„Es ist gut gemacht, wenn es einen Nerv trifft“
- Michael Jähme hat 1990 sein positives Testergebnis bekommen und wenige Monate später seine Stelle als Sozialpädagoge bei der AIDS-Hilfe Wuppertal angetreten, wo er bis heute beschäftigt ist. Das 52-jährige Ehrenmitglied der AIDS-Hilfe NRW ist in der Selbsthilfe aktiv, unter anderem im Projektbeirat von „positive stimmen“ und mit einem eigenen Blog (termabox.wordpress.com). Annette Fink befragte Michael Jähme zu seinem Selbsthilfe-Verständnis und zum Verhältnis zwischen Selbsthilfe und professioneller Aidshilfe.
Michael, wie definierst du eigentlich den Begriff Selbsthilfe?
Auf der individuellen Ebene bedeutet Selbsthilfe für mich, mich für mein Interesse zu engagieren, für Dinge, die in meinem Leben eine Rolle spielen, für Werte, die mir wichtig sind. Darüber hinaus geht es darum, mich für die Gemeinschaft, der ich mich zugehörig fühle, einzusetzen, also nicht nur das eigene, sondern das kollektive Selbst zu vertreten.
Gibt es dieses kollektive Selbst denn überhaupt? Kann man von „der Selbsthilfe“ im Sinne einer homogenen Masse sprechen?
„Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Unterschiedlichkeiten in der Selbsthilfe anzuerkennen“
Ich erlebe in den Gruppen von HIV-Positiven ein großes Spannungsfeld. Es gibt Menschen, die mit viel Scham auf ihre Infektion blicken und sich nicht verzeihen können, dass sie „versagt“ haben. Und es gibt andere, die sagen, das ist eben ein Lebensrisiko, es hat mich nun einmal erwischt. Wenn sich Leute so befreit äußern, trifft dies die mit Scham Belasteten in ihrem Kern, und sie reagieren mit Aggression. Für mich ist es schwierig, angemessen damit umzugehen. Schamgefühle entstehen spontan, unzensiert und sollten gewürdigt werden als Ausdruck unserer Seele. Schamgefühle geben uns Informationen zu bedeutsamen Erfahrungen in unserer Lebensgeschichte. Auflösen können wir sie nur über die Selbstakzeptanz. Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Unterschiedlichkeiten in der Selbsthilfe anzuerkennen, respektvoll miteinander umzugehen und doch auch voranzukommen.
Kannst du dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Eine Schlüsselsituation war die Veröffentlichung der Schweizer Eidgenössischen Kommission (EKAF), wonach HIV-Infizierte unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös sind. Da hatten einige Positive den Impuls, dass man das nicht sagen darf, weil andere leichtsinnig werden könnten. Sie haben ihre eigene Lebensqualität dem Schutz anderer untergeordnet, sie sahen es als ihre Verpflichtung, andere zu schützen. EKAF hat eine ungeheure emotionale Sprengkraft. Ich war froh, dass diese Last, sich selbst als gefährlich ansehen zu müssen, weg war. Andere wollten mir das nicht zugestehen. Ich habe mich mit einem Freund aus den Niederlanden darüber ausgetauscht, einem sehr rationalen Menschen. Er meinte: Wer in der Scham gefangen ist, kann befreiende Botschaften, kann Entwicklungen nicht annehmen, weil er in sich selbst steckengeblieben ist. Er erkennt die anderen durchaus zutreffend als „un-verschämt“, reagiert aber mit Aggression und Abwehr, weil er die innere Befreiung – noch – nicht schafft.
Hast du selbst von Anfang an zu denen gehört, die sich befreit äußern können?
„Die Lösung ist die umfassende Selbstakzeptanz“
Nein, nachdem ich mich angesteckt hatte, gab es auch eine Zeit, in der ich mich als Versager gefühlt habe, weil mir Safer Sex nicht gelungen war. Die große Veränderung kam dann eigentlich mit einem Interview für die Aktuelle Stunde im WDR zum Welt-Aids-Tag, in dem ich zum ersten Mal offen darüber gesprochen habe, dass ich mich beim schwulen Sex angesteckt hatte. 16 Jahre nach der Diagnose hatte ich offenbar das Empfinden, über meine Arbeit in Aidshilfe und Selbsthilfe genug geleistet und soviel Scham regelrecht abgebüßt zu haben, um mein Schweigen brechen zu können und die Wahrheit beim Namen zu nennen. Es ist schon seltsam, heute zu erkennen, dass meine Motivation zum Engagement in der Selbsthilfe so stark in Scham- und Schuldgefühlen gründete. Durch den offensiven Diskurs zu Scham und Schuld in der Selbsthilfe seit 2009 und besonders durch meine Psychoanalyse bin ich mir auf den Grund gegangen. Heute schäme ich mich nicht mehr. Ich rede immer befreiter und leichter. Die Lösung ist die umfassende Selbstakzeptanz.
Hat Selbsthilfe bei euch „Befreiten“ immer politischen Charakter?
„Jeder, der mit HIV im Kleinen wie im Großen öffentlich wird, begeht einen emanzipatorischen Akt“
Das ist vielleicht eine Frage der Definition. Ich habe im letzten Jahr angefangen zusammenzutragen, welche HIV-Positiven öffentlich auftreten oder aufgetreten sind, sei es als Ansprechpartner gegenüber Schulklassen, sei es gegenüber Zeitungen und anderen Medien. Und ich staune: Es sind Hunderte, es sind so unglaublich viele! Es wird noch viel zu wenig gewürdigt, was sie leisten: Jeder, der mit HIV im Kleinen wie im Großen öffentlich wird, begeht einen emanzipatorischen Akt. Er oder sie macht eine Kampagne gegen Nicht-Wissen oder falsches Wissen. Menschen lernen am meisten über authentische Begegnungen. Denn erst wenn man auf jemanden trifft mit einer Krankheit wie HIV, von der man vielleicht gehört hat, die es aber im persönlichen Umfeld bisher nicht gab, beginnen viele, sich ernsthaft damit zu beschäftigen und dazuzulernen.
Wie beurteilst du das Verhältnis zwischen Positivenselbsthilfe und Aidshilfe?
Ganz wichtig ist für mich die Frage, wann Menschen mit HIV von den Aidshilfe-Mitarbeitern ernstgenommen, wann sie als Klienten gesehen werden und warum es überhaupt eine Unterscheidung im Denken gibt. Ich finde, sie bringen immer beides mit: sowohl Fähigkeiten und Kompetenzen als auch das Bedürfnis nach Hilfe und Unterstützung. Ich selbst brauche auch Unterstützung. Du kannst noch so emanzipiert und politisch sein – wenn du nicht auf eine vernetzte Gemeinschaft bauen kannst, ist das Leben mit HIV nicht zu meistern.
Als professioneller Angestellter und Vertreter der Selbsthilfe repräsentierst du ja beide Seiten.
„Ich bin zu lebendig, um mich in Schubladen sperren zu lassen“
Die Kollegen kommen damit nicht immer klar. Ich soll mich entscheiden, soll etwas abspalten, soll „entweder – oder“ sein. Ich bin aber zu lebendig, um mich in Schubladen sperren zu lassen. Ich bestehe darauf, beides zu sein! Die Spannungen, die ich aushalte, repräsentieren die Spannungen, die zwischen Aids- und Selbsthilfe da sind. Das lässt sich auch wieder am Beispiel des EKAF-Statements festmachen, wo die Selbsthilfe andere Interessen hatte als die Aidshilfe. Und da stimmt etwas nicht zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn sich eine Gruppe lautstark zu Wort meldet und sagt, so geht das aber nicht, und die Aidshilfe rudert zurück und sagt, wir können das gar nicht so darstellen, weil wir für die Primärprävention zuständig sind.
Ein Argument war auch, dass die Leute zu dumm sind, um die Aussage der EKAF zu verstehen. Bei EKAF sollte also plötzlich nicht mehr gelten, dass wir immer auf die Lernstrategie setzen, auf Information. Die HIV-Positiven wurden wieder als die Bösen dargestellt, die wie wild durch die Gegend vögeln. Ich fand das infam und musste leider ungehörig und unverschämt sein. Ich autorisierte mich, mit Bezug auf den Grundgedanken der Deutschen AIDS-Hilfe „Selbstvertretung geht vor Stellvertretung“ den Mund aufzumachen. Das hat Erschütterungen und Konflikte ausgelöst, die bis heute andauern.
Du hast damals dem Kurzwort Aids eine neue Bedeutung gegeben.
Ja, ich habe festgestellt, in welcher politischen Korrektheit die Aidshilfe befangen war, und dass das, was ich in der Öffentlichkeitsarbeit vertreten habe, nicht mehr mit der Realität übereinstimmte. Ich habe Anfang 2008 einen Beitrag im Blog überschrieben mit „Wem schadet meine Lebensfreude?“ Obwohl der medizinische Fortschritt jetzt so wirksam war, haben wir immer nur das Elend dargestellt, und dann kam ich und habe das andere Extrem benannt. Früher wurde Aids auf den Schulhöfen mit „Ab in den Sarg“ übersetzt, und ich habe dem ein offensives „Auf in die Sonne“ entgegengesetzt. Das war natürlich auch nicht die ganze Realität, das war mir klar, aber ich musste erst mal provozieren, um als Gestaltungskraft ernst genommen zu werden. Jetzt, nach vier, fünf Jahren, sind wir an dem Punkt, die realistischen Bilder von HIV und Aids zu zeigen. Das ist auch ein Verdienst der Deutschen AIDS-Hilfe; von der Neuausrichtung der Welt-Aids-Tags-Kampagne „positiv zusammenleben“ geht ein frischer Impuls aus, der sich gesellschaftlich durchsetzen wird. Wenn wir auch in Wuppertal vier Menschen finden, die ihr Gesicht mit ihrer Botschaft auf einem großflächigen Plakat zeigen, dann bin ich zufrieden, vorher nicht.
Hat denn die Selbsthilfe überhaupt den Raum, als Korrektiv und Basis für Aidshilfe zu wirken?
„Wenn wir streitbar sind und fair, brauchen wir doch vor gar nichts Angst zu haben!“
In der EKAF-Debatte habe ich diesen Raum vermisst. Ich hatte eher den Eindruck, dass alle zum Strammstehen und Schweigen verdonnert waren. Es gab einen Anspruch an Einmütigkeit, den nicht mal Ärzte haben. Dabei ist die Lust am Diskurs doch elementar für die Selbst- und Aidshilfe. Wenn es früher neue medizinische Erkenntnisse gab, haben wir uns sofort zusammengehockt und heiß debattiert. Heute ist es so, dass im Alltagsgeschäft vieles verlorengeht. Wo führen wir noch Diskurse über unsere Haltung zum Drogenkonsum oder zur Genderfrage? Ich erlebe Aidshilfe inzwischen oft auch als kleingeistig und ängstlich um ihre Fördergelder bedacht. Da bin ich Demokrat und denke: Wenn wir streitbar sind und fair, brauchen wir doch vor gar nichts Angst zu haben! Wir finden doch Bündnispartner, wir können doch überzeugen! Ich glaube an die Werte, an die freiheitliche Kultur von Aidshilfe. Wir können Prozesse anstoßen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung.
Was braucht es aus deiner Sicht, um den Anspruch der Beteiligung tatsächlich mit Leben zu füllen?
„Mit der richtigen Motivation und auf Augenhöhe wird es eine echte Kooperation zum gegenseitigen Nutzen“
Beteiligung kann ganz unterschiedlich aussehen; man kann Reflexionsräume schaffen und Menschen mit HIV fordern, über ihre eigene Situation nachzudenken. Aidshilfe muss sich die Beteiligung der Selbsthilfe organisieren. Wenn man etwas Neues vorhat, lädt man z.B. bestimmte Leute ein und beteiligt sie mit ihren Erfahrungen. Man nimmt sie ernst, und das hat Auswirkungen für das Selbstwertgefühl. Wenn man es mit der richtigen Motivation und auf Augenhöhe beginnt, ist die Nutzung ihrer Potenziale auch kein Ausweiden, sondern wird eine echte Kooperation zum gegenseitigen Nutzen. Eine Einladung braucht Vertrauen auf beiden Seiten und darf nicht zum Machtkampf werden. Allerdings wird man es nie allen recht machen können. Es reicht, wenn man es gut macht. Und es ist gut gemacht, wenn es wirkt, wenn es einen Nerv trifft. Wir dürfen uns nicht verbieten lassen und uns nicht die Freiheit beschneiden, Sachen auch auszuprobieren. Wir werden uns nur weiterentwickeln, wenn wir auch riskieren, Fehler zu machen.
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