Zweimal Rita und zurück
Vor der Weihnachtszeit nochmal etwas abschalten, vielleicht sogar ein wenig Sonne tanken – klingt doch gut, oder? Spontan machen mein Mann Frank und ich uns Anfang Dezember 1995 auf den Weg nach Mallorca. Im Gepäck habe ich eine leichte Erkältung, aber das bessere Wetter dort wird mir sicher guttun …
Dezember 1995: Das ist kein einfacher Husten
Nein, leider nicht. Im Gegenteil – der Husten wird auf Mallorca jeden Tag schlimmer. Ich habe ständig das Gefühl, die trockene Luft im Hotel raube mir den Atem. Bald hängen überall in unserem Zimmer feuchte Handtücher. Bringt aber auch nichts. Ich huste mir die Seele aus dem Leib, jeden Tag mehr. Kurz vor Ende des Urlaubs bekomme ich auch noch Temperatur. Uns beiden ist jetzt klar: Das ist kein einfacher Husten, ich muss dringend zum Arzt. Zwei Tage später geht der Flieger zurück nach Köln.
Gleich am nächsten Morgen sitze ich im Wartezimmer der Spezialambulanz der Kölner Uniklinik. Die junge Ärztin schaut mich sorgenvoll an, wiegt leicht den Kopf. Sagt nichts. Sie holt den Leiter der Ambulanz hinzu, die beiden wechseln flüsternd einige Sätze. Man müsse mich stationär aufnehmen, sagt sie dann kurz und knapp.
Einige Monate zuvor lag ich schon einmal auf der Station und fühlte mich dort wie eine durchlaufende Nummer auf einem medizinischen Förderband. Nur mühsam überzeuge ich die junge Ärztin, dass ich in ein anderes Krankenhaus will. Sie organisiert mir ein Bett in einer kleinen Klinik, die einen guten Ruf bei Positiven hat.
Kurz darauf liege ich in einem Zweibett-Zimmer auf der Station „Rita“. Mit mehreren Schläuchen, die mir unter anderem Sauerstoff in die Lungen drücken. Der Verdacht: Pneumocystis-Pneunomie, eine aidstypische Lungenentzündung.
Rita? Seltsamer Name für eine Station in einem Krankenhaus, oder? Doch hier heißen alle Stationen nach Frauen, das sehen Frank und ich bald. Aber warum? „Heilige, was sonst?“ Franks Mutter, die schon einen Tag später aus Hamburg kommt, hat die nahe- und uns doch so fern liegende Erklärung.
Heilige des Unmöglichen und Helferin in aussichtslosen Anliegen
Wir machen einen kleinen Spaziergang über den Flur der Station. Nur mit großer Mühe und gestützt auf Frank schaffe ich die 20 Meter. Hinter der Glastür zur Station finden wir tatsächlich ein Bild und eine kurze Erläuterung. Eine, die es in sich hat: Die Heilige Rita werde verehrt als „Heilige des Unmöglichen“ sowie „Helferin in aussichtslosen Anliegen“. Als Augustinerin, so bringen wir später in Erfahrung, führte sie im 15. Jahrhundert ein Leben „in strengster Entsagung und Buße“ (Heiligenlexikon).
Da liege ich nun. Auf Station Rita. Und frage mich: Was wollen die mir damit sagen? Mir deutlich machen, dass meine Situation aussichtslos ist? Oder vielleicht doch nicht, wenn ich Entsagung und Buße schwöre?
Nur zu bald wird mir klar, wie schlecht mein Zustand tatsächlich ist. 66 Helferzellen – einen so schlechten Wert hatte ich noch nie. [Anm. der Redaktion: Der Normbereich liegt in der Regel zwischen etwa 500 und 1500 CD4-Zellen pro Mikroliter Blut.] Immerhin, die erste Messung der Viruslast – eine damals ganz neue Methode – ergibt „nur“ knapp 80.000 Viren pro Milliliter meines Blutes. Eigentlich kein schlechter Wert. Aber bei einem so kaputten Immunsystem ist jeder Schnupfen ein potenzielles Desaster, erst recht also diese PcP. An eine Entlassung über die Feiertage ist nicht zu denken.
Von meinen Kölner Bekannten, Kneipen-Bekanntschaften und Sexdates ist bald nicht mehr viel zu hören, geschweige denn zu sehen. Auch ein enger Freund, den ich aus meiner Zeit als Aids-Aktivist bei der ACT-UP-Bewegung kenne, flüchtet – mit folgender Begründung: „Ich kann es nicht ertragen, dich krank zu sehen. Das zieht mich so runter, das kann ich mir beruflich nicht erlauben.“ Eine sehr bittere, trostlose Erfahrung.
Von Freunden und Bekannten ist bald nicht mehr viel zu sehen
Ende Januar werde ich endlich entlassen. Die Lungenfunktionswerte sind wieder akzeptabel, die Medikamente haben ihre Arbeit getan, körperlich bin ich halbwegs wiederhergestellt.
Während ich im Krankenhaus lag, ist Ende 1995 in den USA eine neue Substanz zugelassen worden, der erste sogenannte Proteasehemmer: Saquinavir. Die Zulassung in Europa soll erst im Herbst 1996 folgen. Weit weg, zu weit für mich, und für eine Teilnahme an Studien ist mein Immunsystem inzwischen zu kaputt. Also auch keine Chance.
Keine drei Monate später bin ich erneut im Krankenhaus, wieder mit einer Lungenentzündung. Diesmal ist es „nur“ eine bakterielle Pneumonie. Die Antibiotika bewirken trotzdem nichts. Mir geht es nicht besser. Im Gegenteil, ich baue täglich weiter ab, bekomme schlechter Luft, habe keine Energie.
31 Helferzellen sind es jetzt noch, und die Viruslast hat eine Rekordhöhe von 3,2 Millionen erreicht. Der Arzt, der solch einen Wert bisher noch nicht erlebt hat, macht eine Kontroll-Messung – die nahezu den gleichen Wert ergibt.
Und es kommt noch schlimmer. Schon nach wenigen Tagen beginnt meine Haut seltsam zu brennen. Ich habe das Gefühl, meine Beine und Finger seien geschwollen, würden täglich dicker. Schnell wird es so schlimm, dass ich nicht einmal mehr aus dem Bett aufstehen kann.
Die Ärzte schwanken zwischen Ratlosigkeit und Erschrecken
Die geringste Berührung wird zur Qual, besonders an den Beinen beginnen sich die obersten Schichten der Haut zu lösen, fallen mir in grauen Fetzen vom Körper. In meinen Fußsohlen lodern tausende kleine Feuer, ohne dass ich sie löschen könnte. Lodern Tag und Nacht, breiten sich schleichend weiter aus. Bald schon beult sich meine Haut in dicken wässrigen Blasen von den Fußsohlen, als wollte sie vor den Feuern flüchten.
Der Gesichtsausdruck der Ärzte scheint mir zwischen ratlos und erschrocken zu changieren. Wie die Lungenentzündung in den Griff bekommen? Und erst recht: wie gegen diese Haut-Reaktionen vorgehen? Schnell wird klar, es handelt sich um eine allergische Reaktion auf eines oder mehrere der Antibiotika. Dunkle Tage. Gefühl der Ausweglosigkeit. Einsamkeit. Abstürze, in tiefste schwarze Unendlichkeit. Auch heute noch blockiert mein Verstand Erinnerungen, fehlen mir Worte, diese Tage zu beschreiben.
Es folgen das Absetzen sämtlicher Medikamente und hoch dosiertes Kortison. Und Salben für die Füße. Nach vielen schmerzvollen Tagen beginnt sich der Zustand von Haut und Füßen langsam zu bessern. Aber wie soll es weitergehen?
Der Arzt, der mich motivierend begleitet hat und den ich beinahe liebgewonnen habe, schaut Frank und mich ernst an. Mit hoch dosiertem Kortison könne ich vielleicht noch einige wenige akzeptable Wochen haben. Aber: „Ich kann nichts mehr tun für Sie.“
Nach der Entlassung wechsele ich den Arzt. Ein neues Medikament, ein Proteasehemmer, der „besser“ sein soll als der erste, ist nach guten Studienergebnissen ungewohnt schnell am 13. März 1996 zugelassen worden – wieder nur in den USA. Auch hier folgt die Zulassung in Europa erst im Herbst 1996. Aber diesmal weiß mein neuer Arzt einen Weg: Er veranlasst über eine internationale Apotheke einen Direktimport aus den Staaten.
„Ich kann nichts mehr tun für Sie“
So beginne ich im Juni 1996 einen weiteren Therapieversuch Doch meine Krankenversicherung weigert sich, die Kosten zu übernehmen, da das Medikament in Deutschland nicht zugelassen sei. Soll ich mehrere hundert Mark monatlich selbst bezahlen, um eine Chance aufs Überleben zu haben? Oh, wie bin ich es müde, dieses ständige Kämpfen! Ich bin eh völlig am Ende, im wahrsten Sinn des Wortes – und nun gibt es doch noch eine aussichtsreiche Möglichkeit, und die Kasse kommt mit ihrer Bürokratie? Ich weiß heute nicht mehr, wie ich es trotz aller Fassungslosigkeit und Tristesse schaffe, die Kraft für Wut aufzubringen.
Ein befreundeter Aktivist, zugleich Anwalt, ist zufällig in der gleichen Versicherung und erlebt exakt das Gleiche. Seine Reaktion: „Das lassen wir nicht mit uns machen!“ Ein gemeinsamer Brief direkt an den Vorstand, ein dezenter Hinweis, dass dieses menschenverachtende Verhalten dem Bild der Versicherung in der Öffentlichkeit sicherlich nicht zuträglich sei – und bereits nach weniger als 24 Stunden halten wir beide je ein Fax mit der Zusicherung der Kostenübernahme in den Händen.
Bereits nach wenigen Tagen macht es geradezu „peng“ –ich merke: Ulli ist wieder da, da ist wieder Leben im Körper. Ein erster Morgen, an dem ich zuversichtlich aufwache. Ein erster Spaziergang mit Freuden. Nach Monaten (waren es Jahre?), in denen mir nicht einmal Gedanken an Sex kamen, geschweige denn körperliche Reaktionen stattfanden, plötzlich eine erste Erektion. Da ist noch Leben … wieder Leben.
20 Jahre später – 2016
Auf die Station Rita gehe ich nie wieder, bis ich im Februar 2016 nach längerer Zeit in Köln bin. Frank und ich stromern durch die Südstadt und gehen dann, einer spontanen Idee folgend, auch zum Krankenhaus. Nicht überlegt, nicht geplant. Es ist eher, als folgte ich einer Regie, die sagt: „Nun mach das.“ Gehe durch die Glastür auf die Station. Diese Station.
Als erstes schaue ich nach „Rita“ – und ja, das Heiligenbild mit dem knappen Erläuterungstext hängt immer noch an der gleichen Stelle.
Gefühle stürmen auf mich ein. Dort, in dem Zimmer, lag ich zuerst, schaute abends traurig aus dem Fenster, um noch so viele Blicke wie möglich auf Frank zu werfen, der nach seinem abendlichen Besuch zum Auto ging. Das Fenster zum Arztzimmer, aus dem immer schlechtere Nachrichten kamen. Und hier das Zimmer, in dem ich zuletzt lag, auf die Kastanie im Hof blickte, bis ich nicht einmal mehr aufstehen konnte, bis nichts mehr ging.
Heute erscheint mir die Zeit merkwürdig banal und brutal
Die Wochen, die ich hier verbracht habe, sie haben mein Leben geprägt, doch sie waren kaum je im Jetzt präsent. Nun sind sie plötzlich da, vor mir, in mir. Als sei genau jetzt die Zeit, sich dies noch einmal anzuschauen. Mit Abstand. Ich fühle erneut Bestürzung. Spüre, wie es in meinem Bauch rumort, höre meinen Herzschlag. Es rauscht, dröhnt in meinen Ohren. Bilder rasen vorbei. Gerüche ziehen durch die Nase, ins Gehirn, direkt in mein Kopfkino.
Ich sehe den Ulli von „damals“ vor mir. Erinnere mich an seine Gefühle. Zorn. Wut. Hilflosigkeit. Das Gefühl tiefster schwarzer Leere.
Ja, ich bin wieder hier, auf „Rita“. Und es ist nicht „damals“, nicht 1996. Sondern 2016, und ich lebe. Und bemerke ein Gefühl von Ruhe und Dankbarkeit.
Eine der wesentlichen Lektionen, die ich damals gelernt habe: welch hohen Stellenwert Liebe und Freundschaft haben, zwei Dimensionen von Miteinander, die für mich in meinem Leben nicht wesentlich weit von einander entfernt sind. Außer Frank und meinem inzwischen engsten Freund und „Seelenbruder“ war da damals niemand mehr. Inzwischen gibt es drei, vielleicht vier Menschen, die mir so nahe sind, dass ich „Freund“ zu ihnen sage.
Heute erscheint mir diese Zeit auf eine merkwürdige Weise banal und brutal.
Brutal – auf erbarmungslose Weise wurde mir schlagartig klar, was Aids heißt, für mich, für mein Sein. Wie zerbrechlich, wie endlich mein damals noch recht junges Leben war und ist.
Banal – so wie mir erging es damals, Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre, vielen meist jungen schwulen Männern. Was mir geschah, war nichts Besonderes, sondern in den Szenen, in denen ich mich bewegte, ein auf grauenvolle Weise alltägliches Phänomen.
Brutal und banal – so sehr, dass ich mich auch heute noch gelegentlich frage: Bin ich mehr als ein zufällig Überlebender der Plage?
20 Jahre ist diese Zeit jetzt her – irgendwie „feiere“ ich also dieses Jahr mit Mitte 50 auch meinen zwanzigsten Geburtstag noch einmal.
Meinen Wiedergeburtstag.
Mit seinem Mann Frank bloggt Ulli Würdemann unter https://www.2mecs.de.
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