„Wer eine innere Revolution schafft, kann Berge versetzen“
Sergiu, das Projekt „Substitution – ein Menschen-recht“ in der Berliner Aids-Hilfe ist sozusagen dein „Baby“. Warum hast du es ins Leben gerufen?
Aus der Notwendigkeit heraus. Als ich vor etwa fünf Jahren bei der Berliner Aids-Hilfe anfing, gab‘s dort damals schon viele Drogenkonsumenten in sehr schlechtem Gesundheitszustand. Einige starben leider auch – nicht wegen Überdosierungen, sondern weil sich ihre unbehandelte HIV-Erkrankung galoppierend entwickelt hatte. Dabei waren sie doch nach Deutschland gekommen, um ein besseres Leben zu haben.
„Es war absurd: Du schaust zu und kannst nichts machen“
In einem Fall konnte ich noch ein Ticket kaufen, damit der Mann zu Hause sterben konnte, einen anderen hab ich selbst im Dienstwagen in seine Heimat gefahren. Es war absurd – du schaust zu und kannst nichts machen, die Ärzte sagen dir, es ist hoffnungslos…
Aus welchen Ländern stammten diese Leute?
Das waren alles EU-Bürger aus Polen, Litauen oder Lettland, die schon zehn Jahre und länger in Berlin lebten und in ihre Drogen-Communities integriert waren. Ihre HIV-Infektion hatten sie aber verdrängt, weil sie einfach nur hierbleiben wollten. Sich mit HIV zu beschäftigen, hätte für sie bedeutet, ihr bisheriges Leben völlig zu ändern und aus der Drogenabhängigkeit rauszukommen. Aber das schafften sie nicht. Auf ihre Weise waren sie sogar glücklich, weil es das war, was sie sich wünschten und weshalb sie ihre Heimat verlassen hatten.
Klar war aber auch, dass ihnen das, worauf alle anderen, die krankenversichert sind, ein Recht haben, nicht zusteht – zum Beispiel eine Substitution. Und so haben wir beschlossen, hier etwas zu machen, wobei zuerst alle meinten, das gehe nur unter der Hand. Aber improvisieren wollte natürlich keiner, weil man sich da ganz schnell strafbar machen kann.
Wie funktioniert dann der legale Weg?
Eigentlich ganz einfach: Wenn man Nichtversicherte als Privatpatienten ansieht, kann der Substitutionsarzt ihnen ganz legal eine Substitution verordnen, die er bei der Drogenzentrale anmeldet. Jeder dieser Ärzte hat eine bestimmte Zahl zugelassener Patienten. Also haben wir Ärzte gesucht, die viele Substituierte betreuen und bereit waren, ein paar Plätze für unser Projekt zu opfern und in diesen Fällen unentgeltlich zu arbeiten. Das ist uns gelungen.
Substitutionsmittel auf Privatrezept – ganz legal
Und so läuft es: Die Medikamente – alle Substitutionsmittel außer Diamorphin – kaufe ich ganz normal auf Privatrezept in der Apotheke, die liefert sie dann direkt an die Substitutionspraxis, und der Arzt macht kostenlos die Substitutionsvergabe.
Und woher kommt das Geld, mit dem ihr die Medikamente bezahlt?
Den größten Anteil stellt die Deutsche AIDS-Stiftung aus PKV-Mitteln, aber auch von Substitutionsmittelherstellern bekommen wir etwas Geld. In den Projekttopf spendet außerdem der Paritätische Berlin und natürlich die Aidshilfe selbst: Wenn es zum Jahresende Finanzierungslücken gibt, dann schießt sie noch etwas zu.
Das Projekt wird über Spenden finanziert
Auch Privatleute gehören zu den Spendern. Zum Beispiel haben wir unlängst einen Umschlag mit mehreren hundert Euro bekommen, und da stand „für die Berliner Migrationshilfe“ drauf. Die Finanzierung ruht also auf mehreren Schultern, aber wir sind auf weitere Spender angewiesen, um das Projekt abzusichern. Die Spendenakquise gehört deshalb mit „zum Geschäft“.
Wie macht ihr das mit der Psychosozialen Begleitung? Normalerweise ist die „PSB“ bei einer Substitution ja vorgeschrieben.
Das gilt natürlich auch für unser Projekt. Die PSB, die sonst von der Renten- oder Krankenversicherung getragen wird, macht die Berliner Aids-Hilfe in diesem Fall kostenlos. Für die PSB bei Nichtversicherten bin ich zuständig, wobei mich zwölf Ehrenamtliche unterstützen – alles qualifizierte Leute mit der nötigen Haltung, die Fälle übernehmen können.
Weil wir die PSB aber nicht allein abdecken können, hab ich mich drum gekümmert, dass auch Kooperationspartner eine PSB-Lizenz bekommen. Wenn jetzt beispielsweise das Projekt OLGA eine drogenabhängige Frau wegen einer Substitution zu uns schickt, bezahlen wir die Behandlung und OLGA macht die PSB.
Und was muss man „mitbringen“, um einen Substitutionsplatz zu bekommen?
Wenn jemand bereit ist, sein Leben neu auszurichten, und das überzeugend darstellt, nehmen wir ihn oder sie ins Programm. Die Motivation zum Ausstieg hängt natürlich stark vom Gesundheitszustand ab: Wer noch gesund und gut drauf ist und viel Lust auf Drogen hat, verfügt ja nicht über die für eine Substitution nötige Compliance oder „Therapietreue“.
Entscheidungsgrundlage sind mehrere Gespräche, in denen festgestellt werden soll, ob jemand motiviert genug ist. Aber das gilt schließlich für alle Substitutionspatienten.
Wie schlecht muss es einem denn gehen, um auszusteigen?
Eigentlich müsste es Drogengebrauchern aus Osteuropa leichterfallen, mit Heroin aufzuhören, weil die Qualität der Droge in Berlin weitaus schlechter ist als in den Herkunftsländern – bis zu 90 % Beimischungen, die nichts mit Heroin zu tun haben, Tabletten und alle möglichen Schadstoffe. Wer Besseres gewöhnt ist, hat hier also kaum etwas vom Heroinkonsum. Aber die Leute bleiben dabei, weil sie abhängig sind. Also dosieren sie sich immer höher und spritzen sich auch noch Tabletten in die Venen. Davon bekommen sie schlimme Entzündungen an Händen und Füßen, und die Venen werden zerstört.
„Irgendwann merken sie, wie stark sie abbauen, und sagen sich: Ich hab die Nase voll“
Zu den Konsumrisiken, die sie aus ihrer Heimat kennen, kommen also noch weitere Gefahren hinzu. Irgendwann merken sie dann, wie stark sie abbauen, und sagen sich: Ich hab die Nase voll, ich will raus aus dem Drogenkonsum. Und dann haben sie ja auch noch HIV oder Hepatitis C, was sie bisher ausgeblendet haben.
Organisiert ihr dann neben der Substitution auch HIV- oder HCV-Therapien?
Die Berliner Aids-Hilfe hat in den letzten vier, fünf Jahren ein Netzwerk von jungen engagierten HIV-Ärzten aufgebaut, die ad hoc eine HIV-Behandlung sicherstellen können, obwohl es jedes Mal eine Riesenimprovisation ist. Wir können unseren Klienten aber nur eine „klassische“ Kombination anbieten und ab und zu eine Laboruntersuchung, die wir aus Spendengeldern bezahlen oder für die man uns die Kosten erlässt.
„Die HIV-Behandlung ist jedes Mal eine Riesenimprovisation“
Problematisch ist es bei Leuten mit akut behandlungsbedürftiger Hepatitis C. Auf eine so schwierige Therapie wie die gegen HCV können sich Nichtsubstituierte kaum einlassen, ob sie nun 12 Wochen dauert mit einem der neuen Medikamente oder 48 Wochen mit dem alten Interferon-Schema. Daher kriegen wir ad hoc auch keine HVC-Therapie improvisiert. Außerdem ist sie mit wesentlich höheren Kosten verbunden, schon gar mit den neuen Medikamenten. Und dieses Geld können wir nicht aufbringen.
Ad-hoc-Behandlungen sind zweifellos eine tolle Sache. Noch besser wäre allerdings ein Zugang zur Regelversorgung.
Und genau darum kümmern wir uns auch, unser Ziel ist ja nicht die Etablierung dieser „Ersatz“-Substitution. Bei den meisten Klienten des Projekts ist es leicht, sie in die Krankenversicherung und damit in die Regelversorgung zu bekommen, weil sie aus EU-Staaten wie Polen oder Lettland stammen, für die bekanntlich die Freizügigkeit gilt.
„Die Leute gehen putzen in Hotels oder arbeiten in Restaurants“
Wenn also jemand in der Lage ist, ein paar Stunden zu arbeiten, suchen wir zusammen einen Job. Die Leute gehen putzen in Hotels oder arbeiten in Restaurants – sie sind schon zufrieden mit einem 500-Euro-Job. Mit der nötigen Motivation, mit unserer Begleitung und einem Netzwerk wohlwollender Arbeitgeber, die uns signalisieren, dass sie solche Leute einstellen wollen, klappt das schon.
Klappt das oft?
Immer wieder. Darunter sind manchmal auch Leute, die schon im Herkunftsland berufstätig waren. In Osteuropa kann man von dem, was der Staat einem gibt, nicht leben, schon gar nicht, wenn man Drogen nimmt. Man muss arbeiten, um sich abends einen Schuss setzen zu können, und morgens ist man dann wieder auf der Baustelle.
„Während der Fahrt auf den Zug aufspringen, dessen Ziel das Überleben ist“
Aber egal, aus welchem Land jemand kommt: Wer stabilisiert ist und mit der Substitution gut vorankommt, entdeckt bei sich viele Potenziale und hat jetzt auch Zeit, etwas für sich zu tun. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Motivation unterstützt wird, beispielsweise in einer Paarbeziehung oder durch ein Kind. Liebe ist die Motivation überhaupt: Wer durch Liebe eine „innere Revolution“ schafft, kann wirklich Berge versetzen. Und so etwas nutze ich dann, um quasi während der Fahrt auf den Zug aufzuspringen, dessen Ziel das Überleben ist.
Wenn allerdings wir im Projekt die einzige Unterstützung sind, ist das mit der Motivation sehr schwer. Manche Klienten sind völlig vereinsamt und kennen niemanden in der Stadt. Diese Fälle sind ziemlich hoffnungslos, denn als Sozialarbeiter hat man für die Klienten ja nur sehr begrenzt Zeit. Wir versuchen dann, sie an verschiedene Netzwerke anzubinden.
Habt ihr auch Klienten aus Nicht-EU-Ländern?
Momentan betreue ich drei Klienten aus der Ukraine. Aber in den letzten Jahren hatte ich über zehn Leute aus dem Land, die dort fast gestorben wären, weil sie wegen Drogenbesitzes oder Prostitution kriminalisiert waren und deshalb keine Behandlung bekommen hatten.
Da war zum Beispiel eine Drogengebraucherin aus Odessa, eigentlich aus guter Gesellschaft und studiert, aber weil sie anschaffen ging und damit ganz offen umging, kam sie nicht ins Versorgungssystem rein. Sie wurde dann von ihrer Mutter auf einer sehr abenteuerlichen Reise und ganz ohne Papiere nach Deutschland gebracht. Wir haben für sie die Substitution und die HIV-Therapie organisiert und dann dafür gesorgt, dass sie einen legalen Aufenthalt bekam. Bei ihr hat das zwei Jahre gedauert. Solche Fälle gibt es immer wieder. Diese Leute sind besonders motiviert. Das zeugt von einem enormen Willen zu überleben.
Wie viele Leute betreut ihr derzeit im Projekt?
Die Fluktuation ist relativ hoch. Polen und Rumänen bekommen wir sehr schnell in die Regelversorgung, wenn sie gut motiviert sind. Im Moment bearbeiten wir 30, 40 Fälle, aber mehr geht leider nicht, weil die Berliner Substitutionsärzte schon ihre Grenzen erreicht haben.
„Unsere Warteliste ist schon bedrohlich lang“
Jetzt bin ich gerade dabei, junge Substitutionsärzte, die noch nicht viele Behandlungsplätze haben, für unsere Sache zu gewinnen. Auch an Allgemeinmedizinern bin ich dran, die eine Lizenz für die Substitution haben und sowieso mit Migranten arbeiten. Hoffentlich gibt’s da bald einen Durchbruch, denn unsere Warteliste ist schon bedrohlich lang.
Und wie alt sind eure Klienten im Schnitt?
Das Alter variiert je nach Herkunftsland. Unsere Klienten aus Polen sind über 30 und gehen auf die 40 zu, alle anderen Balten sind zwischen 25 und 30. Jugendliche betreuen wir derzeit nicht.
„Frauen sind stärker motiviert, ihr Leben umzukrempeln“
Die meisten Klienten sind übrigens Männer. Frauen sind in der Minderzahl, weil es in den osteuropäischen Drogen-Communities eben nicht so viele Frauen gibt. Wir hätten gern mehr Klientinnen: Sie sind stärker motiviert, ihr Leben umzukrempeln, und haben meist auch soziale Bindungen. Wenn Frauen zu uns kommen, dann sind sie meist auch erfolgreich.
Auf welchen Wegen kommen die Leute eigentlich zu euch?
Wenn sie nicht direkt durch ihre Drogen-Community von uns erfahren, kommen sie über Partnerorganisationen. Viel läuft über Fixpunkt: Wenn die Streetworker des Vereins merken, dass jemand sein Leben ändern möchte, schicken sie ihn oder sie sofort in unser Projekt. Andere Klienten kommen über die Obdachlosenhilfen, die Caritas oder auch die Krankenhäuser zu uns.
Die Krankenhäuser beispielsweise rufen mich an und sagen: Wir haben da einen Polen, kommen Sie mal und reden Sie mit ihm. Und dann treffe ich da auf jemanden in sehr kritischem Gesundheitszustand, mit Tuberkulose, mit aidsbedingten Krankheiten und weniger als 20 Helferzellen, mit Lungenkollaps, Krebs.
Während des Krankenhausaufenthalts, der Nichtversicherten in Notfällen immer häufiger angeboten wird, kann man mit den Leuten sehr gut arbeiten und ihnen Alternativen aufzeigen. Und wenn sie entlassen werden, gehen sie zur Aidshilfe.
Macht ihr das Projekt publik, damit es auch anderswo Schule macht?
Auf jeden Fall, denn auch in anderen Städten sind Hilfseinrichtungen mit „mobilen“ Drogenkonsumenten konfrontiert, die kein Deutsch sprechen und Hilfe brauchen. Ich rede über unser Projekt mit Aids- und Drogenhilfen, mit Migrationsprojekten und Substitutionsärzten, um es ihnen schmackhaft zu machen. Dabei stelle ich immer wieder fest: Die Bereitschaft ist da, mit diesen Menschen zu arbeiten, aber oft fehlt jemand, der zum Beispiel polnisch oder russisch spricht.
„Die Bereitschaft ist da, mit diesen Menschen zu arbeiten“
Aber auch mit Kollegen und Schlüsselpersonen in Polen und den anderen baltischen Ländern bin ich im Gespräch, damit auch dort die Substitution flexibler gehandhabt wird.
Eine letzte Frage: Mit welchen Worten würdest du politisch Verantwortliche von „eurer Sache“ zu überzeugen versuchen?
Ich würde sagen: Unser Projekt heißt „Substitution – ein Menschenrecht“. Damit wird ausgedrückt, dass auch Drogenkonsumenten ein Recht auf Gesundheit haben, unabhängig davon, woher sie kommen.
„Von der Substitution hängt das Überleben ab“
Die Substitutionsbehandlung ist Teil des Großprojekts „Gesundheit für alle“. Man darf also nicht sagen: Wir versorgen nur „unsere“ Leute und niemanden sonst. Von der Substitutionsbehandlung hängt das Überleben ab, und das ist das Entscheidende. Sie ist die Grundlage unserer Drogenarbeit und hat die weitere Ausbreitung von HIV bei Heroinkonsumenten verhindert. Und nicht zuletzt: Man darf Menschen nicht die Freiheit nehmen, dort zu leben, wo sie gerade sind.
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