Alles unter einem Dach
Im „Walk In Ruhr“-Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin – dem „WIR“ in Bochum – haben sich die richtigen Leute und Institutionen zusammengefunden. Wenn ich sie einzeln googele und auf ihren Seiten stöbere, dann häufen sich später in meinem Mailfach die Angebote der schönen Elena und Tatjana, und die „Diskret-Apotheke“ will mir helfen, die Leidenschaft für die Partnerin zu entflammen. Da bleibe ich doch lieber beim Sildenafil des Apothekers meines Vertrauens.
Die Hurenselbsthilfe Madonna, das LGBT-Beratungszentrum Rosa Strippe, pro familia und das Gesundheitsamt bieten außer an ihren Stammsitzen nun auch im WIR feste Beratungsstunden an. Die Immunologische Ambulanz des Katholischen Klinikums Bochum ist gleich ganz eingezogen, so wie die Aidshilfe, die das Team um Gesundheitsberater_innen erweitert, die Rat- oder Hilfesuchende an die Hand nehmen und zum passenden Angebot führen.
Hier geht es um Sex und sexuelle Gesundheit, möglichst um deren Erhaltung oder aber um die Wiederherstellung. Wie passt das mit Kirche zusammen?
Akzeptanz unterschiedlicher Lebenswelten
Rom ist weit, weiß der aufgeklärte Katholik und schreibt in sein kurz gefasstes Leitbild für seine Bochumer Kliniken, dass „jeder Mensch von Gott nach seinem Bild geschaffen und damit ein bevorzugter Ort der Gegenwart Gottes, von Gott gewollt, geliebt und angenommen“ sei. Die Würde des Menschen sei „oberste Richtschnur“ für das Handeln. Man stehe für Dialog und nutze Kommunikation „für ein lebendiges Miteinander“.
Der Aidshilfeverband des Landes sagt in seinem Leitbild ohne Bezug auf die himmlischen Mächte im Grunde nichts anderes. Im Kern geht es beiden um die Akzeptanz unterschiedlicher Lebenswelten.
Was bietet WIR? Im medizinischen Teil mit einem kleinen Labor und einem Raum für gynäkologische und proktologische Untersuchungen gibt es alles was eine HIV- und STI- Schwerpunktpraxis bieten sollte. Aber natürlich ist das Zentrum auch eine Anlaufstelle bei Fragen zum Thema Familienplanung, ebenso nimmt es an Forschungsprojekten teil.
Die Ambulanz ist an das St.-Josef-Hospital des Bochumer Klinikums angeschlossen. Sie geht über in einen Beratungsbereich mit unterschiedlichen Beratungs- und Besprechungsräumen, die z. B. mit „Madonna“, „Gesundheitsamt“ oder „Aidshilfe“ beschriftet sind. Die Flure sind wie die Räume nüchtern auf dem aktuellen Stand. Mehrere bequeme Sitzgruppen helfen den Besucher_innen, bei Kaffee oder Wasser Wartezeiten zu überbrücken. Es ist ein überschaubarer Betrieb mit drei ärztlichen Stellen, die bei Bedarf um eine Proktologin der Klinik oder eine in der Aidshilfe engagierte Gynäkologin ergänzt werden.
Das Konzept überzeugte
Für die Klinikseite steht Prof. Dr. Norbert Brockmeyer mit seinem Team, der im Nationalen Aids-Beirat und vielen anderen Gremien engagiert ist und informiert an der Seite der Betroffenen agiert. Als Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft kann er sich das Vertrauen auf die heile Familie nicht leisten, sondern muss vorurteilsfrei auch mit den dunklen Seiten der Sexualität umgehen.
Arne Kayser, der Geschäftsführer der Bochumer Aidshilfe, berichtet, wie es zum Zusammenschluss kam. So wurde das Patientenfrühstück in der HIV-Station des St.-Josef-Hospitals des Bochumer Klinikums schon immer von der Aidshilfe organisiert. Das Verhältnis zu den Ärzt_innen war vertrauensvoll. Da kam das Angebot gerade recht, das ehemalige Schwesternwohnheim umzubauen, Ambulanz und Beratungsstellen zusammenzulegen und in unmittelbarer räumlicher Nähe ein Café einzurichten.
Prof. Brockmeyer erwähnt, dass es innerhalb der Klinik Begehrlichkeiten gegeben habe, die Räume wirtschaftlicher zu verwerten, aber die Hausleitung sei von dem Konzept überzeugt gewesen. Hilfreich war auch die Unterstütung des Landes NRW, das die Moderation des Entstehungsprozesses finanzierte, die Haltung der Stadt Bochum sowie die Überzeugung des Bischofs, Kirche müsse sich den Schwächsten zuwenden und zum Beispiel die Hurenselbsthilfe einbeziehen.
Natürlich, merkt Herr Brockmeyer an, hat der Inhaber der Räume die Macht. Aber wie mit dieser Macht umzugehen ist, wurde in der Moderation zur Einrichtung des Zentrums geklärt. Wenn die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte wissenschaftliche Begleitung Änderungsbedarf zeigen sollte, kann in den regelmäßigen gemeinsamen Teamsitzungen nachjustiert werden. Bei der Bedeutung und Vielzahl der beteiligten Institutionen dürften auch bei einem Wechsel der handelnden Personen einseitige Änderungen schwierig werden.
Die Chemie muss stimmen
Auch aufseiten der Aidshilfe gab es Bedenken. Verliert sie nicht ihre Unschuld als unabhängiger Beistand der Patient_innen (wenn diese denn je bestanden hat)? An den Debatten im Verband über Test oder die Bedeutung der Viruslast lässt sich erkennen, dass gelegentlich die eigenen Ängste und nicht der Stand des Wissens Ratgeber waren. Die Zusammenarbeit wurde sicher dadurch erleichtert, berichtet Arne Kayser, dass es in der Stadt keine HIV-Schwerpunktpraxis gibt. Haben Menschen in der Aidshilfe unter diesen Bedingungen noch eine freie Arztwahl? Im ganzen Ruhrgebiet gibt es hinreichend viele Alternativen. Arne Kayser macht da keinen Unterschied, ob sich jemand in der Ambulanz oder wo auch immer behandeln lässt. Die Aidshilfe ist offen für alle von STIs oder HIV bedrohten oder betroffenen Menschen der Region.
Wichtig ist, dass die Chemie zwischen den Beteiligten stimmt und sie sich als verlässliche Partner erwiesen haben. Das öffnet den Raum sowohl für unkomplizierte Zusammenarbeit als auch für ein Beharren auf Eigenständigkeit und Differenz. Das ganze System beruht ja darauf, dass die Medizin die Fachkompetenz der Beratungsstellen so sehr schätzt, dass man zu ihr kurze Wege haben will.
In vielem ist man sich außerdem einig, zum Beispiel im Kampf gegen das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz, das jüngst gegen den Rat der Betroffenen, des öffentlichen Gesundheitsdienstes und der Fachverbände von der Bundesregierung beschlossen wurde, genauso aber auch bei der Bekämpfung von Homophobie und Xenophobie.
Der neue Weg der Bochumer Aidshilfe
Heftige Diskussionen über den neuen Weg der Bochumer_innen gab es allerdings im Aidshilfe-Landesverband. Das hat sich inzwischen gelegt, wohl auch deshalb, weil die Aidshilfe genauso aufmüpfig das Recht auf individuelle Lebensstile und Normbruch verteidigt wie immer schon. Statt Kritik kommen jetzt Einladungen, über das Bochumer Modell zu referieren.
Herr Brockmeyer berichtet, es zeige sich jetzt schon, dass das Konzept funktioniere, obwohl die Eröffnung erst ein paar Monate her ist. Die assoziierten Partner weiten ihre Beratungszeiten aus. Die bei der Aidshilfe ehrenamtlich engagierte Gynäkologin macht für nicht versicherte Frauen die notwendigen Untersuchungen, das Gesundheitsamt bietet mehr Zeiten für Tests an, das von Ehrenamtlichen der Aidshilfe betriebene Café Enjoy etabliert sich nicht nur als Anlaufstelle bei Tag, sondern steht auch an den Abenden unterschiedlichsten Gruppen zur Verfügung und wird für medizinische Informationsveranstaltungen genauso genutzt wie für regelmäßige Treffen von SMart Rhein-Ruhr, einem Verein für BDSM-Interessierte. Der war vor Jahren schon bei der Aidshilfe zu Gast, nur hatte die damalige Geschäftsführung wegen öffentlichen Drucks die Zusammenarbeit leider beendet.
Im Gegensatz dazu freut sich Arne Kayser darüber, dass die schwule und sexuelle Szene der Stadt den Ort für ihre Treffen entdeckt. Herr Brockmeyer ist sehr angetan davon, mit dem Café der Aidshilfe einen bequemen, geeigneten Veranstaltungsraum zu haben, in dem man nicht nur die Patient_innen über Medizinisches informieren, sondern auch die ärztlichen Kolleg_innen für STIs sensibilisieren kann. Viele kennen ja nicht einmal die gängigsten Symptome.
Eröffnungsfeier mit Gottesdienst
Auch Drogen werden in Veranstaltungen Thema sein, denn etwa 20 Prozent seiner schwulen Patienten, schätzt Prof. Brockmeyer, machen Chemsex. Da sollte man wenigstens wissen, ob und wenn ja, wie Rauschzustände zu stoppen sind und man sich in Notsituationen verhalten sollte. Intravenös Konsumierende dagegen erscheinen wegen der lokalen Besonderheiten der Beratungslandschaft hier nur, wenn es um einen stationären Aufenthalt geht.
Viel zu tun hat die Aidshilfe mit Frauen aus Subsahara-Afrika. Da mag die räumliche Nähe zur Kirche bei der Überzeugungsarbeit helfen, statt des Glaubens Medikamente gegen HIV einzusetzen. Man darf sich auch wünschen, dass Communities das Café für gemeinsame Feste nutzen, um die Vereinzelung zu durchbrechen. Das Zentrum möchte in die Stadt ausstrahlen und das Sprechen über Sexualität erleichtern. In der Tradition des Hauses war es richtig, die Eröffnung mit einem Gottesdienst zu feiern.
Zurück zum Alltag. Herrn Brockmeyer besorgt das Ansteigen der Syphiliszahlen. Sie haben nach einem Rückgang nach dem Auftreten von Aids in der Medienlandschaft zwar noch nicht wieder das alte Niveau erreicht, aber sie verteilen sich anders, vor allem auf positive schwule Männer, insbesondere in Berlin und Hamburg. Natürlich machen Erreger nicht an der Stadtgrenze halt, deshalb empfiehlt er sexuell umtriebigen Menschen mit mehreren Partnern oder Partnerinnen alle drei Monate einen Check. Regelmäßige Untersuchungen bei Menschen mit STI-Risiko sind wichtig, weil einige Geschlechtskrankheiten keine Symptome verursachen und daher von Personen übertragen werden können, die nicht wissen, dass sie infiziert sind. Das gilt auch für junge Frauen, bei denen Chlamydien die Fruchtbarkeit bedrohen können.
Aufklärung, Früherkennung und Behandlung
Da helfen nur Aufklärung, Früherkennung und Behandlung. Hier kommen die Aidshilfe, das Café Enjoy, die Rosa Strippe und die weiteren Beratungsstellen ins Spiel. Mainstream trifft auf professionalisierte oder ehrenamtlich engagierte Mitglieder von Randgruppen der Gesellschaft. Was haben sie voneinander gelernt?
Die Gesprächspartner betonen die Wichtigkeit der exzellenten Moderation während der Entstehungszeit des Gemeinschaftsprojekts. Da musste erst mal Vertrauen aufgebaut werden, sodass die Medizin nicht nur schluckt, was ihr die Arbeit erleichtert, sondern dass es ein gleichberechtigtes Miteinander unterschiedlicher Strukturen gibt, getragen von dem Wunsch, sexuelle Selbstbestimmung zu fördern und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken zu minimieren. Das Verständnis für die unterschiedlichen Lebensweisen und beruflichen Routinen ist dadurch gewachsen.
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