#PositivArbeiten

Fliegen mit HIV: „Sichtbarkeit ist einfach wichtig“

Von Axel Schock
Gruppenbild auf dem Dach der Lufthansa-Zentrale
Auf dem Dach der Lufthansa-Zentrale in Köln: Sven Dierssen (ganz links) und Kolleg*innen sowie DAH-Vorstandsmitglied Winfried Holz (3. von rechts) auf dem Pride-Empfang 2025 des LGBTI-Netzwerks der Lufthansa Group „Diversifly“, auf dem das Unternehmen die Deklaration #PositivArbeiten unterzeichnet hat. (Foto: Diversifly)

Mit der Unterzeichnung der Deklaration #PositivArbeiten hat sich die Lufthansa Group zu einem diskriminierungsfreien Umgang mit HIV-positiven Menschen im Arbeitsleben verpflichtet. Angestoßen wurde dieser Schritt maßgeblich vom Lufthansa-Piloten Sven Dierssen. Im Interview erzählt er, wie viel innerhalb weniger Jahre für Menschen mit HIV in dem Unternehmen bewegt werden konnte.

Sven, du hast in recht kurzer Zeit sehr viel ins Rollen gebracht, was die Situation von Pilot*innen mit HIV angeht. Die Unterzeichnung der Deklaration #PositivArbeiten ist dabei letztlich nur ein Baustein. Was hat dich ursprünglich bewogen, aktiv zu werden?

Als ich im Frühjahr 2018 meine HIV-Diagnose erhielt, mangelte es nicht nur an Role Models, mir fehlten schlicht auch Informationen. Ich wusste aber, dass HIV zu einer langen Liste von Diagnosen gehört, bei denen man nicht mehr als Pilot arbeiten darf. Zumindest so lange nicht, bis ein Fliegerarzt die Flugtauglichkeit erneut bescheinigt. Bei schwerwiegenden Diagnosen – dazu gehören Herzerkrankungen, Epilepsie, Schlaganfälle und auch HIV – muss sogar das Luftfahrtbundesamt, die oberste Aufsichtsbehörde, begutachten und entscheiden.

Ich wusste, dass HIV zu einer langen Liste von Diagnosen gehört, bei denen man nicht mehr als Pilot arbeiten darf.

Die Diagnose bedeutete also faktisch, dass du womöglich deinen Beruf nicht mehr ausüben kannst. Wie ist es dir damit ergangen?

Ich habe mich erst einmal krankgemeldet und drei Tage lang wie paralysiert zu Hause gesessen. Ich hatte überlegt, meinen zuständigen Fliegerarzt anzurufen und um Rat zu fragen. Letztlich habe ich dann erst einmal anonym einen anderen Fliegerarzt kontaktiert, der mir empfahl, mich auf keinen Fall ohne Rücksprache wieder ins Cockpit zu setzen. Ich habe dann versucht, über die Deutsche Aidshilfe und die großen Aidshilfen unter anderem in Köln und Frankfurt herauszubekommen, ob es Erfahrungen gibt, wie fliegendes Personal mit ihrer Diagnose umgeht. Und was die Diagnose etwa für meine Ein- und Ausreise im Rahmen von Langstreckenflügen oder das Mitbringen der Medikamente bedeutet. Ich hatte allerdings überall nur Schulterzucken erlebt. Selbst bei der Schwerbehindertenvertretung von Lufthansa konnte man mir meine pilotenspezifischen Fragen nicht beantworten.

Ich habe Fragen gestellt, Menschen angesprochen und versucht, ein Netzwerk aufzubauen.

Du warst bis dahin der einzige Pilot mit HIV?

Ganz sicher nicht, dessen war ich mir sicher. Letztlich habe ich dann durch Zufall über meine Teilnahme an den „Positiven Begegnungen“ 2022 [Europas größter Konferenz zum Leben mit HIV, Anm. d. Red.] einen anderen HIV-positiven Piloten kennengelernt. Auch wenn es nur eine Handvoll Menschen gibt, die in Zukunft die gleichen Fragen, Ängste und Unsicherheiten haben wie er und ich: Ich wollte, dass sie künftig wissen, an wen sie sich wenden können – sei es bei Aidshilfen oder bei der Lufthansa –, um solche Informationen zu erhalten. So ist das Ganze dann ins Rollen gekommen: Ich habe Fragen gestellt, Menschen angesprochen und versucht, ein Netzwerk aufzubauen.

War es schwer, gegenüber deinem Arbeitgeber und deinen Kolleg* innen offen mit der Diagnose umzugehen?

Bis zu diesem Punkt habe ich einige Jahre gebraucht. Befreundete Kollegen, denen ich von der Diagnose erzählte, hatten mir geraten, bloß nicht am Arbeitsplatz darüber zu sprechen. Auch, um meine Beförderung zum Kapitän nicht zu gefährden. Ich habe dann aber gemerkt, dass ich Kontakt und Austausch mit anderen Positiven brauche. So kam ich zur Selbsthilfe, zu den „Positiven Begegnungen“ und dann zu meiner Initiative, innerhalb des Unternehmens etwas zu bewegen und zu verändern. Das ging dann schneller als gedacht.

Befreundete Kollegen, denen ich von der Diagnose erzählte, hatten mir geraten, bloß nicht am Arbeitsplatz darüber zu sprechen.

Wie war denn die Situation für Menschen mit HIV damals bei der Lufthansa?

Bis 2023 wurden Cockpit-Bewerber*innen generell auf HIV getestet. Wir hatten das im Diversity-Netzwerk zum Thema gemacht und innerhalb eines Dreivierteljahres waren diese verpflichtenden Tests vom Tisch. Dieser Erfolg wäre eine tolle und vor allem für HIV-positive Menschen sehr ermutigende Nachricht gewesen, aber man scheute sich damals, eine Pressemittelung dazu herauszugeben oder die Änderung in sonstiger Weise schriftlich festzuhalten. So kam es dann zu einer firmeninternen Mitteilung anlässlich des Welt-Aids-Tages. Und weil es dazu auch ein Gesicht brauchte, habe ich mich auf diesem Wege öffentlich gemacht. Sehr wohl war mir anfänglich nicht dabei. Ich dachte aber, dass es notwendig ist, um dem Mangel an Aufklärung und Vernetzung etwas entgegenzusetzen. Und anderen Mut zu machen, sich ebenfalls zu öffnen.

Dein privates Umfeld wusste da bereits von deiner Infektion?

Teilweise. Meinen Eltern beispielsweise habe ich erst im Zuge dieses Artikels davon erzählt. Ich musste ja annehmen, dass diese Veröffentlichung Kreise zieht und ich wollte nicht, dass sie es über andere erfahren.

Es war das schwerste Gespräch, das ich je mit ihnen geführt habe. Ich hatte große Angst vor der Situation und mehrere Anläufe gebraucht. Aber anschließend war ich so froh, dass die Menschen, vor deren Urteil oder Zurückweisung ich am meisten Angst hatte, ok damit sind.

Mein Vorgesetzter hat mir Mut gemacht und vollen Support zugesichert.

Wie waren die Reaktionen bei deinen Kolleg*innen – seien es die Vorgesetzten oder die wechselnden Crews an Bord?

Meinen direkten Vorgesetzten hatte ich schon vorher eingeweiht. Der fand es schade, dass ich ihn nicht noch früher ins Vertrauen gezogen habe. Er war mit der Problematik „HIV im Cockpit“ durch einen weiteren Kollegen bereits gut vertraut. Er hat mir Mut gemacht und mir im fliegerischen Kontext vollen Support zugesichert. Ich fand das cool und das hat mich dann auch in meiner Initiative bestärkt.

Bei anderen Kolleg*innen hingegen habe ich teilweise eine große Unsicherheit wahrgenommen, mich darauf anzusprechen. Ich erlebe andererseits immer wieder, dass Menschen direkt auf mich zukommen, mich zu diesem Schritt beglückwünschen und dann ihrerseits mit einer ganz anderen Offenheit von sich erzählen. Auch Kollegen, die sich mir gegenüber dann als HIV-positiv geoutet haben, dies aber sonst niemandem erzählen würden. Andere wiederum haben sich durch den Artikel ermutigt gefühlt, selbst offener mit ihrer HIV-Infektion umzugehen. Zugleich habe ich auch gerade unter schwulen Kollegen Berührungsängste wahrgenommen und musste feststellen, wie groß das Unwissen über die HIV-Therapie und n=n selbst bei PrEP-Usern ist [„n=n“ steht für „nicht nachweisbar = nicht übertragbar“: wenn sich dank der HIV-Medikamente keine Viren im Blut mehr finden lassen, ist HIV nicht mehr übertragbar – Anm. d. Red.]

Dein positives Coming-out als Lufthansa-Pilot hatte ja auch ganz konkrete Folgen. Die Abschaffung des HIV-Tests im Bewerbungsverfahren hast du schon genannt. Dass Lufthansa nun die Deklaration #PositivArbeiten unterzeichnet hat, geht letztlich auch auf deine Anregung zurück.

Für die betroffenen Mitarbeitenden ist dies sicherlich ein wichtiges Zeichen und bedeutsames Statement, das nicht ohne Wirkung bleiben wird. Sichtbarkeit ist einfach wichtig. Zu wissen, ich bin nicht allein damit und es ist okay, wie ich bin. Gerade auch für Leute, die sich vielleicht nie outen werden.

Und auch zu wissen, dass ich aufgrund meiner Infektion keinen Nachteil durch einen Arbeitgeber befürchten muss.

Richtig, das ist ebenfalls ein sehr wichtiger Aspekt. Abzuwarten bleibt jedoch, wie ernst Lufthansa diese Selbstverpflichtung nimmt, ob sich das Unternehmen zum Beispiel proaktiv für Beschäftigte mit HIV engagiert.

Wie könnte ein solches Engagement aussehen?

Wir wissen inzwischen, dass es einen Beratungs- und Informationsbedarf bei HIV-positiven Lufthansa-Beschäftigten gibt. Was läge also näher, als beispielsweise mit dem Buddy-Projekt der DAH zu kooperieren? Also gezielt Lufthansa-Kolleg*innen als Buddy auszubilden, die künftig als Ansprechpersonen und Vertrauensleute innerhalb des Unternehmens dienen könnten.

Unterzeichnung der Arbeitgeber*innen-Deklaration #PositivArbeiten der Deutschen Aidshilfe. Sven Dierssen mit Kugelschreiber links. DAH-Vorstandmitglied Winfried Holz links am Stehtisch. (Foto: Diversifly)

Wie ist eigentlich die Situation bei anderen Fluggesellschaften?

Da gehen die Erfahrungen sehr auseinander. Teilweise sind sie jedoch ernüchternd. Bei manchen Unternehmen gibt es nicht einmal Diversity-Gruppen. Das Personal traut sich dann oft nicht, sich als schwul oder queer zu outen. Dort einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen, bedeutet faktisch, wieder versteckt zu leben. Das gilt insbesondere für Piloten – ein Beruf, der teilweise immer noch sehr durch ein konventionelles Männlichkeitsbild geprägt ist.

Weitaus problematischer ist es, den HIV-Status öffentlich zu machen. Denn in der Europäischen Union sind bis heute Menschen mit HIV generell von einer Karriere im Cockpit ausgeschlossen. Es ist die letzte generelle – und ungerechtfertigte – Berufsbarriere überhaupt, die es meines Wissens in Europa für Menschen mit HIV gibt.

Mit HIV eine Ausbildung zu beginnen ist also immer noch nicht möglich?

Richtig. Wenn die HIV-Infektion erst nach der Lizenzerteilung diagnostiziert wird, kann ich mein medizinisches Tauglichkeitszeugnis und damit den Pilotenschein grundsätzlich wiedererlangen – allerdings nur unter großen Auflagen. Die Pilotenausbildung aber bleibt mir mit HIV grundsätzlich verwehrt, da die nötige Tauglichkeitsklasse mit positivem HIV-Status aufgrund der genannten Auflagen zu Beginn der Ausbildung nicht attestiert werden kann.

Es gibt eine ganze Reihe solcher Diagnosen. HIV wurde 2011, basierend auf dem Forschungsstand der Jahrtausendwende, in diese Liste aufgenommen. Seitdem aber hat sich in der HIV-Behandlung bekanntlich ziemlich viel getan, die Regularien wurden allerdings nicht angepasst.

Der Berufsverband Vereinigung Cockpit e. V. hat deshalb im vergangenen Jahr die Abschaffung dieser überholten und diskriminierenden Vorschriften angeregt und das Positionspapier „Fliegen mit HIV“ veröffentlicht. Daran hast du ebenfalls mitgearbeitet.

Auf der Welt-Aids-Konferenz 2024 in München habe ich zusammen mit Cockpit-Kollegen für eine Studie zur medizinischen Tauglichkeit von Pilot*innen unter erfolgreicher antiretroviraler Therapie geworben. Unser Ziel ist, die Eingruppierung von HIV in den europäischen Regularien zur medizinischen Flugtauglichkeit von Berufspiloten an den aktuellen Stand der Wissenschaft anzugleichen.

Wie ist deine Einschätzung: Wann wird auch dieser entscheidende Schritt geschafft sein?

Das wird noch einige Jahre dauern. Es müssen erst einmal Forschungsgelder von der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) freigegeben und eine solche Studie in Auftrag geben werden. Auf Basis der Studienergebnisse könnte dann bei der Europäischen Kommission in Brüssel eine Änderung der bestehenden Regularien vorgeschlagen werden.

Ein positives Beispiel ist Großbritannien. Der Schotte James Bushe hat dort, unterstützt durch HIV-Organisationen, gegen den Ausschluss von der Pilotenausbildung geklagt – und zwar erfolgreich. Er hat damit 2020 die Gesetzgebung verändert und konnte sich dann auch mit HIV zum Berufspiloten ausbilden lassen. Das sollte endlich überall möglich sein.

Weitere Infos:

Zur Arbeitgeber*innen-Deklaration #PositivArbeiten der Deutschen Aidshilfe: www.aidshilfe.de/positivarbeiten

„Sichtbarkeit ist enorm wichtig“ – Lufthansa-Pilot Sven Dierssen auf der Welt-Aids-Konferenz 2024

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