„Man kann viel erreichen, wenn der politische Wille dafür da ist“

Von Christine Höpfner
 

 

DAH-Mitarbeiter Sergiu Grimalschi präsentierte in Kiew das deutsche Modell. Foto: DAH
DAH-Mitarbeiter Sergiu Grimalschi präsentierte in Kiew das deutsche Modell. Foto: DAH

In Osteuropa und Zentralasien steigt die Zahl der HIV-Neuinfektionen. Gleichzeitig werden die Präventionsprogramme zurückgefahren. Damit werden die bisher erreichten Erfolge aufs Spiel gesetzt. Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft von rund 30 Ländern haben sich vom 16. bis 18. März in Kiew getroffen, um die Defizite in Prävention, Behandlung, Pflege und Betreuung zu diskutieren und die Hauptziele künftiger Aktionen herauszuarbeiten. Zur Situation in den beiden Regionen befragte Christine Höpfner DAH-Mitarbeiter Sergiu Grimalschi, der in Kiew die Deutsche AIDS-Hilfe vertrat.

 

Sergiu, was ist das Besondere an der HIV-Situation in Osteuropa und Zentralasien?

Die HIV-Epidemie weist dort das größte Wachstum weltweit auf. Zum Vergleich: in Deutschland hat man 2010 rund 3.000, in Frankreich 5.000 und in Großbritannien 6.700 neue HIV-Infektionen diagnostiziert, in Russland dagegen 56.000 und in der Ukraine fast 20.000. Derzeit leben in diesen Regionen insgesamt 2,2 Millionen Menschen mit HIV – das sind mehr als doppelt so viele als im Jahr 2000.

In den letzten Jahren hat man dort die Präventionsbemühungen aber doch verstärkt.

Man kann zumindest sagen, dass die Präventionsarbeit inzwischen stärker auf die besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen konzentriert ist als noch vor zwei, drei Jahren. Heute gibt es deutlich mehr spezifische Maßnahmen für Drogengebraucher, Männer, die Sex mit Männern haben, oder Sexarbeiterinnen, und dieser Ansatz ist auch selbstverständlicher geworden. Das heißt aber keinesfalls, dass die Bemühungen hier ausreichen: Sehr viele Menschen mit hohem Infektionsrisiko sind ungetestet, und sehr viele – man sprach in Kiew von einem Drittel der Infizierten! – erfahren erst dann von ihrer Infektion, wenn sie schon daran erkrankt sind.

Es mangelt an Programmen zur Förderung des Risikobewusstseins

Ein weiteres Problem ist, dass noch kein Land Osteuropas und Mittelasiens von einer generalisierten Epidemie sprechen will, obwohl die Epidemie in etlichen Regionen die Allgemeinbevölkerung längst erreicht hat. Klar ist: es mangelt an Programmen zur Förderung des Risikobewusstseins und Schutzverhaltens, die sich an alle, besonders aber an Jugendliche und junge Erwachsene richten. Und dieser Mangel spiegelt sich in der Zunahme sexueller HIV-Übertragungen wider.

Was hat man in Kiew über die Situation der HIV-Behandlung berichtet?

Auch in Kiew wurde wieder deutlich, dass der Zugang zur antiretroviralen Therapie in fast allen Ländern dieser Region nach wie vor begrenzt ist. Entsprechend niedrig sind die Raten der HIV-Positiven, die eine ART erhalten. Beklagt wurden ebenso die geringe Therapietreue und die hohe Rate der Therapieabbrüche. Einer der Gründe ist, dass die Patienten, wenn Nebenwirkungen auftreten, nicht ausreichend betreut werden. Über die ART wird ohnehin zu wenig informiert. Zum Beispiel wurde aus der Ukraine berichtet, dass 9 Prozent der Drogengebraucher noch nie etwas von der ART gehört haben. Oft werden auch die Nebenwirkungen dramatisiert. Das macht Angst und fördert die Haltung „lieber erst gar keine ART anfangen“.

Thema war natürlich auch, dass die Versorgung mit HIV-Medikamenten in mehreren Ländern – vor allem in Russland, Lettland und der Ukraine – weiterhin unregelmäßig ist. Oder dass sie sich, wo sie schon mal besser war, wie etwa in Rumänien, wieder verschlechtert hat. Dort kommt es dann zu unfreiwilligen Therapie-Unterbrechungen – mit gravierenden Folgen für die Betroffenen. Besser, so hieß es, sei die HIV-Behandlung in den Gefängnissen, weil sie dort vom Global Fonds finanziert und von den Justizministerien koordiniert werde.

Welche Gründe wurden in Kiew für die Defizite in Prävention und Behandlung genannt?

Die Vergabe staatlicher Gelder erfolgt nach politischem Kalkül

Sehr viele. Und die Gründe variieren ja auch von Land zu Land. Ich kann hier daher nur einige nennen. Zum Beispiel, dass die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Einrichtungen und den Nichtregierungsorganisationen in der Regel eher schlecht ist und man sich gegenseitig misstraut. Mancherorts gibt es auch zwischen NGOs und dem Medizinbereich mehr Konkurrenz als Kooperation – schon allein deshalb, weil die aus dem Global Fonds bezahlten NGO-Mitarbeiter teilweise deutlich mehr verdienen als die Ärzte und anderes medizinisches Personal. Ein großes Problem ist auch, dass die Vergabe staatlicher Gelder nach politischem Kalkül statt nach den Kriterien von Effektivität und Effizienz erfolgt. Darunter leidet dann die Qualität der Leistungen in der Prävention wie in der medizinischen Versorgung.

Großen Schaden hat sicherlich auch der Verdacht auf Korruption beim Kauf von HIV-Medikamenten verursacht.

Auf jeden Fall, und darüber hat man natürlich auch in Kiew gesprochen. Auf die Unregelmäßigkeiten im Umgang mit Geldern aus dem Global Fonds haben die internationalen Geldgeber mit teilweisem oder völligem Rückzug aus der Finanzierung von HIV-Programmen in den betreffenden Ländern reagiert. Der Global Fonds wiederum hat seine Anti-Korruptionsmaßnahmen verschärft. In ein paar Jahren, so hieß es in Kiew, wird es in der HIV-Arbeit Osteuropas und Mittelasiens eine Finanzierungslücke von 800 Millionen Dollar geben.

In Kiew wird es aber doch nicht nur schlechte, sondern auch ein paar gute Nachrichten gegeben haben.

Klar, die hat es auch gegeben. Sehr positiv hat sich z. B. die Situation bei Mutter-Kind-Übertragungen entwickelt. In den meisten Ländern stehen die Chancen gut, dass die Raten bis 2015 auf Null gesenkt werden können: Die Mütter werden auf HIV getestet, sie haben Zugang zu ärztlicher Betreuung und Geburtshilfe, HIV-positive Schwangere erhalten antiretrovirale Medikamente. Hier hat sich gezeigt, wie viel man erreichen kann, wenn der politische Wille dafür da ist. Erfreulich ist auch, dass sich immer mehr NGOs in der HIV-Prävention engagieren, dass die Professionalität der NGOs wächst und sie stärker in nationalen Gremien vertreten sind. Beispiel Ukraine: Dort führt die  Zivilgesellschaft die Regie in der HIV-Prävention, und die staatlichen Stellen arbeiten nach Möglichkeit zu.

Sergiu, was war deine Aufgabe in Kiew?

Der Staat muss mehr Verantwortung übernehmen

Ich habe in Arbeitsgruppe „Zukunftsmodelle der Zivilgesellschaft“ das deutsche Modell präsentiert, also die gelungene Zusammenarbeit zwischen Staat und Nichtregierungsorganisationen. Die Teilnehmer haben das Modell dann ausführlich diskutiert und kamen zu dem Schluss, dass in den Ländern Osteuropas und Zentralasiens der Staat verstärkt Verantwortung in allen Bereichen der HIV- und Aids-Prävention übernehmen muss. Dazu kam ein gutes Beispiel: Bei einer Unterbrechung der Gasversorgung tritt ganz selbstverständlich der Staat in Verantwortung. Warum tut er das nicht auch, wenn die HIV-Prävention ihre Adressaten nicht erreicht und die Versorgung mit HIV-Medikamenten stockt? Dass der Staat mehr Verantwortung tragen muss, stand schließlich auch ganz oben auf der Liste der Empfehlungen, die aus allen Arbeitsgruppen zusammengetragen wurden.

Was passiert jetzt mit den Ergebnissen des Treffens?

Das Ziel des Treffens war einerseits, Empfehlungen für die UNGASS-Konferenz im Juni 2011 in New York zu formulieren. Und das ist geschehen. 2010 sollten ja die Ziele erreicht sein, auf die sich die Mitgliedstaaten 2001 und 2006 in Sachen „Zugang für alle zu Prävention, Behandlung, Pflege und Unterstützung“ geeinigt hatten. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen muss jetzt prüfen, inwieweit es hier Fortschritte gegeben hat und wo es hakt, und dann eine entsprechende Verpflichtungserklärung für die kommenden Jahre formulieren. Zum anderen wollten wir in Kiew Impulse setzen für eine bessere Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen allen Akteuren in der HIV- und Aids-Prävention, also den Regierungen, den Positiven-Netzwerken, der Zivilgesellschaft und anderen. Ich denke, dass uns auch das gelungen ist.

Herzlichen Dank, Sergiu!

 

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