Radikal vertraut: Nan Goldin
Die Neue Nationalgalerie Berlin widmet der queeren Fotografin Nan Goldin die umfassende Retrospektive „This Will Not End Well”. In den Hamburger Deichtorhallen sind ihre Bilder derweil Teil einer Gruppenausstellung.
Ihr Status in der Kunstwelt und ihr Einfluss auf die fotografische Kunst der letzten Jahrzehnte ist unbestritten. Die Arbeiten der vielfach ausgezeichneten Nan Goldin hängen in den wichtigen Sammlungen der Welt und werden regelmäßig in großen Museen und Galerien gezeigt. Insofern könnte die Retrospektive „This Will Not End Well“ lediglich eine von vielen Werkschauen der mittlerweile 71-jährigen US-Fotografin sein. Doch diese vom Stockholmer Moderna Muset kuratierte Show ist besonders, nicht nur, weil sie mit annähernd 3.000 Aufnahmen aus fast einem halben Jahrhundert außergewöhnlich umfang- und facettenreich ist.
Begehbare Biopics
Wer den lichtdurchströmten Glasbau der Neuen Nationalgalerie Berlin betritt, den erwarten keine mit gerahmten Fotografien bestückten Stellwände, sondern zeltartige, von schwarzem, schallschluckendem Filz ummantelte Gebäude. In diesen eigens gestalteten kinoartigen Pavillons präsentiert Goldin ihre Fotos als multimediale Diashows und montiert sie zu Filmen aus Standbildern – kombiniert teilweise mit kurzen Videos, Audioaufnahmen und einem exakt miteinander verknüpften Soundtrack. Klaus Nomis „Cold Song“ folgt da auf Maria Callas mit „Casta Diva“ und die Blues-Legende Screamin‘ Jay Hawkins mit „I Put a Spell on You“. Diese Playlist ist jedoch nicht einfach nur die Trackliste von Goldins Alltime-Favorites. Die Songs kommentieren die Bilder, schaffen eine verbindende Atmosphäre und unterstreichen die Erzählung. Denn Goldin hat ihre Bildserien zu begehbaren, bewegten und bewegenden Biopics montiert.
Ihr wohl bekanntestes Werk, mit dem sie diese Form der Präsentation zu ihrem Markenzeichen machte, ist „The Ballad of Sexual Dependency“. Seit 1981 überarbeitet sie diese Diashow immer wieder neu. Es sind Aufnahmen aus Goldins engstem Lebensumfeld, die sie mit ihren Liebhaber*innen und Freund*innen, insbesondere aus der queeren Szene, zeigen. Wir sehen sie beim Feiern und Tanzen, verliebt, beim Sex, im Streit und im Drogenrausch. In Momenten der tiefsten Verbundenheit, aber auch der Verzweiflung, des Scheiterns und in psychischen Ausnahmesituationen. Und auch beim körperlichen Verfall und Sterben: als Folge des Drogenkonsums oder Aids.
42 Minuten dauert diese aktuelle Version der nach einem Brecht-Chanson benannten „Ballad of Sexual Dependency“, und es bleibt Nan Goldins bahnbrechendes Hauptwerk. Auch, weil die Fotografin sich nie über die Porträtierten erhebt, sie ausstellt oder mit voyeuristischem Blick objektiviert, sondern – im Gegenteil – die Betrachtenden in die Welt dieser Menschen mit hineinnimmt.
Dokumentaristin ihrer Wahlfamilie
Nan Goldin„Ich habe meine Liebsten fotografiert, Menschen, mit denen ich zusammenlebte … wir haben uns nie als Menschen am Rande der Gesellschaft gesehen.“
Nan Goldin geht es nie darum, den Marginalisierten dieser Gesellschaft Aufmerksamkeit zu verschaffen, mit ihren Bildern Verständnis oder gar Mitleid zu erwirken. Dieses Missverständnis räumte sie bei einem improvisierten Pressegespräch in der Neuen Nationalgalerie mit deutlichen Worten aus. „Ich habe meine Liebsten fotografiert, Menschen, mit denen ich zusammenlebte, die meine Wahlfamilie sind. Ich bin ein Teil von ihnen, und wir haben uns nie als Menschen am Rande der Gesellschaft gesehen.“
Der Zyklus „The Other Side“ – benannt nach einer legendären Schwulen- und Drag-Queen-Bar im Boston der 1970er Jahre – ist der Trans-Community gewidmet, der sie seit ihrer Jugend eng verbunden ist. Mit 18 Jahren fand Goldin in just jener Bar als Neuankömmling in Boston eine Wahlfamilie, wurde Teil ihrer Welt und von Beginn an auch ihre Dokumentaristin. Auch in ihren temporären Wohnorten Bangkok, Berlin, New York und auf den Philippinen findet sie Freund*innen in den jeweiligen Communitys. Sie porträtiert dort den Alltag von trans Frauen und Drag Queens zwischen Showbiz und Nachtleben, Sexarbeit und Überlebenskampf und zeigt deren Solidarität, Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsgefühl.
Persönliche Kämpfe
Mit drei erst in den letzten Jahren erarbeiteten Bildzyklen gibt Goldin sehr intime Einblicke in ihre Familiengeschichte bzw. ihre persönlichen Kämpfe der letzten Jahre: Da ist zum einen „Sisters, Saints and Sibyls“, die Hommage an ihre ältere Schwester Barbara, die sich 1965 im Alter von 18 Jahren das Leben nahm. Ein Trauma, das Nan Goldin bis heute verfolgt. Barbara wollte sich den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen nicht beugen. Sie pflegt Umgang mit vermeintlich falschen Personen (z. B. mit Schwarzen), will sich die Beine nicht rasieren, hat lesbische Sehnsüchte, gilt als störrisch und Querkopf – und deshalb als krank. Mehrfach wird sie gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik gesperrt. Zwei Jahre nach dem Tod ihrer Schwester verlässt Nan Goldin ihr Elternhaus. Sie ahnt, dass sie ein ähnliches Schicksal ereilen könnte.
„Ich war 14, als ich von zuhause wegging und meine eigene Familie fand“, erzählt Goldin aus dem Off. „Drogen haben mich befreit, später wurden sie zu meinem Gefängnis.“
Nan Goldin war es jedoch gelungen, ihre Heroinsucht zu überwinden – bis ihr nach einer Operation das Schmerzmittel Oxycontin verschrieben und sie dadurch rückfällig wurde. Der Hersteller hatte die Suchtgefahr bewusst verschleiert, das Medikament massenhaft in den Markt gedrückt. Der Kinofilm „All the Beauty and the Bloodshed“ dokumentiert beeindruckend Nan Goldins aufklärerischen Aktivismus zur Opioidkrise, die durch Oxycontin in den USA ausgelöst wurde. In der Bildreihe „Memory Lost“ reflektiert Goldin ihre Zeit des Rückfalls, des neuerlichen Drogenkonsums, die durch die Sucht veränderte Weltwahrnehmung und ihren Aufenthalt in einer Entzugsklinik.
Intimität, Intensität und größte Empathie
Gute drei Stunden müssen sich Besucher*innen mindestens Zeit nehmen, wenn sie die Zeitreise durch Goldins Biografie in Gänze erleben wollen. Es ist ein zutiefst immersives Erlebnis. Wer sich darauf einlässt, wird nicht unberührt bleiben und es gilt manches auszuhalten. „Diese Ausstellung behandelt Themen wie Nacktheit, Sexualität, Suizid, häusliche Gewalt und Drogenkonsum“, warnt die Neue Nationalgalerie auf ihrer Webseite und trifft damit doch nur bedingt, was diese Fotografien, zumal in dieser Form der Präsentation, auszeichnet. Sie zeigen Schmerz, Trauer und Trost, Rausch und Sucht, Familie und Freundschaft, und das alles mit großer Intimität und Intensität. Und zwar in einer Offenheit, bei der den Betrachtenden schwerfällt, sich über die porträtierten Menschen zu erheben oder sich innerlich zu distanzieren. Das macht Goldins Arbeiten zu einem Werk größter Empathie.
Eine wunderbare Ergänzung zur Berliner Ausstellung, die ab Oktober in Mailand und 2026 dann in Paris zu sehen sein wird, präsentieren die Deichtorhallen Hamburg. Unter dem Titel „High Noon“ sind dort noch bis 4. Mai rund 150 Arbeiten aus der Sammlung F. C. Gundlach zu sehen. Bilder von Nan Goldin stehen hier im direkten Kontext mit Arbeiten der mit ihr befreundeten Fotografen David Armstrong, Mark Morrisroe und Philip-Lorca diCorcia. Was sie verbindet, sind ihr autobiografischer Ansatz, ihre unverstellten Einblicke in die New Yorker Subkulturen und intime Momentaufnahmen des eigenen Lebens bzw. ihrer zumeist queeren Freund*innen und der Auseinandersetzung mit Sucht, Gewalt, Einsamkeit und Krankheit.
Nan Goldin „This Will Not End Well”, Neue Nationalgalerie Berlin, bis 6. April.
„High Noon“, Deichtorhallen Hamburg, bis 4. Mai.
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