WERTSCHÄTZUNG

Was ich von Drogengebrauchern gelernt habe

Von Gastbeitrag
Der „Graswurzel“-Aktivist Dirk Slater setzt sich seit 20 Jahren für soziale Gerechtigkeit ein. Seine Erfahrungen hat er neulich in einem Social-Media-Training weitergegeben, das vom Fachbereich Internationales der Deutschen AIDS-Hilfe organisiert wurde. In einem Beitrag für seinen Blog www.fabriders.net beschreibt er, was er bei seiner ersten Begegnung mit Drogengebrauchern und dem Thema Harm Reduction (Schadensminderung) gelernt hat. Wir finden: lesenswert!

Original: „What I Learned from Drug Users“ (fabriders.net, 11.4.2013); Übersetzung: Holger Sweers. Vielen Dank für die Erlaubnis, den Text hier zu veröffentlichen.

Vor Kurzem war ich für Tactical Studios in Kiew und habe dort für die Deutsche AIDS-Hilfe, das Eurasian Harm Reduction Network und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ein Social-Media-Training durchgeführt. Okay, nicht alle Teilnehmer waren Drogengebraucher. Mit dabei waren auch Leute, die sich für verschiedene marginalisierte [an den Rand gedrängte, d. Red.] Communitys einsetzen, die unter den Folgen der Gesundheitspolitik leiden. Das waren zum Beispiel Aktivisten, die sich mit der Gesundheit in Haft beschäftigen oder sich dafür engagieren, die Zahl von Hepatitis-C- und HIV-Übertragungen zu verringern. Es war meine erste Begegnung mit der Arbeit im Bereich Harm Reduction und den damit verbundenen Themen, wenn auch nicht die erste Begegnung mit marginalisierten Gruppen, und natürlich gibt es viele Überschneidungen mit der Arbeit, die ich früher schon mit und für Sexarbeiter/innen, Menschen mit HIV/Aids und Transgender gemacht habe.

gehören ins Zentrum der politischen Debatte (Foto: D. Slater)
Die Betroffenen gehören ins Zentrum der politischen Debatte (Foto: D. Slater)

Ein Social-Media-Training muss heute mehr bieten als die Beschäftigung mit der Frage, wie man seine Facebook-Reichweite maximieren kann. In unserem Social-Media-Zeitalter fühlen sich die meisten User von der Informationsflut überfordert, und deswegen müssen die Teilnehmer geschult werden, wie sie mit all den Informationen, die ihnen zur Verfügung stehen, umgehen und wie sie sie analysieren können. Ich habe mich in der letzten Zeit stark von der „Big-Listening“-Methode von Upwell inspirieren lassen und mich mit der Nutzung der Sozialen Medien für die Beobachtung von Diskussionen rund um ein Thema beschäftigt. Die Frage, die ich mir gestellt habe, war: Kann eine US-amerikanische Kampagne zu den Ozeanen auch für osteuropäische Drogenkonsumenten wichtig sein, die sich für die Substitutionstherapie einsetzen? Die Antwort ist ein klares Ja.

Entscheidend ist die genaue Analyse aller „Stakeholder“

Das gilt ganz besonders dann, wenn man die Teilnehmer zum Nachdenken darüber bringen will, wie sie mit Social Media etwas über ihre „Stakeholder“, also alle, die sich für ihre Arbeit engagieren oder von dieser Arbeit erreicht oder beeinflusst werden (sollen), in Erfahrung bringen können und die Diskussionen mitbekommen, die rund um ihre Themen online abgehen. Wirklich praktisch relevant wurde es, als ich die Teilnehmer nach Schlüsselbegriffen und Hashtags fragte, mit denen sie die Online-Diskussionen verfolgen könnten: Es gab einen großen Aha-Effekt, als die Gruppe zur Substitutionstherapie mit zwei Listen ankam – eine mit Schlüsselbegriffen ihrer Gegner und die andere mit den Begriffen, die ihrer Meinung nach verwendet werden sollten: „Wir wollen nicht mehr über Methadon diskutieren“, sagten sie.

Gelernt: Nur 30 von 7.000 Drogengebrauchern bekommen die Substitutionstherapie (Foto: D. Slater)
Gelernt: Nur 30 von 7.000 Drogengebrauchern bekommen die Substitutionstherapie (Foto: D. Slater)

Wie unsinnig die Regelungen zur Substitutionstherapie sind, zeigte sich ganz konkret am Zeitplan der Veranstaltung: Wir konnten nicht vor 11 Uhr anfangen, weil die substituierten Teilnehmer jeden Morgen in weit entfernte Kliniken fahren müssen, um ihre Medikamente zu bekommen. Um 7 Uhr habe ich sie immer beim Frühstück getroffen, aber dann mussten sie los zu ihrem Krankenhaus, um rechtzeitig zum Beginn des Trainings wieder zurück zu sein. Das hat mir sehr deutlich gemacht, wie positiv sich ein verbesserter Zugang zur Substitutionstherapie auswirken würde.

Wenn jeman mit Moral kommt, sollte man mit Fakten antworten

Interessant wurde es auch, als wir die Teilnehmer dazu aufforderten, sich intensiv mit ihren Stakeholdern zu beschäftigen (wir haben dazu die Methoden „Halbkreis“ [1] und „Pyramide“ [2] eingesetzt) sowie damit, wo sie online sind und welche Diskussionen gerade rund um ihre Themen geführt werden. Dabei sind wir zu einigen wirklich interessanten Ergebnissen zum Thema Taktik und Botschaften gekommen, insbesondere zum Umgang mit moralisch argumentierenden Gegnern – hier müsse man mit Fakten kontern, so die Erkenntnis. Eine Kampagne zur Reduzierung von HIV-Übertragungen von Müttern auf ihre Kinder zum Beispiel hat die Geburtenrate von Kindern mit HIV in Russland mit der in Afrika verglichen. Die Gefängnis-Gruppe zeigte auf, wie fehlender Zugang zu Routineuntersuchungen und medizinischer Behandlung zu mehr Todesfällen in Haft führt. Diejenigen, die sich für die Verringerung von Hepatitis-C-Übertragungen einsetzen, zeigten auf, dass ihre Länder nur zwei Prozent der für eine effektive Arbeit nötigen Mittel ausgeben. Und die Gruppe zur Verringerung von HIV-Übertragungen und Aids-Erkrankungen zeigte anhand von Zahlen auf, wie Stigmatisierung die Übertragungsraten erhöht. Die Taktik sollte also ganz klar sein, moralisch argumentierenden Gegnern mit empirisch belegten Daten entgegenzutreten und die Diskussion damit „umzudrehen“.

Halbkreis mit Stakeholdern
Der Halbkreis mit den Stakeholdern: Verbündete, Neutrale, Gegner (Foto: D. Slater)

Die wichtigste Erkenntnis, die ich aus dem Training mitgenommen habe, war wahrscheinlich die Erinnerung daran, welche Potenzial Social Media bieten, denjenigen Gehör zu verschaffen, die normalerweise aus den Diskursen über Entscheidungen, die ihr Leben beeinflussen, ausgeschlossen sind. Dieser Ausschluss aus den politischen Diskursen führt nämlich dazu, dass ihre Botschaften, wenn sie denn in seltenen Fällen doch einmal in den traditionellen Medien zu hören sind, häufig so weit von der aktuellen Debatte entfernt sind, dass sie automatisch abgetan werden. Durch die strategische Nutzung von Social Media, durch die Beobachtung des Diskurses und durch die stärkere Nutzung der Chancen, in Debatten einzugreifen und sie zu prägen, können Communitys ihren Kampagnen zu größerer Wirksamkeit verhelfen.

Nützliche Materialien und Seiten, die ich während des Trainings genutzt habe:

 

[1] Halbkreis-Methode: Ein Halbkreis wird in drei „Tortenstücke“ geteilt, in die man Verbündete, Neutrale und Gegner einträgt. Es gilt, die Verbündeten zu mobilisieren, die Neutralen zu informieren und den Gegnern entgegenzutreten.

[2] Pyramiden-Methode: Die mit der Halbkreis-Methode ermittelten Stakeholder werden gruppiert – diejenigen mit der größten Macht, Veränderungen durchzusetzen (oder zu verhindern), werden an der Spitze der Pyramide platziert.

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