Schöner neuer Sex?

Von Holger Wicht
Im Internet geht’s direkt zur Sache, und meistens geht es um Sex. So wollen wir es in diesem Text auch halten. Das Thema: „Sex 2.0 – Wie verändert das Internet Sexualität und Prävention?“. So hieß Ende April die letzte Ausgabe im Live-Talk „Salon Wilhelmstraße“ in der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH). Wie’s war, steht hier, inklusive bewegter Bilder zum Anklicken.

Sex 2.0? Wow, das klingt gut! Aber lohnt sich das Upgrade wirklich? Ist die Sexualität, die mit der Rasterfahndung nach Partnern auf den blauen Seiten beginnt, wirklich etwas fundamental Neues? Oder eben doch nur – Verzeihung – Internetblasen? Und vor allem: Ist der Preis für die neue Freiheit beim Online-Daten ein höheres HIV-Risiko, wie manche Forscher vermuten?

„Das Internet ist sexualisiert wie kaum ein realer Raum.“

Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker eröffnet die Runde mit eine starken These: Sexualität online und offline sei „völlig verschieden“. Die Kommunikation im Netz sei „sexualisiert in einer Weise, wie wir sie in realen Räumen kaum haben.“ Aus Danneckers Sicht macht genau das den besonderen Reiz aus: Wir sind nicht als reale Personen online – und darum viel weniger gehemmt.

Und mit noch einer These überrascht Dannecker: „Ich weiß gar nicht, ob im Netz so viele reale Kontakte gesucht werden. Gesucht wird ganz offenkundig sexuelle Erregung.“ Schon die Kommunikation im Web sei für viele lustvoll, für manche sei sie sogar der eigentliche Zweck. Im Vokabular der Psychoanalyse: Online-Lust ist Vorlust.

Harry Wrensch, 27, steht mehr auf live. Das Rollenmodell der DAH-Kampagne „Ich weiß was ich tu“ pflegt im Netz den Kontakt zu seinen Freunden und Bekannten und guckt auch gerne mal, „ob da ein netter Fisch ist, den man angeln kann“.

Der junge Mann mit Iro und offener Fernbeziehung findet allerdings, dass online zu viel geschwafelt wird. Er mag es, wenn man schnell handelseinig wird und lernt seine Sexpartner darum eigentlich lieber in der Szene kennen: „Da sieht man die Menschen gleich so wie sie sind, vollständiger.“

Manche User hingegen stehen gerade auf die Projektionen und Illusionen, die das Web mit sich bringt, und einige wollen sogar die ganze Nummer virtuell: Sie betreiben Cyber-Sex, tippen also Erregendes in die Tastatur und masturbieren dabei bis zum Orgasmus. Ja, auch das sei „echter Sex“, betont Dannecker. Zumal diese Betätigung im Lustempfinden und Begehren der Beteiligten Spuren hinterlasse. „Engramme“ nennt Dannecker diese Form von Einschreibungen, die das künftige sexuelle Handeln beeinflussen können.

„Das Netz generiert sexuelle Wünsche, es kann gar nicht anders sein.“

Womit die Runde bei ihrem Knackpunkt angelangt ist: Beschädigt das virtuelle Geschehen das reale Safer-Sex-Verhalten? Wenn sich zwei per Tele in eine lustvolle kondomlose Situation hineinfantasieren – üben sie dann geradezu ungeschützten Sex? Soweit will niemand gehen. „Ich glaube mittlerweile aber schon, dass das Internet sexuelle Wünsche generiert“, sagt Dannecker. „Die Internetsexualität kann nicht ohne Einfluss auf die reale Sexualität sein.“

Was aber passiert nun beim realen Sex, der im Netz angebahnt wurde? Befürchtungen gibt es im Übermaß. So findet sich in der Literatur zum Thema immer wieder das Argument, das vergleichsweise leichte Dating im Internet sei ein „Motor der Promiskuität“ und damit auch der HIV-Epidemie.

Die Frage geht an den Soziologen Michael Bochow. Mit seinem Team vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) hat er eine umfangreiche User-Befragung zum Thema durchgeführt. Demnach sind die webbasierten Sexkontakte auf den ersten Blick tatsächlich häufiger unsafe.

Schaue man genauer hin, seien aber andere Faktoren entscheidend, erklärt Bochow. Vor allem hohe Partnerzahlen und Drogengebrauch steigerten die Risikobereitschaft. Männer mit einem entsprechenden Lebenswandel nutzen demnach besonders häufig das Internet. Bei Kontakten, die im Nachtleben angebahnt werden, sind sie aber nicht vorsichtiger: „Online oder offline macht kaum einen Unterschied“, fasst Bochow seine Erkenntnisse zusammen, betont aber zugleich, dass noch Forschungsbedarf besteht.

Unklar ist zum Beispiel, welchen Einfluss das virtuelle Dating auf das so genannte Risikomanagement nimmt. Online wird möglicherweise häufiger über HIV und Safer Sex kommuniziert als offline. Gay Romeo legt das Thema seinen Nutzern nahe, zum Beispiel mit der Frage nach Safer-Sex im Profil. Aber wie ehrlich sind die Angaben der User zu HIV-Status und Safer-Sex-Präferenzen? Und wie leichtgläubig sind sie? „Serosorting zwischen vermeinlich Negativen kann schnell zum Seroguessing werden“, sagt Michael Bochow.

Vor Ort im Netz – für Präventionisten ein Traum!

Wie schnell man dabei daneben liegen kann, illustriert eine Erkenntnis von Rolemodel Harry. Nicht verpassen! Hier klicken!

Harry, IWWIT-Kampagne

Und dennoch: Für die Präventionisten in der Runde ist das Netz ganz klar viel mehr Chance als Risikofaktor. Werner Bock, Leiter der Online-Beratung www.aidshilfe-beratung.de stellt klar: „Das vermeintlich anonyme Internet macht es den Leuten leicht, offen über ihre Situation zu sprechen.“

Clemens Sindelar unterstreicht das. Er ist bei der DAH für das „Health Support“-Projekt zuständig, in dem geschulte Gay-Romeo-User als virtuelle Vor-Ort-Arbeiter tätig sind. Und die kommen viel leichter mit der Zielgruppe ins Gespräch als die Kollegen in der „realen“ Szene: „Die schalten ihr Profil ein und dann kommt auch schon ,Schön, dass du da bist, ich hab’s gestern mit drei Leuten getrieben und wir haben dieses und jenes gemacht – muss ich mich jetzt testen lassen?‘“

So ist das im Internet. Alles ganz direkt und ohne Umschweife. Man muss es nur zu nehmen wissen.

Weitere Infos stehen im aktuellen DAH-Forumsband „Ins Netz gegangen“, der den Anlass zur Diskussion gab. Darin enthalten sind auch Beiträge von Michael Bochow, Martin Dannecker und Werner Bock.

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