„Prävention fängt da an, wo Menschen über ihr Verhalten nachdenken“
Stehen die in Strafverfahren vorgenommenen Täter-Opfer-Zuschreibungen der Prävention im Wege?
Mehrfach. Wir wissen, dass die Mehrzahl der HIV-Infektionen in Begegnungen von Menschen stattfinden, die von der eigenen Infektion noch nichts wissen oder wissen können. Die Antwort darauf kann doch nur sein, an den Selbstschutz aller zu appellieren und die tatsächlichen Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Danach ist nicht der wissende – und schon gar nicht der behandelte – Positive der Grund für eine HIV-Übertragung, sondern das eigene Verhalten.
Man muss sich fragen: Was ist mein Part, dass ich negativ bleibe? Wenn mir erzählt wird, da ist jemand, der hat Schuld, weil er ein überlegenes Sachwissen hat, bin ich fein raus. Dann sind die anderen schuld. Wenn du mit jungen, gerade erst positiv Getesteten sprichst, kommt immer wieder, ihnen sei etwas zugestoßen, mit dem sie selbst eigentlich nichts zu tun hätten. Die Infektion hat nicht einfach nur stattgefunden, sondern sie sind infiziert worden, es ist ihnen etwas passiert. Das hat aus ihrer Sicht zunächst einmal nichts mit ihrem Verhalten zu tun. Die Sicht der Justiz verstärkt solche Haltungen. Deswegen schadet sie. Prävention fängt da an, wo Menschen über ihr Verhalten nachdenken, wo sie sehen, was das mit ihrem Lebensstil, ihren seelischen Notwendigkeiten zu tun hat. Es geht um die Stärkung des Urteilsvermögens, der Entscheidungsfähigkeit.
„Die Dramatisierung der Infektionsmöglichkeiten und der Folgen einer Infektion schadet allen am Sex Beteiligten“
Aber auch auf der individuellen Ebene behindert eine simple Täter-Opfer-Zuschreibung Prozesse, die notwendig sind, um mit einem positiven Testergebnis klarzukommen. Wer glaubt, Opfer eines von außen kommenden Ereignisses zu sein, hat es schwerer, zu sich selbst zu finden, sich mit der eigenen Sexualität mit all ihren Sehnsüchten auseinanderzusetzen. Erst wenn ich das Virus als – meinethalben „leider“ – zu mir gehörig betrachte, kann ich es in meinem Leben relativieren. Die in der Strafrechtswirklichkeit herrschende Dramatisierung sowohl der Infektionsmöglichkeiten als auch der gesundheitlichen Folgen einer Infektion schadet allen am Sex Beteiligten, ob sie nun auf der Anklagebank sitzen oder im Zeugenstand sind. Es lenkt von der zentralen Frage ab, wie man als HIV-Infizierter sein Leben leben kann, ohne HIV übermächtig werden zu lassen. Prävention muss Menschen helfen, sich selbst einzuschätzen und den sozialen Raum, in dem sie sich bewegen.
Die HIV-Infektion ist üblicherweise unterlegt mit Vorstellungen von Verantwortlichkeit, Scham, Schuld und Versagen – und das Ganze am besten noch vor dem Hintergrund einer seelischen Erkrankung. Warum kann man sie nicht einfach als zwangsläufige Folge ausgelebter sexueller Sehnsüchte und als Ausdruck grundlegender seelischer Bedürfnisse sehen? Eine Infektion ist dann kein Scheitern an hehren gesundheitlichen Zielen, sondern Ausdruck einer anderen Gewichtung von Gesundheit in der jeweiligen Situation.
Mir ginge es damit besser, wenn Menschen die Situation einschätzen und für sich klar entscheiden könnten, wie sie ihre Sexualität leben wollen. Dazu kann auch gehören, von einem positiven Testergebnis nicht überrascht zu werden. Der Preis wäre sonst nämlich die Verleugnung sexueller Wünsche, die wir uns ja nicht zufällig ausgesucht haben. Hans Peter Hauschild, einer der frühen Aidshilfe-Vorkämpfer, hat sie „die Handschrift der Seele“ genannt. Wenn eine HIV-Infektion der Preis dafür ist, so müssen wir feststellen, dass sie unter den Bedingungen in unseren Breiten gut behandelbar ist. Wir müssen sie dann einfach als zu uns gehörig akzeptieren. Aber das kommt mir noch viel zu selten als Lebenshaltung vor. Für die meisten Leute ist HIV immer noch eine Katastrophe.
Wo liegt dann heute das Problem? HIV selbst ist medizinisch keines mehr. Andere Krankheiten haben Ängste und Beschwernisse zu bieten, die weit über das lebenslange Schlucken einiger Tabletten hinausgehen.
Unsere Gesellschaft kann sehr schwer ertragen, dass Menschen sich gegen eine Gesundheit entscheiden, die als allgemein wünschenswert angesehen wird. Dabei gerät völlig aus dem Blick, dass neben dem eigentlich nur über das Blutbild feststellbaren Gesundheitszustand eine Vielzahl von Faktoren das seelische und körperliche Wohlbefinden beeinflusst und dass es auf viele Fragen keine einfachen Antworten gibt. Zu uns kommen ja Menschen, die häufig mehrere Probleme haben. Der Geschäftsführer der Frankfurter Aidshilfe, Achim Teipelke, hat das so beschrieben:
„Wir bekommen immer mehr Kontakt zu Menschen, die beruflich erfolgreich sind und dennoch Unterstützung brauchen“
„Im Kern geht es um das Recht, als Person angenommen und wertgeschätzt zu sein, und das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft. Während es früher immer auch darum ging, helfende Freundeskreise zu unterstützen, ist es inzwischen eine soziale Realität, dass wir immer mehr von Menschen in Anspruch genommen werden, die sozial abgekoppelt sind, abgekoppelt von jeder Teilhabe an Gemeinschaft, Kultur und Liebe. Es sind die Schwachen, die Marginalisierten, die Prekarisierten, die Behinderten und Kranken, die ethnisch Ausgegrenzten, die als vulnerable, also verletzliche Gruppen einer Gesellschaft gelten, welche sich in rasanter Geschwindigkeit zu einer entkollektivierten, entsolidarisierten Ansammlung von Individuen wandelt, in der Marktfähigkeit, Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Teilhabe an gesellschaftlichen und kulturellen Errungenschaften immer stärker von ‚Selbstoptimierungsfähigkeiten’ abhängen. Von dieser Entwicklung sind viele unserer Rat, Hilfe und Unterstützung Suchenden komplett abgekoppelt. Und damit nicht genug: Die Forderung, ein Individuum zu sein oder zu werden, bedeutet für viele nicht nur eine Überforderung persönlicher Fähigkeiten, sondern bürdet in letzter Konsequenz dem Einzelnen auch die Sorge für die sozialen Lebensrisiken wie Arbeit, Bildung, Krankheitsvorsorge und Alter auf – ein Ausstieg aus den sozialen Sicherungssystemen der Arbeitsgesellschaft mit fatalen Folgen für unsere Solidargemeinschaft. Ignoriert wird bei der Entwicklung völlig, dass Individuum sein und Verantwortung übernehmen nur in Gemeinschaft geht. Das setzt wertschätzende und stärkende Strukturen und Räume der Begegnung voraus, die Fähigkeit, in Kontakt zu treten, und die finanziellen Möglichkeiten zur Teilhabe.“
Andererseits bekommen wir, seit wir uns verstärkt des Themas „HIV und Arbeit“ annehmen, immer mehr Kontakt zu Menschen, die beruflich erfolgreich sind und die HIV-Behandlung problemlos in ihren Alltag integriert haben, aber dennoch unsere Unterstützung brauchen, sei es bei Methoden zum Stressabbau oder sei es, weil sie in ihrem Umfeld nicht offen über HIV sprechen können. Auch hier sehen wir Vereinzelung, weil HIV kein beiläufiges Thema ist.
„Viele im HIV-Bereich Engagierte haben Angst vor einer Entdramatisierung“
Steckt die Aidshilfe in einem Kommunikationsdilemma? Einerseits ist es für Justiz und Arbeitgeber wichtig, dass HIV aufgrund der heutigen Behandlungsmöglichkeiten entdramatisiert gezeigt wird, um dem Spuk von Strafverfahren ein Ende zu bereiten und Begründungen für die Kündigung von Arbeitsverhältnissen wie „besondere Gefährlichkeit“ oder „unzumutbar für Kunden und Geschäftspartner“ endgültig in den Papierkorb der Geschichte zu verbannen. Andererseits finden sich viele HIV-Positive und Aidshilfen in diesem Bild nicht wieder.
Erschwerend kommt dazu, dass viele im HIV-Bereich Engagierte Angst vor einer Entdramatisierung haben und nicht sehen, dass Prävention sich immer rechnet und der Bedarf an Personalkommunikation durch die Ausdifferenzierung der Botschaften und auch der Beratungsinhalte infolge der heutigen Therapiemöglichkeiten steigt. Die Gesellschaft ist es den von Achim Teipelke beschriebenen Menschen ohnehin schuldig, sie zu versorgen. Aber es stimmt schon: Ich könnte sagen – das trifft auch für viele andere zu –, mir geht es gut, HIV ist nicht mein Problem. Dabei müsste ich aber die gesellschaftliche Wirklichkeit an mir abprallen lassen.
„Wir brauchen Bilder, in denen man sich spiegeln kann“
Vielleicht kann man das Ganze als Umbruchprozess sehen, in dem wir aufgerufen sind, zu den ohnehin vorhanden Bildern als Gegengewicht die sichtbaren Veränderungen zu präsentieren. Zu Reflexion kommst du über persönliche Begegnungen und das Erzählen von Lebensgeschichten. Es gibt aber auch Menschen, die bereit sind, auf einer Metaebene Debatten zu führen. Natürlich sind auch sie nicht frei von den in der Öffentlichkeit transportierten Bildern. Wir brauchen Bilder, in denen man sich spiegeln kann. Redlichkeit in der Beschreibung dessen, was ist, finde ich sehr wichtig. Das Problem ist, dass die Bandbreite der Realitäten ziemlich groß ist. Das so zu beschreiben, dass es verstanden wird, ist schwer. Aber wenn ich sehe, was Aidshilfen schon alles an Veränderungen angestoßen haben, ist mir darum nicht wirklich bange.
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1 Kommentare
alivenkickn 25. August 2012 9:31
Analog unter dem Aspwekt der Thematik die mit HIV einhergeht bzw HIV tangiert, anschneidet und beinaltet, könnte man auch sagen: „Veränderung fängt da an, wo Menschen über ihr Verhalten nachdenken“
HIV ist mehr als nur eine Krankheit – HIV steht auch für Verhalten.