Schutz durch Therapie

Die Fakten hinter U=U: Warum ein vernachlässigbares Risiko kein Risiko ist

Von Gastbeitrag
Belege für U=U
Von Simon Collins, HIV i-Base*

Seit 2016 haben sich hunderte HIV-Organisationen, darunter die amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC), der Kampagne U=U angeschlossen. Sie unterstützen damit die Aussage, dass keine HIV-Übertragungen stattfinden, wenn die Viruslast durch eine antiretrovirale Therapie (ART) unter der Nachweisgrenze liegt.

Dass die ART das HIV-Übertragungsrisiko drastisch senkt, war schon lange bekannt. Die Aussage, dass die ART Übertragungen komplett stoppt, ist neu.

Diese neue Aussage ist umso wichtiger, als Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber HIV-positiven Menschen immer noch weit verbreitet sind.

Wissenschaft gegen Vorurteile und Infektionsängste

Nun kann man zwar leicht behaupten, dass jemand mit nicht nachweisbarer Viruslast nicht mehr ansteckend ist, aber das zu erklären ist schon komplizierter.

Dieser Artikel fasst deshalb die wichtigsten Schlüsselstudien den letzten 20 Jahren zu diesem Thema zusammen – ein riesiger Fundus an Belegen, mit denen man den immer noch weit verbreiteten Vorurteilen und Infektionsängsten entgegenwirken kann.

U=U: nicht nachweisbar = nicht übertragbar (oder nicht infektiös)

Die 2016 gestartete Kampagne Undetectable = Untransmittable (U=U) basiert auf der folgenden Aussage: „Menschen mit HIV und einer nicht nachweisbaren Viruslast übertragen HIV nicht auf ihre Partner.“ [1, 2]

Diese Aussage wurde von mehr als 350 HIV-Organisationen aus 34 Ländern unterschrieben, darunter führende wissenschaftliche und medizinische Organisationen wie die Internationale Aids-Gesellschaft (International AIDS Society/IAS), UNAIDS und die Britische HIV-Vereinigung (British HIV Association/BHIVA). [2; Anm. der Redaktion: Am 21. Januar 2018 waren es bereits 550 Unterzeichner]

Selbst die CDC erkennen U=U mittlerweile an

Die Unterstützung für die Aussage ist bemerkenswert, schließlich kann man wissenschaftlich nicht beweisen, dass etwas nicht eintreten wird.

Beweise sollten daher diejenigen beibringen, die behaupten, dass HIV trotz nicht nachweisbarer Viruslast übertragen werden kann.

20 Jahre, immer mehr Belege

Der wissenschaftliche Ansatz zum Verständnis der Welt besteht in der Regel aus drei Phasen:

  1. Etwas beobachten.
  2. Eine oder mehrere Hypothesen aufstellen, die die Beobachtung erklären könnten.
  3. Jede Hypothese mit einem geeigneten Experiment überprüfen.

Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass eine gute Studie per Definition wiederholbar sein muss. Wenn die Ergebnisse stimmen und nicht zufällig sind, müssen andere Forscher_innen in der Lage sein, die Studie zu wiederholen und jedes Mal ähnliche und konsistente Ergebnisse erhalten.

Höchste Evidenz dank randomisierter Studie HPTN 052

Die Belege zur Untermauerung von U=U umfassen Beobachtungsstudien, randomisierte Studien, systematische Übersichtsarbeiten und Aussagen von Expert_innen:

1998: San-Francisco-Kohorte (Beckerman K. et al. [3])
Klinische Ergebnisse aus einer kleinen Kohorte HIV-positiver Frauen, die während der Schwangerschaft eine antiretrovirale Dreifach-Therapie machten.
Ergebnis: Das Risiko einer HIV-Übertragung von Müttern auf ihre Babys ging gegen Null.

1998: Leitlinien des US-Department of Health and Human Services (DHHS [4])
Expertenmeinung, enthalten in evidenzbasierten Leitlinien.
Inhalt: Theoretische Plausibilität eines reduzierten Übertragungsrisikos als Argument für eine früh begonnene ART.

2000: Ugandische Kohorte (Rakai-Kohorte; Quinn TC et al. [5])
Prospektive Beobachtungs-Kohortenstudie mit etwa 400 serodifferenten Paaren [Anm. der Red.: 1 Partner_in HIV-positiv,  1 Partner_in HIV-negativ].
Ergebnis: Keine Übertragungen bei einer Viruslast unter 1.500 Kopien/ml.

2005: Spanische Kohorte (Castella A et al. [6])
Prospektive Beobachtungsstudie mit 393 heterosexuellen serodifferenten Paaren, die zwischen 1991 und 2003 in die Studie aufgenommen wurden und bei denen sich in einigen Fällen die HIV-negativen Partner_innen infizierten.
Ergebnis: Keine HIV-Übertragung, wenn die HIV-positiven Partner_innen dank ART eine nicht nachweisbare Viruslast hatten; hingewiesen wurde darauf, dass dafür eine hohe Therapietreue nötig sei und weitere Geschlechtskrankheiten das Risiko möglicherweise erhöhen könnten.

2008: Swiss Statement (Vernazza P. et al. [7])
Expertenmeinung und Review von mehr als 25 kleineren Studien zur Auswirkung der ART auf Risikofaktoren für HIV-Übertragungen.
Ergebnis: Keine HIV-Übertragung bei nicht nachweisbarer Viruslast.

2011: HPTN 052 (Cohen M et al. [8, 9]
Randomisierte Kontrollstudie mit 1.763 serodifferenten heterosexuellen Paaren, zufällig aufgeteilt (randomisiert) auf eine Gruppe mit sofortigem und eine mit späterem Therapiebeginn; obwohl der Kondomgebrauch hoch war, war der Einfluss der ART hoch signifikant.
Ergebnis: Alle Infektionen geschahen bei Personen mit nachweisbarer Viruslast: n = 17 in der Gruppe mit späterem Therapiebeginn und n = 1 in der Gruppe mit sofortigem Therapiebeginn, als die Viruslast noch nicht unter der Nachweisgrenze lag. Auch bei den Infektionen in der vierjährigen Nachbeobachtungsphase lag immer eine nachweisbare Viruslast vor.

2014: PARTNER-Studie (Zwischenergebnisse, Rodgers A et al. [10]); 2016: Endergebnisse, Rodgers A et al. [11]; 2018: Ergebnisse von PARTNER2 [12])
Europäische prospektive Beobachtungsstudie mit etwa 900 serodifferenten Paaren, die beim Sex keine Kondome benutzten.
Laut den Endergebnissen kam es bei mehr als 58.000 Mal Sex ohne Kondom bei einer Viruslast unter der damaligen Nachweisgrenze von 200 Kopien/ml zu keiner Übertragung.

2017: Opposites Attract (Grulich A et al. [13])
Prospektive Beobachtungsstudie mit 358 serodifferenten schwulen Paaren in Australien, Thailand und Brasilien.
Ergebnis: Keine Übertragung bei einer Viruslast unter 200 Kopien/ml.

2018: Ergebnisse von PARTNER2 [12]
Ausweitung der PARTNER-Studie, um mehr Daten zu schwulen Paaren zu erhalten. Die Studie war für 2014 bis 2017 geplant, Ergebnisse werden 2018 erwartet. [Anm. d. Red.: Im Juli 2018 wurden die Ergebnisse veröffentlicht; nähere Infos finden sich unter https://www.aidshilfe.de/meldung/partner-2-studie-hiv-therapie-schuetzt-sexpartnerinnen-hiv.]

Die wichtigsten Stufen in dieser Zeitleiste waren:

  • 1998: Beobachtung, dass eine Dreifach-ART die Zahl der Übertragungen senkte
  • 1998: Expertenmeinung, dass die Therapie das Übertragungsrisiko senkt (einschließlich eines Reviews der Daten zu den Details dieses Schutzes)
  • 2000–2005: Prospektive Beobachtungsstudien und weitere Forschungen dazu (Rakai-Kohorte und andere)
  • 2008: Weitere Expertenmeinung und Review der vorliegenden Daten (Swiss Statement)
  • 2011: Erste Belege aus einer randomisierten klinischen Studie (HPTN 052)
  • 2017–2017: Weitere prospektive Beobachtungsstudien (PARTNER und Opposites Attract) – die ersten Studien, die Daten zum Risiko für schwule Männer liefern
  • 2017: Weitere Expertenmeinung (U=U-Kampagne)

Im Folgenden wird jede dieser Studien näher erläutert.

Frühe Belege: Mutter-Kind-Übertragungen und heterosexuelle Paare in Uganda

Im Juli 1998 lieferte ein bemerkenswerter Bericht einige der ersten klinischen Belege für die Auswirkungen der Viruslast auf die HIV-Übertragung.

Auf der IAS-Konferenz in Genf berichtete Dr. Karen Beckerman über eine kleine Kohorte HIV-positiver Frauen in San Francisco, die in der Schwangerschaft eine Dreifachtherapie eingesetzt hatten. Hatte die Wahrscheinlichkeit einer Mutter-Kind-Übertragung in den Zeiten vor der antiretroviralen Kombinationstherapie bei 30 % und bei AZT-Monotherapie bei 10 % gelegen, senkte die Dreifachtherapie die Übertragungen auf nahezu Null. [3]

Obwohl sich diese Studie in erster Linie mit der vertikalen (Mutter-Kind-)Übertragung und weniger mit der sexuellen Übertragung beschäftigte, zeigten ihre klinischen Ergebnisse, dass eine nicht nachweisbare Viruslast auch das Risiko einer sexuellen Übertragung drastisch verringerte.

Erste Hinweise schon kurz nach Einführung der Kombinationstherapie

In den im Dezember 1998 erschienenen aktualisierten Behandlungs-Leitlinien des amerikanischen Gesundheitsministerium DHSS wurde die „mögliche Verringerung des Risikos einer HIV-Übertragung“ als ein zusätzlicher Grund für einen frühen Therapiebeginn genannt. [4]

In diesen Expertenrichtlinien wurde hervorgehoben, dass es keine direkten Beweise für diese Aussage gebe und dass auch bei nicht nachweisbarer Viruslast weiterhin Kondome verwendet werden sollten. Dennoch war die Aufnahme dieser Aussage in das 100-seitige Dokument führender US-Ärzt*innen sehr wichtig.

Eine der nächsten Schlüsselstudien lieferte direkte Belege für den Zusammenhang zwischen der Viruslast und dem Risiko einer sexuellen HIV-Übertragung. Es handelte sich um eine prospektive Kohortenstudie mit 415 serodifferenten heterosexuellen Paaren im ugandischen Bezirk Rakai, bei der jeweils ein_e Partner_in HIV-positiv und ein_e Partnerin HIV-negativ war. Die Studie von Thomas Quinn und seinen Kolleg_innen wurde im Jahr 2000 im New England Journal of Medicine veröffentlicht [5].

Nach einer medianen Beobachtungszeit von 22 Monaten war das Risiko einer HIV-Übertragung deutlich mit einer höheren Viruslast gekoppelt. Bei den 51 Paaren, bei denen der oder die HIV-positive Partner_in eine Viruslast von weniger als 1.500 Kopien/ml hatte, wurde keine Übertragung beobachtet.

An der Rakai-Studie sind mehrere Details wichtig. Die Studie fand statt, bevor die ART verfügbar war, und der Kondomgebrauch war niedrig. Man stellte fest, dass die Übertragungsraten bei Männern und Frauen ähnlich hoch waren und dass andere sexuell übertragbare Infektionen das HIV-Risiko nicht beeinflussten. Außerdem zeigte sich ein hoch signifikanter Effekt der männlichen Beschneidung – alle Männer, die sich während der Studie infizierten, waren nicht beschnitten.

Expertenmeinung und Bewertung der vorliegenden Daten: Das Swiss Statement (EKAF-Statement)

Von 2000 bis 2008 berichteten viele kleinere Studien über Verringerungen bei anderen Übertragungswegen oder ergänzten die Daten aus Beobachtungsstudien durch weitere Forschungsergebnisse, etwa zu den Auswirkungen der antiretroviralen Therapie (ART) auf [die Virenmenge in den] Genitalflüssigkeiten.

So erschien etwa im Jahr 2005 der Bericht zu einer spanischen Kohortenstudie mit fast 400 heterosexuellen serodifferenten Paaren, bei denen einige negative Partner_innen im Zeitraum 1991 bis 2003 HIV-positiv wurden. Die Ergebnisse wurden für drei Zeiträume – vor der ART (1991–1993), während der Frühphase der ART (1996–1998) und unter moderner ART (1999–2003) – präsentiert; wenn die HIV-positiven Partner_innen eine ART erhielten, gab es keine Übertragungen. [6]

Diese Ergebnisse mussten allerdings mit Vorsicht interpretiert werden, da andere Faktoren im Laufe der Zeit das Infektionsrisiko verringerten; so wurden etwa häufiger Kondome verwendet, und die Teilnehmer_innen hatten mit zunehmendem Alter weniger Sex. Dennoch gab es keine Übertragungen, das Ergebnis bliebt signifikant.

Swiss Statement 2008: Das erste hochkarätige Studienreview sagt U=U

Im Jahr 2008 veröffentlichten Pietro Vernazza und seine Kollegen von der „Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen“ (EKAF) das erste hochkarätige Studien-Review, das zu dem Schluss kam: Die ART verhindert Übertragungen. [7]

Dieses auf Deutsch und Französisch veröffentlichte, aber schnell ins Englische übersetzte Papier war auch eine Reaktion auf die Gesetzeslage in der Schweiz: Menschen mit HIV standen unter Strafandrohung, wenn sie Sex mit negativen Partner_innen hatten – selbst dann, wenn Kondome verwendet wurden oder wenn ein Paar im beiderseitigen Einverständnis einen Kinderwunsch umsetzten wollte. Das Statement diskutierte mehr als 25 Studien und kam zu dem Schluss, dass [unter effektiver ART] keine Übertragung stattfand. Das Risiko, dass es doch zu einer Übertragung kommen könnte, wurde auf weniger als 1 zu 100.000 geschätzt (0,001 %) – was praktisch bei null liegt.

Wichtige Punkte im Swiss Statement waren, dass die HIV-positive Person ihre Medikamente regelmäßig einnimmt (also keine Einnahmen auslässt) und eine nicht nachweisbare Viruslast hat und dass keine weiteren sexuell übertragbaren Infektionen vorliegen, die die Viruslast erhöhen könnten.

Das Swiss Statement fand weite Verbreitung, stieß aber auch auf breite Kritik und wurde dadurch sehr bekannt. Es setzte andere Ärzt_innen und Forscher_innen unter Zugzwang, Fälle zu identifizieren, die das Statement widerlegten. Angesichts der starken Konkurrenz in der akademischen Forschung ist es bemerkenswert, dass auch zehn Jahre später keine Fälle veröffentlicht wurden, die das Swiss Statement widerlegen.

Randomisierte Studie: HPTN 052

Wissenschaftler_innen bewerten die Evidenz, das heißt die Aussagefähigkeit von Studien danach, inwieweit das Studiendesign einen Zusammenhang zwischen einer Intervention und einem Ergebnis belegen kann. Für viele Fragestellungen liefern randomisierte klinische Studien die besten Ergebnisse. Mit der zufälligen Aufteilung der Teilnehmer_innen auf zwei oder mehr Gruppen, die sich nur durch die Intervention unterscheiden, kann man am besten ausschließen, dass Ergebnisse zufällig zustande kommen.

Da Ergebnisse potenziell immer durch andere Faktoren beeinflusst werden können, gelten randomisierte Studien im Allgemeinen als Goldstandard für die Evidenz.

Im Jahr 2011 stellten US-Forscher_innen unter der Leitung von Myron Cohen und Kolleg_innen vom HIV Prevention Treatment Network (HPTN) erste Ergebnisse aus der Studie HPTN 052 vor. [8]

HPTN 052 rekrutierte mehr als 1.700 serodifferente, fast ausschließlich heterosexuelle Paare (hauptsächlich im südlichen Afrika, in Lateinamerika und Südostasien). Die HIV-positiven Partner_innen wurden randomisiert – eine Gruppe begann sofort mit einer ART, die andere wartete, bis ihre CD4-Zellzahl unter 350 Zellen/μl gesunken war (dies war damals in den WHO-Leitlinien der Schwellenwert für den Behandlungsbeginn).

Endgültiger Durchbruch durch HPTN 052 – zumindest für die heterosexuelle Übertragung

Alle Paare wurden mit Kondomen und Informationen zur Senkung des HIV-Übertragungsrisikos unterstützt, aber es wurde bald klar, dass HIV-Übertragungen fast ausschließlich in der Gruppe mit den auf die ART wartenden Teilnehmer_innen auftraten. Von den 39 diagnostizierten Infektionen gingen 28 auf die HIV-positiven Partner_innen in der Studie zurück, und 27 davon entfielen auf Teilnehmer_innen, die noch keine ART bekamen. Die einzige Übertragung in der „Sofort-ART-Gruppe“ erfolgte innerhalb weniger Wochen nach Behandlungsbeginn, als die Viruslast noch hoch war und mit Sicherheit nicht unter der Nachweisgrenze lag.

Dies war ein belastbarer Beleg dafür, dass die ART in direktem Zusammenhang mit dem Schutz vor sexueller HIV-Übertragung stand, und die Studie wurde geöffnet, damit alle HIV-positiven Teilnehmer_innen sofort eine ART bekommen konnten. HPTN 052 wurde noch vier Jahre weitergeführt, wobei sich die ersten Ergebnisse bestätigten. [9]

HPTN 052 lieferte die Grundlage dafür, HIV-positiven Menschen einen früheren Zugang zur ART zu ermöglichen, um ihre Partner_innen zu schützen – Treatment as Prevention genannt (TasP, Behandlung als Prävention). Die Studie konnte allerdings nur relative Unterschiede zwischen den beiden Studiengruppen ausweisen, das tatsächliche Risiko aber (auch wenn es nur ein theoretisches war) nicht quantifizieren.

Auch dies war eine Studie mit Heterosexuellen; Analverkehr wurde kaum berichtet, und die Kondom-Nutzung war relativ hoch. Die Studie konnte also nachweisen, dass die ART das Übertragungsrisiko senkt, aber keine Schätzung liefern, wie groß das Risiko war und wie groß es für verschiedene sexuelle Praktiken war.

Große Beobachtungskohorten: Die PARTNER-Studie und „Opposites Attract“

1999, mehrere Jahre vor Veröffentlichung der Ergebnisse von HPTN 052, startete eine Gruppe europäischer Forscher_innen unter der Leitung von Jens Lundgren vom Centre of Excellence for Health, Immunity and Infections (CHIP) die prospektive Beobachtungsstudie PARTNER. [10, 11]

Die PARTNER-Studie war wichtig, weil sie serodifferente Paare rekrutierte, die beim Sex nicht immer Kondome benutzten (in vielen Fällen schon seit Jahren) und bei denen die HIV-positiven Partner_innen unter ART waren.

Wichtig ist, dass etwa ein Drittel der fast 900 Paare schwule Paare waren und dass die Studie mit detaillierten Fragebögen zu den sexuellen Aktivitäten arbeitete, um das Risiko auf dieser Grundlage abzuschätzen. Wie bei allen Studien erhielten auch hier alle Teilnehmer_innen Informationen zur Senkung des Risikos einer HIV-Übertragung und kostenlose Kondome. Alle Paare wurden dann über einen längeren Zeitraum beobachtet, um herauszufinden, ob Übertragungen stattfanden.

Die Ergebnisse einer geplanten Frühanalyse der PARTNER-Studie wurden im Februar 2014 auf einer Konferenz vorgestellt: Nach mehr als 44.000 Sexkontakten ohne Kondom hatte es keine einzige Übertragung innerhalb einer Beziehung gegeben, wenn die Viruslast unter der damaligen Nachweisgrenze von 200 Kopien/ml lag. [10]

PARTNER bedeutete auch eine Entwarnung hinsichtlich theoretischer Befürchtungen, dass vorübergehende Erhöhungen der Viruslast („Blips“) oder weitere sexuell übertragbare Infektionen (STIs) das Übertragungsrisiko erhöhen könnten. Auch bei den 91 Paaren, bei denen der positive Partner eine STI berichtete (ungefähr ein Drittel der homosexuellen Paare hatte offene Beziehungen), gab es keine HIV-Übertragung beobachtet. Die endgültigen Ergebnisse wurden im Juli 2016 vorgestellt: Auch nach 58.000 Mal Sex ohne Kondom gab es keine einzige HIV-Übertragung. [11]

PARTNER und Opposites Attract: U=U gilt auch für schwule Paare und auch bei STIs

Die Ergebnisse der PARTNER-Studie machten weltweit Schlagzeilen. Kaum bekannt allerding ist, dass diese bahnbrechenden Ergebnisse erst nach fast zwei Jahren veröffentlicht wurden. Dies hängt wahrscheinlich mit den erwarteten Auswirkungen der Ergebnisse auf HIV-Präventionskampagnen zusammen, die auf der prinzipiellen Verwendung von Kondomen basierten, auch wenn die begrenzte Wirksamkeit reiner Kondomprävention angesichts der anhaltend hohen HIV-Übertragungsraten auf der Hand lag.

Da die PARTNER-Studie auch das theoretische Risikointervall (die Obergrenze des 95%-Konfidenzintervalls) quantifizieren sollte, sammelte die PARTNER2-Studie weitere Daten zu homosexuellen Paaren, um bei der Datenlage ein ausgewogenes Verhältnis zu heterosexuellen Paaren zu gewährleisten. [12]

Auf der IAS-Konferenz in Paris im Jahr 2017 wurden dann die Ergebnisse der Studie „Opposites Attract“ mit 358 schwulen Paaren aus Australien, Thailand und Brasilien vorgestellt: Nach fast 17.000 Mal Sex ohne Kondom gab es auch hier keine einzige HIV-Übertragung zwischen den Partnern. [13]

Auch hier waren STIs nicht ungewöhnlich (präsent bei rund 1.000 der etwa 17.000 sexuellen Kontakte) und führten nicht zu einer HIV-Übertragung.

„Null Risiko“ oder „vernachlässigbares Risiko“?

Generell finden HIV-Übertragungen auch beim kondomlosen Sex und ohne ART nur selten statt.

Im Schnitt reicht der obere Wert des geschätzten Risikos pro Exposition von 0,014 bei aufnehmendem Analverkehr (14 Infektionen bei 1000 Kontakten) bis 0,001 bei aufnehmendem oder eindringendem Vaginalverkehr (1 Infektion bei 1000 Kontakten). Die unteren Werte liegen um ein Vielfaches niedriger. [14]

In den ersten zwei bis vier Wochen nach einer Infektion allerdings ist das Risiko sehr viel höher: Die Viruslast kann dann bei mehreren Millionen Kopien/ml liegen, und die Leute denken noch, dass sie HIV-negativ sind. Dies führte zu vielen Präventions-Botschaften, wonach jemand, der sich aufgrund eines zurückliegenden negativen HIV-Tests für negativ hält, ein viel höheres relatives Risiko darstellt als eine HIV-positive Person mit nicht nachweisbarer Viruslast unter einer HIV-Therapie.

In der Lebenswelt bedeutet „vernachlässigbares Risiko“ „kein Risiko“

Nichtsdestotrotz zögerten einige, von einem „Null-Risiko“ zu sprechen, und sprachen lieber von einem vernachlässigbaren Risiko – auch wenn dieses theoretische Risiko immer winziger wurde.

Es ist daher eine bedeutende Veränderung, dass führende HIV-Wissenschaftler_innen – dank der U=U-Kampagne – nun klar sagen, dass ein „vernachlässigbares theoretisches Risiko“ effektiv ein Null-Risiko ist.

Beweislastumkehr: Zeigen, dass eine Übertragung möglich ist

Trotz idealer Bedingungen waren die großen prospektiven Studien, die HIV-Übertragungen bei nicht nachweisbarer Viruslast entdecken sollten, nicht dazu in der Lage.

Es gibt also bis heute keinen überzeugenden Beweis, dass eine HIV-Übertragung bei nicht nachweisbarer Viruslast möglich ist.

Damit kehrt sich die wissenschaftliche Herausforderung um – vom Nachweis der Sicherheit zum Nachweis des Risikos. Rein theoretische Risiken haben keine hinreichende Evidenz, um die Stigmatisierung und Diskriminierung und schon gar nicht die Kriminalisierung [von Menschen mit HIV] aufrechtzuerhalten.

Es gibt also keine Beweise dafür, dass HIV-Übertragungen bei nicht nachweisbarer Viruslast stattfinden. Wer behauptet, dass HIV-Übertragungen trotzdem möglich sind, muss dies jetzt nachweisen.

Schlussfolgerung

Es gibt mittlerweile zahlreiche Belege zur Untermauerung des U=U-Statements. Sie reichen von den frühen klinischen und theoretischen Studien über kleine Beobachtungsstudien bis zu randomisierten Studien und den großen prospektiven Kohortenstudien.

Seit der Veröffentlichung des Swiss Statements wurde keine einzige HIV-Übertragung [bei einer Viruslast unter der Nachweisgrenze] berichtet. Dies schließt Daten zu homosexuellen Männern ein, zu Paaren, die Analverkehr praktizieren sowie zu Zeiträumen mit „Blips“ (also mit kurzzeitig leicht erhöhter Viruslast) und gilt sogar dann, wenn sexuell übertragbare Infektionen vorliegen.

Nun sollte man niemals denken, dass irgendetwas im Leben völlig risikolos ist, selbst wenn das tatsächliche Risiko wirklich gleich null ist. Aber selbst wenn doch irgendwann einmal eine HIV-Übertragung bei nicht nachweisbarer Viruslast gemeldet werden sollte, wird die U=U-Kampagne weiterhin ihre Berechtigung haben, weil sie klar macht, dass ein „vernachlässigbares“ Risiko in der realen Lebenswelt „kein Risiko“ bedeutet.

KOMMENTAR

Die Unterstützung der CDC für das U=U-Statement hat besonderes Gewicht. [16]

In vielen US-Bundesstaaten gibt es völlig veraltete drakonische Gesetze zur Kriminalisierung der HIV-Exposition. Hunderte Menschen mit HIV waren und sind zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden, weil sie Partner_innen gegenüber nicht ihre HIV-Infektion offengelegt haben – und dies, obwohl es in vielen Fällen nicht zu einer Übertragung kam.

Quellenangaben

  1. Undetectable = Untransmittable
    https://www.preventionaccess.org
  2. U=U consensus statement: Risk of sexual transmission of HIV from a person living with HIV who has an undetectable viral load.
    https://www.preventionaccess.org/consensus
  3. Beckerman K et al. Control of maternal HIV-1 disease during pregnancy. Int Conf AIDS 1998 Jun 28-Jul 3; 12:41. Poster abstract 459.
    http://i-base.info/ttfa/wp-content/uploads/2012/05/Beckerman-Abs459-IAS-geneva-1998.pdf (PDF)
  4. U.S. Department of Health and Human Services (DHHS). Guidelines for the Use of Antiretroviral Agents in HIV-1-Infected Adults and Adolescents. December 1998.
    https://aidsinfo.nih.gov/guidelines/archive/adult-and-adolescent-guidelines
    https://aidsinfo.nih.gov/ContentFiles/AdultandAdolescentGL12011998012.pdf (PDF)
  5. Quinn TC et al. Viral load and heterosexual transmission of HIV type 1. Rakai Project Study Group. N Engl J Med 2000; 342: 921-929. Free online access.
    http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJM200003303421303
  6. Castilla J, del Romero J, Hernando V, Marincovich B, Garcia S, Rodriguez C. Effectiveness of highly active antiretroviral therapy in reducing heterosexual transmission of HIV. J Acquir Immune Defic Syndr. 2005;40:96-101. Free full text.
    http://journals.lww.com/jaids/Fulltext/2005/09010/Effectiveness_of_Highly_Active_Antiretroviral.16.aspx
  7. Vernazza P et al. HIV-positive individuals not suffering from any other STD and adhering to an effective antiretroviral treatment do not transmit HIV sexually. (Les personnes séropositives ne souffrant d’aucune autre MST et suivant un traitment antirétroviral efficace ne transmettent pas le VIH par voie sexuelle). Bulletin des médecins suisses 89 (5), 30 January 2008. Included with English translation.
    http://i-base.info/qa/wp-content/uploads/2008/02/Swiss-Commission-statement_May-2008_translation-EN.pdf (PDF)
  8. Cohen MS et al for the HPTN 052 Study Team. Prevention of HIV-1 infection with early antiretroviral therapy. Supplementary information. NEJM 2011; 365:493-505.
    http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1105243
  9. Cohen MS et al. Final results of the HPTN 052 randomized controlled trial: antiretroviral therapy prevents HIV transmission. IAS 2015, 19 – 22 July 2015, Vancouver. MOAC0101LB.
    http://www.hivma.org/uploadedFiles/HIVMA/Guidelines_Patient_Care/Prevention/The%20HPTN%20052%20Final%20Results_Myron%20Cohen.pdf
  10. Rodger A et al. HIV transmission risk through condomless sex if HIV+ partner on suppressive ART: PARTNER Study. 21st CROI, 3-6 March 2014, Boston. Oral late breaker abstract 153LB.
    http://www.croiwebcasts.org/console/player/22072 (webcast)
  11. Rodger AJ et al for the PARTNER study group. Sexual activity without condoms and risk of HIV transmission in serodifferent couples when the HIV-positive partner is using suppressive antiretroviral therapy. JAMA, 2016;316(2):1-11. DOI: 10.1001/jama.2016.5148. (12 July 2016). Full free access.
    http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?doi=10.1001/jama.2016.5148
  12. PARTNER2 Study (2014–2017).
    https://chip.dk/Studies/PARTNER/PARTNER-2
  13. Grulich A et al. HIV treatment prevents HIV transmission in male serodiscordant couples in Australia, Thailand and Brazil. IAS 2017, Paris. Oral abstract TUAC0506LB.
    http://programme.ias2017.org/Abstract/Abstract/5469
  14. Fox J et al. Quantifying sexual exposure to HIV within an HIV-serodiscordant relationship: development of an algorithm. AIDS 2011, 25:1065–1082. DOI:10.1097/QAD.0b013e328344fe4a. Free online access.
    http://journals.lww.com/aidsonline/Abstract/2011/05150/Quantifying_sexual_exposure_to_HIV_within_an.7.aspx
  15. Collins S. Undetectable = Uninfectious. Positive Person’s Forum, 1 July 2017, Glasgow.
    http://i-base.info/slide-sets
    http://i-base.info/wp-content/uploads/2016/02/Positive-Forum-Scotland-2017-Undetectable-FINAL.pdf (PDF)
  16. US CDC News. Dear colleague: national gay men’s HIV/AIDS awareness day. (27 September 2017)
    https://www.cdc.gov/hiv/library/dcl/dcl/092717.html

*Original: The evidence for U=U (Undetectable = Untransmittable): why neglibible risk is zero risk, veröffentlicht am 1. Oktober 2017. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Simons Collins am 1. Juli 2017 beim Positive People’s Forum in Glasgow gehalten hat [15]. Collins ist Mitglied des Steering Committees der PARTNER-Studien.

Übersetzt mit DeepL, nachbearbeitet von Siegfried Schwarze. Überarbeitung: Holger Sweers. Wir danken dem Autor herzlich für die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Texts in der übersetzten Fassung!

2 Kommentare

Daniela 7. März 2019 17:15

Guten Tag, ich möchte spontan einen Kommentar dalassen. Auf dieser Seite:
https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/hiv-infektion-auch-mit-der-behandlung-bleibt-ein-restrisiko-11974155.html
habe ich die folgenden Zeilen gefunden:
„Dass trotz Kontrolle aller Risikofaktoren und bei regelmäßiger Einnahme der Medikamente ein Partner das Virus auf den anderen übertragen kann, zeigt ein Fall aus der Praxis von Gute im Jahr 2004. „Obwohl der HIV-Infizierte immer unter der Nachweisgrenze lag, hat er seinen Freund angesteckt“, sagt Gute. Jeder Infekt habe eine Art Fingerabdruck, deshalb habe man die Ansteckung innerhalb der Beziehung sicher nachweisen können. „Auch mit der Therapie bleibt ein Restrisiko.“ “
Wie wäre also ein solcher Fall zu bewerten?

Und diese Seite:
https://www.fau.de/2016/03/news/wissenschaft/hiv-trotz-therapie-hoechst-aktiv/
berichtet von einer Studie über den Status der HI-Viren unter Therapie. Ich fand sie im Zusammenhang zum Thema der Seite hier durchaus interessant.

Holger Sweers 13. März 2019 19:14

Liebe Daniela, entschuldige bitte, dass wir uns erst jetzt melden, unser Medizinreferent war nicht im Haus. Hier seine Antwort:

Der beschriebene Fall ist bekannt, er wurde 2008 ein paar Monate nach dem EKAF-Statement publiziert. Der Fall ist zwar plausibel, aber nicht lückenlos gut dokumentiert. So ist der letzte HIV-negative Test des Partners anonym im Gesundheitsamt gemacht worden. Also bleiben da Zweifel, ob es zu dem besagten Zeitpunkt noch ein negatives Ergebnis gab oder auch nicht. Aber auch wenn der Fall ein Fall ist – statistisch gab es zigtausendfach in der Partner-Studie Sex ohne Kondom, ohne dass es zu einer Übertragung kam, und das ist dort lückenlos dokumentiert. Laut dieser Studie müsste man (statistisch gesehen) ca. 500 Jahre Sex ohne Kondom haben, bis man vielleicht mit einer Infektion rechnen könnte. [Anm. der Redaktion: Infos zur PARTNER-Studie gibt’s hier: https://www.aidshilfe.de/meldung/partner-2-studie-hiv-therapie-schuetzt-sexpartnerinnen-hiv und hier: https://www.aidshilfe.de/meldung/wirksame-antiretrovirale-therapie-schuetzt-sexueller-hiv-uebertragung%5D

Woher eigentlich die wenigen Viren kommen, die man ja noch messen kann, wird ebenfalls schon lange diskuiert. Aber für die Übertragung ist das nicht relevant – diese Gewebe liegen wahrscheinlich in irgendwelchen Lymphknotenarealen, und die spielen beim Sex keine Rolle.

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