Laut und deutlich zu vernehmen

Von Holger Wicht
 
Das Erkennungszeichen: Mann mit Megaphon
Das Erkennungszeichen: Mann mit Megaphon

Beim Audioprojekt „Stimmen in der Stadt“ kommen Aidskranke zu Wort – auf den Straßen von Berlin

Professor Martin Dannecker ist begeistert:  „Dies ist ein unglaublich tolles Projekt!“, ruft er den Gästen der Eröffnungsveranstaltung von „Stimmen in der Stadt“ kurz vor Schluss von der Bühne aus zu. Dann gibt der Sexualwissenschaftler und Vorkämpfer der Schwulenbewegung den Gästen und Medienvertretern einen Satz mit auf den Weg: „Es gibt ja nie ein Lob dafür, dass man den Tag überlebt.“ Darüber, sagt Dannecker, könne man sehr lange nachdenken.

Der Satz stammt von Gerd. Er ist einer der aidskranken Menschen, deren Stimmen zu hören sind. Seit gestern lässt das Audioprojekt zum Welt-Aids-Tag sie in aller Öffentlichkeit zu Wort kommen: An 15 Orten auf Berlins Straßen sind Lautsprecherstationen installiert. Das Symbol der Aktion – ein Mann mit Megaphon in einem roten Kreis – weist den Weg. Schon im Vorbeigehen hören Passanten wie aus der Ferne die Stimmen. Ein großer Kreis mit dem Logo auf dem Gehweg markiert den Bereich, in dem sie laut und deutlich zu vernehmen sind. Sie erklingen aus vier Metern Höhe, wie aus dem Nichts.

Es sind Geschichten, die sonst verborgen bleiben würden

Da erzählt dann mitten in der Stadt Anneliese, wie sie durch eine Vergewaltigung mit HIV infiziert wurde, vom Test im Gesundheitsamt und dass danach an Sex in ihrer Ehe erst mal nicht mehr zu denken war. Paul, mittlerweile verstorben, berichtet von den Folgeerkrankungen seiner HIV-Infektion und davon, wie er 17 Jahre einsam in seiner Wohnung lebte, bevor er im Wohnprojekt ZiK ein neues Zuhause fand. Eva hat sich wahrscheinlich als Drogenkonsumentin infiziert. Sie schildert, wie ihre Mutter früher die von ihr benutzte Tasse mit Essig abwusch, und welche Schwierigkeiten sie als HIV-positive Mutter durchzustehen hatte.

Insgesamt kommen sechs Menschen zu Wort. Ihre Berichte sind jeweils zehn Minuten lang und laufen an den Audiostationen bis zum 8. Dezember in Endlosschleifen – 24 Stunden am Tag.

Es sind Lebensgeschichten, die sonst verborgen bleiben würden. Geschichten, die nicht erzählt und nicht gehört worden wären ohne dieses Projekt. Geschichten, die sonst auch überdeckt werden von den neuen, optimistischen Nachrichten über das Leben mit HIV, die mehr und mehr in den Vordergrund treten, seit es Therapien gibt. „Aidskranke Menschen sind nicht mehr Gegenstand der medialen Aufmerksamkeit. Sie überleben länger – und sterben leiser“, schreiben dazu die Organisatoren von „Stimmen in der Stadt“ auf der Website des Projekts.

Der Hintergrund: Bei allem Fortschritt in der HIV-Behandlung ist Aids noch lange nicht verschwunden. HIV-Positive, die bereits in den 90er Jahren mit einer Therapie begonnen haben, profitieren heute oft weniger von den antiretroviralen Medikamenten als diejenigen, die sich erst kürzlich infiziert haben. In diesem Jahr sind rund 760 Menschen in Deutschland an Aids erkrankt, 550 starben an den Folgen der Infektion.

Auf der Krankenreise entstanden die ersten Interviews

Auf der „Krankenreise“ der Berliner Aids-Hilfe können jedes Jahr Menschen mit Aids neue Kraft schöpfen. Dort entstanden schon vor Jahren mit den Teilnehmern Interviews, die zunächst nur für die Sponsoren der Reise gedacht waren. Der Arzt Christoph Weber vom Berliner Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK), der die Reise regelmäßig begleitet, machte daraus gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Martin Kostezer das „Stimmen in der Stadt“-Projekt.

Getragen wird „Stimmen in der Stadt“ von der AVK Sozialprojekte GmbH, finanziert unter anderem von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie. Auch die Deutsche AIDS-Hilfe unterstützt das Projekt. Die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) ließ sich nicht zweimal bitten, die Schirmherrschaft  zu übernehmen: „Ich fand die Idee toll“, sagte sie bei der Eröffnung im Berliner Axel-Hotel an der Seite von Professor Martin Dannecker. „,Stimmen in der Stadt‘ ist etwas, das man nicht jeden Tag hat. Besser als Plakate!“

Minutenlange Danksagungen auf der Eröffnungsveranstaltung, moderiert von der Fernsehmoderatorin Annabelle Mandeng, zeigten: Das Projekt fand in der Berliner Community noch viele weitere begeisterte Unterstützer. So konnte nicht zuletzt eine sehr professionelle Homepage umgesetzt werden. Darauf sind neben vielen Bildern natürlich auch alle Interviews abrufbar, die in diesen Tagen in Berlins Straßen zu hören sind.

(Holger Wicht)

Weitere Informationen, die Interviews und die Standorte der Audiostationen:

www.stimmen-in-der-stadt.de

1 Kommentare

termabox 30. November 2010 12:18

Wo gibt es eine Stelle/Organisation/Projekt, in dem diese Geschichten und Lebensgeschichten von Menschen mit HIV und AIDS dokumentiert und archiviert werden?

Es stimmt, dass diese Geschichten nicht erzählt und gehört worden wären ohne dieses Projekt – aber was ist, wenn dieses zeitlich begrenzte Projekt endet? Dann ist wieder Stille, dann verschwinden sie wieder…

Wir brauchen bald ein „Haus der Geschichte der Selbsthilfe bei HIV und AIDS“.

JETZT ist die Zeit, diese Geschichten und Erfahrungen von Zeitzeugen zusammenzutragen – gerade in dieser Zeit, wo eine vormals tödliche Erkrankung sich zu einer chronischen Erkrankung wandelt!

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