Erinnern und Gedenken

Die Grande Dame der Aidshilfe-Anfänge

Von Axel Schock
Porträtbild Micaela Riepe
Micaela Riepe (Foto: privat)

Sie war eine Frau der ersten Stunde. Als erste Referentin für Prostitution bei der Deutschen Aidshilfe setzte sich Micaela Riepe nicht nur für die Rechte von Sexarbeitenden ein, sie arbeitete auch an den Grundlagen der Prävention in anderen Feldern mit.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

Am 11. Juli 2023, zwei Tage vor ihrem 70. Geburtstag, ist Micaela Riepe in Berlin gestorben. Sie war eine Frau, die nicht nur die Geschäftsstelle der Deutschen Aidshilfe (DAH) mit ihrem Elan und ihren Ideen aufzumischen verstand, sondern auch durch ihre besondere Persönlichkeit im Gedächtnis bleiben wird.

Drei ehemalige Kollegen blicken zurück auf die Aufbaujahre der DAH und erinnern sich an die besondere Rolle, die Micaela Riepe als langjährige Referentin des Fachbereichs Prostitution in der Bundesgeschäftsstelle innehatte.

Helmut Ahrens war von 1986 bis 1990 DAH-Referent für Drogen und Justizvollzug, von 1990 bis1991 zudem Vorstand der DAH. Er ist Mitbegründer und Namensgeber des JES Bundesverbands sowie Mitinitiator von „Eve & Rave“, einem Verein der akzeptierenden Drogenarbeit im Bereich Party- und Technokultur.

Peter Stuhlmüller kam 1988 als Sachbearbeiter der Projektabrechnung zur Deutschen Aidshilfe. Bald danach arbeitete er im Projektmanagement und war lange Jahre Stellvertreter der Geschäftsführung. In dieser Zeit leitete er immer wieder für längere Zeiten die Bundesgeschäftsstelle. Von 2009 bis zu seinem Ruhestand 2023 war er als Geschäftsführer der DAH tätig.

Rainer Schilling gehörte 1983 zu den Gründungsmitgliedern der DAH und hat von 1987 bis 2008 maßgeblich die Prävention für Männer, die Sex mit Männern haben, geprägt, ab 1992 als Referent für „Schwule und Stricher“.

Helmut, du hast 1986 fast zeitgleich mit Micaela Riepe in der DAH-Geschäftsstelle angefangen. Wie hast du sie damals erlebt?

Helmut: Ich hatte zuvor in der Drogen- und Suchtberatung gearbeitet und habe meinen Job als DAH-Referent nur wenige Wochen vor Micaela angetreten. Wir teilten uns ein Büro. Sie hatte wie ich ihr Soziologiestudium mit Diplom abgeschlossen, hatte aber auch das, was man damals Betroffenenkompetenz nannte. Sie war für diesen Job also bestens qualifiziert. Sie erzählte mir, dass sie sechs Jahre als Prostituierte gearbeitet hatte, aber – wie sie betonte – nicht auf dem Straßenstrich. Genaueres hat sie nicht preisgegeben, aber deutlich gemacht, dass sie in einer Bar „der gehobeneren Klasse“ tätig war.

Mit der Forderung, Sexarbeit als Beruf zu verstehen, war sie ihrer Zeit weit voraus.

Das Prostitutionsreferat hatte es vorher noch nicht gegeben, sondern musste von ihr erst aufgebaut werden. Wie ist sie mit dieser Aufgabe zurechtgekommen?

Helmut: Ich erinnere mich, dass sie sich schwer damit tat, das erste DAH-Plakat zu entwickeln, das sich an Prostituierte richten sollte. Wir unterhielten uns darüber über den Schreibtisch hinweg und ich versuchte, ihr bei der Ideenfindung zu helfen. Ihr fiel einfach kein passender Slogan ein.

Abgesehen von Frauen, die sich durch Sexarbeit ihren Drogenkonsum finanzierten, waren Prostituierte ihrer Ansicht nach so gut wie gar nicht von HIV betroffen. Huren, sagte Micaela, nehmen doch ohnehin immer Kondome. Also schlug ich ihr vor: „Sie tun, was sie immer tun. Mit Kondom.“ Davon war Micaela so begeistert, dass sie es gleich in Auftrag gab. Den Bereich Beschaffungsprostitution hat sie dann mir übergeholfen und dem Drogenbereich zugeschoben.

Peter: Für Micaela gehörten Huren, wie damals die Selbstbezeichnung lautete, nicht zu den Hauptbetroffenengruppen, für sie wurde diesen Frauen die besondere Gefährdung nur zugeschrieben. Sie musste damals zwar eine Broschüre zu Ausstiegshilfen für Sexarbeiterinnen produzieren, aber eigentlich wollte sie sich viel mehr dafür einsetzen, Sexarbeit als Beruf zu verstehen. Mit dieser Forderung war sie damals der Zeit weit voraus. Micaela wird diese Forderung nicht selbst entwickelt haben, aber sie war ein wichtiges Sprachrohr. Der Kampf um die Anerkennung der Prostitution als Beruf ist ja bekanntermaßen weitergegangen und hat schließlich zum Erfolg geführt.

Später hatte sie auch in einem anderen Zusammenhang eine wegweisende Forderung aufgestellt, die damals innerhalb der DAH jedoch noch nicht mehrheitsfähig war: Drogen gebrauchende Prostituierte sollten substituiert werden, wenn sie das wollten. Denn nur so seien sie überhaupt in der Lage, sich zu professionalisieren und ihren Freiern auf Augenhöhe zu begegnen.

Rainer: Oder die Frauen wären durch eine Methadonbehandlung davon befreit, sich prostituieren zu müssen.

Helmut: Micaela hatte sich damals sehr schnell mit der Berliner Hureninitiative Hydra und anderen Gruppen kurzgeschlossen und sich zum Beispiel für die Fristenlösung bei der Abtreibung stark gemacht.

Sie konnte aus dem Stand heraus eine Seminarleitung übernehmen.

Schwule Männer gehörten in dieser frühen Phase der Aidskrise zu den sogenannten Hauptbetroffenengruppen, die Aidshilfen waren daher auch sehr stark von schwulen Männern dominiert. Umso überraschender war es da sicherlich, dass Micaela viel in der Öffentlichkeit stand.

Helmut: Micaela war eine kluge, redegewandte Frau und tolle Performerin. Selbst wenn sie nicht vorbereitet war, konnte sie aus dem Stegreif ihre Argumente und ihr Wissen formulieren, und die Leute durch die Art ihres Vortrags und durch ihre Persönlichkeit überzeugen.

Rainer: Und wenn nötig, konnte sie aus dem Stand heraus eine Seminarleitung übernehmen.

Peter: Sie war eine sehr attraktive Frau, und sie legte auf ihre Erscheinung auch sehr großen Wert.

Rainer: Sie war fast immer elegant in Schwarz-Weiß gekleidet.

Peter: Und sie hat sich gerne als Grande Dame gegeben. Kennengelernt habe ich sie bei einer DAH-Mitgliederversammlung in Würzburg. Ich war damals noch für die dortige Aidshilfe tätig. Es war eine sehr turbulente Veranstaltung, bei der auf offener Bühne heftige Vorstandskonflikte ausgetragen wurden. Doch während die anderen nacheinander ihre Redebeiträge hielten, hatte Micaela als Sprecherin für die Belegschaft einen großen Auftritt. Anders kann man das nicht nennen. Sie schaffte es, sofort Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und das beherrschte sie immer und überall. Wir verbrachten in den letzten Jahren gemeinsame Urlaube und auch da war es so. Es wundert nicht, dass sie gerne Schauspielerin geworden wäre.

Helmut: Wohl auch deshalb wurde sie gerne in Fernsehsendungen eingeladen, und sie hat sich dort immer gut geschlagen.

Peter: Für die Aidshilfe war sie ein Glücksfall. Sie hat die DAH damals maßgeblich in der Öffentlichkeit oder in politischen Zusammenhängen repräsentiert und blieb durchaus in Erinnerung.

Sie hat immer für die Veränderung der Verhältnisse gekämpft.

Wie hat sich Micaela damals in das Team eingefügt? Wofür hat sie gebrannt?

Peter: Ich war 1988 zur DAH gekommen und kann mich noch an diese ganzen Diskussionen erinnern, aus denen heraus dann unter anderem die strukturelle Prävention entstand. Wir mussten unsere Positionen ja erst einmal erarbeiten. Das ging dann teilweise auch hoch intellektuell her. Micaela aber hat überall mitgemischt. Sie war offiziell zwar für den Prostitutionsbereich in all seinen Ausprägungen zuständig, aber sie konnte in allen Bereichen – ob Drogen, Haft oder schwule Männer – wichtige Impulse in die Diskussionen einbringen.

Rainer: Und was man ihr hoch anrechnen muss: Sie hat in dieser Zeit, als wir über die richtige Form der Prävention debattierten, immer für die Veränderung der Verhältnisse gekämpft.

Helmut: Also keine Prävention ohne Emanzipation.

Rainer: Sie war der Ansicht, dass das Verhalten der Prostituierten lediglich bestärkt werden müsste, denn professionelle Huren verwendeten bei ihrer Arbeit üblicherweise eh das Kondom. Armuts- und Beschaffungsprostituierte hingegen müssten beschützt werden, auch durch die Freier. Das zweite Plakat, das Micaela 1988 entwickelte, richtete sich deshalb an die Freier. Es zeigt eine Prostituierte, verbunden mit dem Satz: „Ich bin mit Sicherheit zu haben. Mit Kondom.“

Peter: Es gab sicherlich auch vor Aids schon Hurenorganisationen, aber diese wurden nach meiner Erinnerung politisch kaum wahrgenommen. Die DAH hatte aufgrund der Finanzierung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die Ressourcen, um in diesem Feld beispielsweise die moderne Drogenpolitik entscheidend mitzugestalten.

Helmut: Dadurch wurde es etwa möglich, die verschiedenen Akteur*innen in der Drogenhilfe zu vernetzen. Und Micaela hat ihre Tätigkeit genutzt, um die Rechte von Sexarbeiterinnen voranzubringen. Die DAH hatte ihr damals eine Bühne geboten – und sie wusste sie bestens zu besetzen.

Peter: In der Hurenbewegung wurde damals wie heute sehr heftig über die verschiedenen Positionen zur Sexarbeit diskutiert. Micaela hatte immer wieder von den Auseinandersetzungen berichtet und hatte als DAH-Referentin einen markanten Einfluss auf diese Debatten und ihre Entwicklung. Jahrzehnte später können sich noch Menschen an Micaela erinnern, ihre Fachlichkeit und Energie und ihr Auftreten hinterließen Eindruck.

Helmut: Ich war damals im DAH-Vorstand und wir hatten uns bereits vor unserer Wahl vorgenommen, in unserer Amtszeit die Position der Frauen in der Aidshilfe zu stärken und dazu auch politische Bündnisse zu schließen. Denn strukturelle Prävention war ohne politische Partner gar nicht umzusetzen, da die Aidskrise ja über die besonders gefährdeten Gruppen hinaus weit in die Gesellschaft hineinwirkte.

Die tägliche Routine, die Verwaltung des Bestehenden war nicht ihre Sache.

Peter: Micaela wollte auf jeden Fall politisch arbeiten und die Verhältnisse im großen Ganzen verändern. Sie hatte allerdings kein Interesse, Frauenbeauftragte der DAH zu werden. Diese übergreifende Position stand damals im Raum.

Helmut: Zumal einige den Aufgabenbereich des neu zu schaffenden Frauenreferats als zu schwammig konzipiert fanden. Um wen sollte es eigentlich gehen? Um positive Frauen? Um Prostituierte? Um in den Aidshilfen tätige Frauen? Es fehlte damals an einer klaren Definition, und Micaela hat sich da lieber herausgezogen. Es wäre eine Chance für sie gewesen, die sie aber nicht wahrgenommen hat. Leider, muss man sagen. Es wäre sicherlich auch ein Gewinn für die DAH gewesen.

Helmut: Sie verstand sich selbst mehr als eine Frau des Aufbaus. Die tägliche Routine, die Verwaltung des Bestehenden war nicht ihre Sache.

Peter: (lacht) Das war und blieb definitiv so.

Rainer: Für Micaela war die DAH von Interesse, solange Aidshilfe sich als „Allianz der Schmuddelkinder“ verstand. Sie war zwar im Auftreten und in ihrem Stil eine durch und durch bürgerliche Frau; ihre politischen Wurzeln aber, das sollte man nicht vergessen, lagen in der kommunistischen Bewegung. In Dortmund, wo sie aufgewachsen war, hat sie in ihren jungen Jahren die „Rote Fahne“ an den Fabriktoren verteilt.

Helmut: Bürgerliche Frauen, die nicht direkt etwas mit HIV zu tun hatten, haben sie in ihrer politischen Arbeit in der DAH nicht wirklich interessiert. Das hat sie auch offen zugegeben.

Peter: Micaela verstand sich im Übrigen als radikale Feministin.

Welche Spuren hat Micaela hinterlassen?

Peter: Sie hat bei den Menschen, die sie kennenlernen durften, tiefen Eindruck hinterlassen. Das hat sich auch darin gezeigt, wie viele Anekdoten über Micaela nach Bekanntwerden ihres Todes ausgetauscht wurden. Sie war eine schillernde Person, zumindest öffentlich. Privat hatte sie auch ganz andere Seiten.

Sie hat mit ihrer Arbeit auf jeden Fall bleibende Grundlagen geschaffen. Nachdem sie die DAH 1992 verlassen hatte, wurde die Stelle „Frauen in besonderen Lebenslagen“ eingerichtet, wo weibliche Prostitution ein Schwerpunkt der Arbeit war.

Micaela war immer wichtig, den Freier nicht als Schwein und Feind anzusehen, sondern als Ansprechpartner.

Rainer: Ich habe von Micaela für meine Arbeit im Schwulenreferat, konkret für die Prävention bei Strichern, das Konzept übernommen, auch die Freier direkt anzusprechen und auf ihre Verantwortung für die Sexarbeiter hinzuweisen. Insbesondere wenn ein Armutsstricher aufgrund seiner sozialen Lage gezwungen ist, sich faktisch auf alles einzulassen.

Wichtig für Micaela war immer – anders in vielen Hurenorganisationen – den Freier nicht als Schwein und Feind anzusehen, sondern als Ansprechpartner. Also im Rahmen der Prävention nicht nur das Verhalten des Strichers, sondern auch das seines Kunden zu verändern.

Und was wird euch ganz persönlich fehlen, nun da Micaela gestorben ist?

Helmut: Ihre sehr besondere Lebendigkeit und Kreativität – im Geiste wie im situativen Handeln. Sie war ja auf eine wunderbare Weise unberechenbar und spontan.

Rainer: Mir fehlt sie als ein wichtiges Gegenüber. Wir standen über all die Jahre in engem Kontakt und haben uns über alles Mögliche ausgetauscht: über Politik, Kochrezepte oder Fernsehsendungen.

Sie war auf eine wunderbare Weise unberechenbar und spontan.

Peter: Der Kontakt zu ihr ist nach ihrem Ausscheiden aus der DAH erhalten geblieben. Ich kannte sie 35 Jahre. Gemeinsam mit Rainer hatten wir in den letzten Jahren Reisen unternommen.

Rainer: Wir sind unter anderem zusammen nach Rom, Sizilien und Andalusien gereist. Die Organisation hat immer Micaela übernommen. Da ließ sie sich nicht reinreden. Als Grande Dame, die sie nun einmal war, hat sie im Restaurant auch gerne für alle mitbestellt. Nächstes Jahr hätte es in die Toskana gehen sollen.

Peter: Sie fehlt mir ganz einfach als der Mensch, der sie war – mit all ihren liebenswerten Eigenheiten und Widersprüchen. Und ihre Auftritte, die durchaus auch mal für alle Beteiligten eine Herausforderung sein konnten. Rainer und ich werden nun ohne sie verreisen müssen, aber sie wird immer dabei sein. Sie befand sich – in ihren Worten – auf einer spirituellen Reise, die nach ihrem Verständnis sicher weiterging und mit ihrem irdischen Tod nicht zu Ende war. Für mich beziehungsweise uns bleiben viele Erinnerungen.

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