„Die Veränderung hat im Kopf stattgefunden und nicht zwischen den Beinen“
„Ficken nur mit Gummi!“ – diese Regel war über viele Jahre gesetzt. Doch auch eine funktionierende HIV-Therapie oder die PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe) schützen. Wir haben mit dem Berliner PrEP-Aktivisten Emmanuel gesprochen*
Verfasst von Daniel Segal
Emmanuel, du bist vor zehn Jahren nach Berlin gezogen. Wie dachtest du früher über Safer Sex?
Meine Sicht war bis dahin ganz einfach und etwas moralistisch geprägt: Wir benutzen fast alle Gummis. Manchmal passiert zwar ein Unfall, dann kann es zu einer Infektion kommen, aber letztendlich kennen ja alle die Risiken und lassen sich regelmäßig testen. Die einzige Möglichkeit, ohne Gummi ficken zu können, ist in einer monogamen Partnerschaft, nachdem man vorher gemeinsam zum Test gegangen ist. Nur dann gibt es den offiziellen „Stempel“ mit der Erlaubnis zum kondomlosen Ficken.
Aber so einfach war die Welt dann doch nicht.
Ja, denn es wurde immer deutlicher, dass das althergebrachte Schwarz-Weiß-Denken nicht mehr funktioniert: „Positiv“ und „negativ“ oder „safe“ und „unsafe“ – was sagt das heute aus? Wir wissen inzwischen ja, dass man sich bei einem HIV-Positiven in erfolgreicher HIV-Therapie nicht infizieren kann. Dagegen gibt es viele vermeintlich HIV-Negative, die von ihrer Infektion nichts wissen, und ohne Gummi unterwegs sind …
Zeit und Erfahrung haben mir gezeigt, dass sehr viele Typen doch keine Gummis benutzen, oder nur unter Druck. Ich wurde oft abgelehnt, weil ich nicht ohne Kondom ficken wollte. Dann gab es auch zwei Fälle, wo das Gummi „verschwunden“ bzw. „weggerutscht“ ist. Das hat mein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle zerbrochen.
Und was hat dich zur PrEP geführt?
Die Verlockung, mal das Kondom wegzulassen, wurde immer größer. Ich kam zu einem Punkt, wo ich entscheiden musste: Entweder lebe ich mit ständiger Angst vor HIV, weswegen ich Sex auch nicht uneingeschränkt genießen kann, oder ich gebe auf und akzeptiere, dass HIV kein „Wenn“, sondern ein „Wann“ ist. Ich habe immer wieder junge Männer mit dieser Einstellung getroffen: „Ich werde sowieso irgendwann HIV bekommen. Wenn es passiert, dann lasse ich mich einfach behandeln.“
Diese Einstellung kam für mich aber nicht in Frage. Glücklicherweise habe ich zu diesem Zeitpunkt von der PrEP erfahren und wusste sofort, das ist genau die dritte Option, die ich brauche.
Was hat dein Umfeld gesagt, als du mit der PrEP begonnen hast? Wie waren die Reaktionen?
Das war sehr unterschiedlich. Bei Heteros kam das eigentlich sehr gut an – der Vergleich mit der Anti-Baby-Pille war für sie fast selbstverständlich.
Die Schwulen dagegen hatten schon Probleme damit und waren teils ziemlich moralisch. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass es manchen Schwulen nach mehr als 30 Jahren „Condom-only“-Botschaft schwerfällt, diese fast schon heilige Botschaft aufzugeben. Immerhin haben wir ja alle gelernt, Analverkehr ohne Gummi sei eine „Sünde“. Und jetzt kommt jemand, der meint, Sex ohne Gummi sei nicht mehr unsafe?!
„Mit der PrEP kann sich jeder schützen, ohne mit dem anderen verhandeln zu müssen“
Wir waren so lange daran gewöhnt, dass der andere für unsere Gesundheit verantwortlich ist, und plötzlich kann jeder sich mit der PrEP schützen, ohne mit dem anderen verhandeln zu müssen … Das verlangt ein großes Umdenken.
Hat sich dein Sexleben mit der PrEP verändert?
Ich hatte mit der PrEP anfangs eine ziemlich wilde Zeit und habe einiges ausprobiert … (lacht) Und jetzt weiß ich besser, wo meine Grenzen liegen. Die viel größere Veränderung hat letztlich im Kopf stattgefunden und nicht zwischen den Beinen. Plötzlich war es mir möglich, eine Nähe und Intimität zuzulassen und zu fühlen, die ich bisher nicht von mir kannte. Früher war beim ersten Treffen die Hauptfrage: „Ist er für mich riskant?“ Jetzt geht es mir darum, die Person kennenzulernen.
Auch mein Alltag ist seitdem anders. Die Angst vor HIV war bei mir oft im Hinterkopf – dieses ständige Rechnen, mit wem habe ich was getan und wo könnte ein Risiko bestehen, hat mit der PrEP aufgehört. Vor der PrEP hatte ich gar keine Ahnung, wie viel Einfluss diese Angst auf mein ganzes Leben hatte – und eben nicht nur auf mein Sexleben.
Was sagst du zu den Gegnern, die behaupten, PrEP würde ein Tor zu anderen sexuell übertragbaren Infektionen öffnen?
Jeder, der PrEP unter ärztlicher Aufsicht nimmt, wird alle drei Monate auf sexuell übertragbare Infektionen untersucht und falls nötig auch behandelt. Ja, es gibt genug anderen Mist, gegen den aber auch Kondome nur teilweise schützen, und viele Fälle sind symptomlos. Wer behauptet, er brauche nicht regelmäßig beim Arzt Abstriche machen zu lassen, weil er immer mit Gummi fickt und keine Symptome hat, wiegt sich und seine Partner in einer falschen Sicherheit.
„Mehr Menschen trauen sich, den Sex zu haben, den sie sich eigentlich wünschen“
Der Anstieg der sexuell übertragbaren Infektionen hat lange vor der PrEP angefangen und ist eigentlich ein Zeichen, dass mehr Menschen sich trauen, den Sex zu haben, den sie sich eigentlich wünschen. Ich sehe das als positiven Schritt zur Heilung vom Aids-Trauma.
Bisher haben Versuche, diesen Anstieg einzudämmen, nicht viel gebracht. Die PrEP könnte die Lage ändern – endlich können sich genau die Männer, die davon am meisten profitieren könnten, regelmäßig vom Arzt beraten und auf sexuell übertragbare Infektionen testen lassen! Könnte das nicht sogar zu einem Rückgang der anderen Infektionen führen?
Du hast irgendwann angefangen, dich als Aktivist für die PrEP einzusetzen. Warum?
Weil ich es traurig fand, dass junge Schwule das Risiko einer Infektion bewusst eingehen, während es schon seit Jahren eine neue, zusätzliche Schutzmöglichkeit gibt! Und auch, weil ich es 2015 untragbar fand, dass in Deutschland der Zugang zur PrEP noch fast unmöglich war. Wenn das Thema nicht so moralistisch geladen wäre oder wenn HIV ein Problem der Heterogesellschaft wäre, wäre die PrEP schon viel früher verfügbar gewesen. Ich wollte anderen in der Community den Zugang zur PrEP einfacher machen.
Wie setzt du dich konkret für die PrEP ein?
Zunächst habe ich einen Planetromeo-Club gegründet, um Informationen darüber zu verbreiten, wie man in Deutschland an die PrEP kommen kann. Mit der Zeit ist die PrEP.jetzt-Gruppe auf Facebook daraus gewachsen, die sich der tollen Webseite von Sven Lüke angeschlossen hat.
Ich habe auch eine Menge Einzelberatungen durchgeführt, als die Ärzte dies noch nicht tun durften. Meine Arbeit hat sich aber mit der Zeit geändert – ich nehme mittlerweile an medizinischen Kongressen teil, um die PrEP-Nutzer und ihre Bedürfnisse zu repräsentieren. Das hat zu großen Veränderungen in den Arztpraxen und Beratungsstellen geführt.
PrEP.jetzt ist mittlerweile ein Verbindungspunkt zwischen Nutzern, Ärzten und Community-Organisationen geworden, und dieser Austausch bereichert alle Seiten.
Jetzt können wir alle Hand in Hand arbeiten, um die Umsetzung der PrEP durch die gesetzlichen Krankenkassen so reibungslos wie möglich zu schaffen.
*Das Interview wurde ursprünglich im Sommer 2016 auf iwwit.de veröffentlicht. Wir haben es zusammen mit Emmanuel anlässlich der Einführung der PrEP-Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen zum 1. September 2019 aktualisiert.
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3 Kommentare
Dr. med. Jan-Christian Gumpmann 7. Oktober 2016 0:19
Ich kann davor nur warnen, Sex ohne Kondom zu enttabuisieren. Wir sind im Zentrum eines Sturms von multiresistenten Gonokokken, massenhaft unerkannten tropischen Chlamydienstämmen (LGV) und einer erneuten Syphilliswelle. Die Spätfolgen für Herz, Lunge und Gelenke von unbehandelbaren Tripper- und Chlamydieninfektionen sind gravierend. Nur ein geringfügiger Bruchteil der Infektionen wird überhaupt erkannt. Den siffenden Tripper gibt es nur noch sehr selten. Dabei nimmt die Durchseuchung der Community immer weiter zu. Und die Resistenzen sind praktisch nicht mehr in den Griff zu bekommen. Ich gehe davon aus, dass wir noch vor dem Ende des Jahrzehnts das erste echte Reserveantibiotikum gegen Gonokokken benötigen werden.
Die Resistenzen gehen vor allem darauf zurück, dass sich Chlamydien und Tripper häufig nach dem Sex als Infekt der Atemwege zeigen und Hausärzte in dieser Situation normale, aber für diese Bakterien viel zu gering dosierte Antibiotika verschreiben. So werden massenhaft Resistenzen produziert. Jeder homosexuelle Mann sollte eigentlich von sich aus bei Infekten in den Bronchien, Nasenneben- und Stirnhöhlen oder Rachen im Inkubationszeitraum nach Sexualkontakt die Möglichkeit erhalten, die Medikamente im richtiger Dosis vor irgendwelchen anderen Antibiotika zu erhalten.
Dass Tripper und Chlamydien als disseminierende Infekte auftreten, ist noch nicht so erforscht, wie es sein müsste. Viele ärztliche Kollegen wissen es gar nicht.
Ebenso problematisch ist, dass die Abstrichtestungen, aber auch die PCR, nach der Einnahme auch nur einer einzigen Tablette Antibiotikum, egal welches, die Infekte nicht mehr nachweisen. Da Tripper und Chlamydien aber häufig das Gesicht einer Erkältung mit bakerieller Bronchitis/Nasennebenhöhlen/Racheninfektion haben, verschreiben viel zu häufig zunächst Hausärzte ein viel zu gering dosiertes und/oder falsches Antibiotikum. Mit STD kennen sich viel zu wenige aus.
Das ist die Realität! Ich hoffe, dass das hier auch Kollegen lesen. Wer in dieser Situation PreP propagiert, hat den Verstand verloren oder weiss nicht wovon er spricht!
John Smith 30. September 2019 14:57
Ich kann nur davon warnen, sich auf die medizinische Meinung eines „Dr. Med Jan-Christian Gumpmann“ zu verlassen, zu dem drei voneinander unabhängige Internetsuchmaschinen (Google, Duckduckgo, Bing) nicht einen einzigen weiteren Eintrag – weltweit – gefunden haben.
Das einzige Mal, wo „Jan-Christian Gumpmann“ im gesamten Internet auftaucht, ist als Kommentator unter diesem Artikel.
Holger Wicht 21. November 2016 16:17
Lieber Herr Dr. Gumpmann, herzlichen Dank für Ihre Hinweise auf andere Geschlechtskrankheiten und die Resistenzproblematik. Das sind auch aus unserer Sicht sehr wichtige Themen. In der Prävention müssen entsprechende Informationen eine wichtige Rolle spielen. Wir beziehen sie bereits ein und werden das in Zukunft noch verstärkt tun. Es geht aus unserer Sicht darum, deutlich zu machen, dass Kondome das Risiko sexuell übertragbarer Infektionen deutlich verringern (aber leider ja auch nicht ausschalten), und dass regelmäßige Checks und fachgerechte Behandlung in der spezialisierten Praxis für schwule und bisexuelle Männer sehr wichtig sind.
Ein Missverständnis möchten wir gerne ausschließen: Ganz gewiss „propagieren“ wir die PrEP nicht, schon gar nicht als die bessere Schutzmöglichkeit. Wir möchten sie vielmehr für diejenigen Menschen verfügbar machen, die ein besonders hohes HIV-Risiko haben, weil sie ohnehin häufig ungeschützten Sex haben. Dies, weil andere Schutzmöglichkeiten für sie aus verschiedenen Gründen nicht richtig funktionieren. Es geht also primär darum, HIV-Infektionen zu verhindern!
Mit der Schutzwirkung der HIV-Medikamente, sei es als Therapie oder PrEP, ist kondomloser Sex für manche Menschen in bestimmten Situationen (wieder) zu einer Möglichkeit geworden. Viele empfinden das als befreiend. Das ist aus unserer Sicht nicht verwerflich. Das Rad der Zeit zurückdrehen können und wollen wir nicht.
Aufgabe der Prävention ist nun, auch die damit verbundenen Risiken aufzuzeigen, damit Menschen sie in ihre individuellen und situationsbedingten Entscheidungen über ihr Schutzverhalten einbeziehen können. Wir müssen zeigen, wie man Risiken minimieren kann und dass Kondome nach wie vor für die meisten Menschen der einfachste Schutz sind, der auch bei anderen Krankheitserregern in gewissem Maße greift.
Denjenigen, die die PrEP brauchen, um HIV-negativ zu bleiben, müssen wir aber die Möglichkeit eröffnen, sie zu bekommen und richtig anzuwenden. Die Lösung kann aus unserer Sicht nur eine reguläre Abgabe zulasten der Krankenkassen bzw. zu einem erschwinglichen Preis sein. Nur so ist sichergestellt, dass die PrEP fachgerecht unter ärztlicher Kontrolle genommen wird und dass regelmäßige Checks auf andere Infektionen durchgeführt werden – und zwar beim Spezialisten. Dann kann die Abgabe der PrEP sogar einen Beitrag leisten, diese Infektionen frühzeitig zu erkennen und fachgerecht zu behandeln. Denn PrEP-Anwender werden häufig gecheckt, PrEP-Ärzte sollten Infektiologen bzw. Spezialisten sein.
Hinsichtlich der PrEP wissen wir uns im Wesentlichen einig mit der WHO, UNAIDS, der Deutschen AIDS-Gesellschaft und dem Zusammenschluss der niedergelassenen HIV-Mediziner, dagnä. Der von Ihnen geschilderten Probleme sind wir alle uns dabei wie gesagt sehr bewusst.
Unsere Position und weitere Überlegungen der PrEP können Sie hier nachlesen: https://causa.tagesspiegel.de/gesellschaft/eine-pille-gegen-hiv/was-wirkt-muss-zur-anwendung-kommen.html