weiter – welche Perspektiven habt ihr für die Zukunft?
Simon Herchenbach: Wir möchten den partizipativen Prozess fortsetzen. Es ist uns besonders wichtig, nicht für die Community zu entscheiden, sondern mit ihr. Wir sind im kontinuierlichen Austausch mit unserem Verband, mit anderen Patient*innenorganisationen (wie der BAG Selbsthilfe oder dem Paritätischen) und mit unserem Projektbeirat, der besetzt ist mit Vertreter*innen der digitalen Zivilgesellschaft, der Selbsthilfe, der Aidshilfen und der Wissenschaft.
Wir bemühen uns darum, dass es im nächsten Jahr weitergeht, denn das Thema ist zu wichtig, um es nach einem Jahr abzuschließen. Unser Ziel ist es, dass am Ende nicht nur die Deutsche Aidshilfe, sondern die gesamte HIV-Community und auch andere Selbsthilfeorganisationen von unseren Erkenntnissen profitieren können.
Mehr dazu unter aidshilfe.de/ki.
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