Libanon

„Wir haben Angst, dass dieser Staat völlig kollabiert“

Von Axel Schock
Bertho Masko
Bertho Makso von Proud Lebanon in Berlin (Foto: Axel Schock)

Proud Lebanon ist eine lebenswichtige Organisation: Sie bietet medizinische Versorgung und setzt sich für die Rechte von LGBTs im Libanon ein. Doch besonders für queere und HIV-positive Menschen hat sich die Situation zugespitzt.

Man sieht ihm die Erschöpfung nicht an. Bertho Makso ist ein junger Mann, der Freundlichkeit, Elan und Energie ausstrahlt. Vielleicht liegt es auch daran, dass er sich zum ersten Mal seit Langem eine zweiwöchige Auszeit genommen hat, um zu verreisen. Wobei man Auszeit nicht wörtlich verstehen darf, ist die Reiseroute doch letztlich auch diktiert von Treffen mit unterstützenden Organisationen in Brüssel, Berlin und Prag.

Im permanenten Burn-out

Über sein Smartphone assistiert Makso zudem seinem Team von Proud Lebanon in Beirut nicht nur bei den Vorbereitungen des Welt-Aids-Tages, sondern auch bei der Bewältigung ganz alltäglicher Probleme. Und die sind im Libanon so groß, dass nicht nur die Arbeit von Proud Lebanon massiv darunter leidet, sondern auch die Menschen, die sich in der Organisation für die Rechte von LGBT-Personen einsetzen und sich nicht zuletzt um deren Gesundheit kümmern.

Ich fühle mich leer und ausgebrannt

Alle paar Monate, erzählt Bertho Makso beim Gespräch in Berlin, reist er für zwei Tage nach Istanbul. Einfach nur, um rauszukommen aus seiner Heimatstadt. Istanbul ist das naheliegende Ziel, weil es leicht zu erreichen und kein Visum notwendig ist. Zwei Tage weg aus dem Land, das wieder einmal kurz vor dem Kollaps steht, um den eigenen drohenden psychischen Zusammenbruch zumindest kurzzeitig aufzuschieben.

„Genau genommen befinde ich mich bereits seit Monaten in einem permanenten Burn-out. Und wie mir geht es allen im Team. Ich habe die letzten sieben Jahre Proud Lebanon gewidmet und in dieser Zeit sehr vielen Menschen helfen können. Das war gut und wichtig, aber ich fühle mich inzwischen einfach leer und ausgebrannt. Die Klient*innen schildern uns ihre Sorgen und Nöte, und das sind letztlich ja auch unsere eigenen. Wir wollen ihnen selbstverständlich helfen, aber es liegt außerhalb unserer Macht. Sie erwarten, dass wir ihnen helfen, ihre Probleme lösen können – aber wir wissen, dass wir faktisch nichts für sie tun können. Dieses Dilemma ist einfach schwer auszuhalten.“

Viele Arzneimittel sind nicht mehr auf Lager, Strom gibt es nur noch stundenweise

Schon vor der Explosion im August 2020 im Hafen von Beirut, die Teile der Stadt zerstörte, steckte der Libanon in einer tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise – ohne Aussicht auf Besserung. Das libanesische Pfund hat innerhalb von zwei Jahren mehr als 90 Prozent seines Wertes verloren. Politisch aber geht nichts voran, weil sich die Parteien im Parlament gegenseitig blockieren.

„Wir haben zwar eine Regierung, aber sie tut nichts. Und durch Covid-19 hat sich die Lage noch weiter verschlimmert.“

Was bedeutet das konkret für das alltägliche Leben?

„Nehmen wir als Beispiel meine Mutter: Sie ist chronisch krank und benötigt regelmäßig Medikamente. Doch inzwischen sind viele Arzneimittel nicht mehr auf Lager. Ich muss die Medikamente deshalb alle paar Monate im Ausland besorgen, beispielsweise in der Türkei. Doch nun ist auch Insulin knapp, und das lässt sich nicht so unproblematisch transportieren, weil dieses Medikament gekühlt werden muss. Aber nicht nur Arzneimittel sind knapp geworden oder werden rationiert. Strom gibt es nur noch stundenweise, und ohne Strom gibt es auch kein Internet.“

Ist die Versorgung mit HIV-Medikamenten gesichert?

„Diese Frage stellen wir uns auch. Und ich könnte eine optimistische oder eine ehrliche Antwort geben. Wenn man dem Nationalen Aidsprogramm Glauben schenken darf, sind genügend Medikamenten für ein Jahr gelagert. Unsere Angst aber ist, dass dieser Staat völlig kollabieren wird und es uns im Libanon so ergehen wird wie den Menschen in Venezuela.“

Durch die Inflation sind die Preise in die Höhe geschnellt

Dort haben rund zwei Drittel der HIV-Patient*innen ihre Behandlung aus Mangel an Medikamenten unterbrechen müssen. Die HIV-Behandlung wird im Libanon vom Staat übernommen, und zwar für alle Menschen, die im Libanon leben, also auch für Migrant*innen oder Geflüchtete. Allein aus Syrien sind rund 1,5 Millionen Menschen vor dem Bürgerkrieg in den benachbarten Libanon geflohen.

„Doch das Nationale Aidsprogramm kann sich die Originalpräparate von Gilead und ViiV nicht mehr leisten, sondern kauft nur noch Generika. Für andere, teurere Medikamente muss selbst ein Teil der Kosten übernommen werden. Allerdings sind die Preise durch die Inflation in die Höhe geschnellt. Damit ist auch der Kostenanteil für die Patient*innen gestiegen – und für viele nicht mehr zu bezahlen.“

Das Team von Proud Lebanon bei der Arbeit (Foto: Proud Lebanon)

Proud Lebanon ist in Beirut eine zentrale Stelle für die Gesundheitsversorgung nicht nur von Menschen mit HIV, sondern für die gesamte LGBT-Community. Ein Team aus ehren- und hauptamtlichen Fachleuten, darunter ein Psychologe, ein HIV-Experte und ein Allgemeinmediziner, bieten neben Beratung eine breite medizinische Versorgung an.

Vor allem für Menschen mit HIV ist Proud Lebanon eine wichtige Anlaufstelle. Nicht nur weil sie hier eine diskriminierungsfreie Behandlung erhalten, sondern diese für sie auch finanzierbar bleibt.

Denn auch wenn die Medikamente kostenfrei sind, Laboruntersuchen etwa zur Bestimmung der Blutwerte und der Viruslast werden vom Nationalen Aidsprogramm nur direkt nach der Diagnose, nicht aber mehr im Laufe der späteren Behandlung übernommen. Proud Lebanon kann diese Untersuchungen dank der Unterstützung eines Labors jedoch zu einem Viertel des üblichen Preises anbieten.

Die PrEP gibt’s nur für 250 Personen

Seit zwei Jahren ist im Libanon nun auch die PrEP verfügbar, allerdings nur in sehr geringem Umfang. Und auch nur für schwule Männer mit risikoreichem Sexualverhalten. Nichtregierungsorganisationen wie Proud Lebanon schlagen die Menschen vor, die in das Programm aufgenommen werden sollen. Das ist limitiert auf 250 Personen; 154 davon werden von Proud Lebanon betreut.

„Der Bedarf ist natürlich weitaus höher. Unter den 7 Millionen Einwohner*innen des Libanons sind mehr als 5.000 schwule Männer. Das ist jedoch die Zahl, mit der das Nationale Aidsprogramm rechnet. Von diesen 5.000 Männern sind, so die offizielle Schätzung von vor zwei Jahren, 15 Prozent HIV-positiv.“

Doch auch wenn die Medikamente vom Nationalen Aidsprogramm gestellt werden: die psychosozialen wie medizinischen Angebote kann Proud Lebanon nur weiterhin sicherstellen, wenn das Projekt als Ganzes finanziert werden kann. Vom libanesischen Staat können Bertho Makso und sein Team jedoch nichts erwarten.

Lebensmittelpakete und andere elementare Hilfen für LGBTs

2020 hatte die Schwulenberatung Berlin gemeinsam mit der Deutschen Aidshilfe eine Spendenaktion ins Leben gerufen, und tatsächlich sind die benötigen 55.000 Dollar zusammengekommen, um die Arbeit von Proud Lebanon zumindest für ein Jahr zu sichern. Und damit musste dann auch noch ungeplant ganz elementare Hilfe geleistet werden, weil der Staat dazu nicht in der Lage war.

„Wir haben etwa 350 LGBT-Menschen, die aufgrund der wirtschaftlichen Lage sich nicht einmal Essen leisten konnten, mit Lebensmittelpaketen versorgt. Einige haben auch direkt einen Zuschuss bekommen, weil sie ihre Miete oder ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen konnten.“

Durch eine direkte Zuwendung konnte ein mobiles Testzentrum angeschafft werden. Ein ehrenamtliches Team spricht die Menschen auf der Straße an, um sie über die Testmöglichkeiten zu informieren – Migrant*innen, Geflüchtete, LGBTs und Heteros gleichermaßen nehmen das Angebot an.

„Inzwischen arbeiten wir mit einer Universität zusammen, deren Laborkapazitäten wir nutzen dürfen, und können so auch Corona-PCR-Tests anbieten.“

Proud Lebanon leistet auch Lobbyarbeit

Die Lage für LGBT-Personen war schon vor Corona prekär. Bertho Makso fürchtet, dass sie sich in der jetzigen gesellschaftlichen Stimmung aber noch verschlechtern könnte.

„Wenn die Situation in einem Land so unberechenbar ist wie derzeit im Libanon, dann erzeugt das Angst in der Gesellschaft. Und Angst erzeugt bei den Menschen Aggressionen und Gewalt – und die richtet sich immer auch gegen die Schwachen, gegen die ohnehin bereits Diskriminierten in der Gesellschaft.“

Proud Lebanon versucht durch gezielte Lobbyarbeit die Situation von LGBTs im Libanon zu verbessern.

Mehr als eine Entkriminalisierung können wir nicht erwarten

Artikel 534 des libanesischen Strafgesetzbuches verbietet „widernatürliche“ sexuelle Beziehungen, diese sind mit einem Bußgeld und einer Höchststrafe von einem Jahr Haft belegt. Auch wenn Verurteilungen selten geworden sind, dient das Strafgesetz der Polizei weiterhin zur Einschüchterung und zur Registrierung vor allem schwuler Männer.

„Wir sind derzeit sehr intensiv im Gespräch mit verschiedenen Parteien und arbeiten daran, dass sie sich in ihren Wahlprogrammen für die Abschaffung des Paragrafen und damit für ein Ende der Kriminalisierung von Homosexualität einsetzen. Wir hoffen unter anderem, einige der christlichen Parteien aus dem rechten Spektrum dafür zu gewinnen.

Klar ist aber, dass wir mehr als eine Entkriminalisierung nicht erwarten können. Würden wir Rechte und Freiheiten einfordern, wie sie in Deutschland längst selbstverständlich sind, würde das die Ängste in der Mehrheitsgesellschaft stärken und damit auch die Gewalt gegen uns. Wir müssen deshalb schrittweise vorgehen, und es wird ein langer Weg sein.

Wir möchten einfach nur, dass die Menschen nicht mehr verhaftet werden, weil sie Sex mit Personen des gleichen Geschlechts haben. Denn steht das erst einmal in deinem Strafregister, ist es fast unmöglich, im Libanon eine Anstellung zu finden, auch Reisen in arabische Länder sind dann nicht mehr möglich.“

Die „mobile Klinik“ von Proud Lebanon

Bertho Makso und seine Mitstreiter*innen hoffen nun, viele Parteien überzeugen und nach den Wahlen im März 2022 eine entsprechende Gesetzesänderung auf den Weg bringen zu können. Im besten Fall würden mit diesem geänderten Gesetz dann auch alle entsprechenden Vorstrafen aus dem Strafregister gelöscht.

„Danach wollen wir gegen die Richtlinien vorgehen, die Menschen mit HIV von bestimmten Berufen ausschließen. Sie dürfen beispielsweise nicht in der Gastronomie, in Krankenhäusern und in Versicherungsunternehmen arbeiten. Beide Initiativen würden erst einmal nur sehr kleine Verbesserungen bringen, aber wir hoffen, dass sich daraus eine Lawine in Gang setzt. Wenn erst einmal die Grundursache beseitigt ist, nämlich die Kriminalisierung von Homosexualität, werden mit der Zeit hoffentlich auch andere gesellschaftliche Veränderungen möglich sein.“

Ohne Unterstützung geht’s bald nicht mehr weiter

Die Deutsche Botschaft hat nun immerhin signalisiert, Proud Lebanon als Nichtregierungsorganisation bei ihrer Lobbyarbeit zur Entkriminalisierung von Homosexualität finanziell zu unterstützen. Die Entscheidung dazu ist allerdings noch nicht gefallen.

Ich weiß, ich muss diese Arbeit fortsetzen, aber ich weiß nicht, wie ich sie fortsetzen kann

Weiterhin unklar ist, wie Proud Lebanon die anderen Aufgaben erfüllen kann. Die Stelle des Psychologen immerhin konnte bereits über eine Organisation finanziert werden. Ein Facharzt für Infektionskrankheiten arbeitet ohne Gehalt. Doch wie die anderen medizinischen Fachkräfte künftig bezahlt werden sollen, ist völlig offen.

„Ohne finanzielle Unterstützung aus dem Ausland werden wir unsere Arbeit für die Community nicht mehr lange leisten können; das gilt insbesondere für die medizinische Versorgung. Sollten wir zudem tatsächlich in die Situation geraten, dass unser Staat nicht mehr in der Lage ist, die HIV-Medikamente zur Verfügung zu stellen, bleibt nur die Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft einspringen wird.“

Je aussichtsloser und unsicherer die Situation im Land wird, desto mehr versuchen vor allem junge Menschen im Ausland eine bessere Zukunft zu finden. Auch Bertho Makso denkt darüber nach, wie er offen zugibt. Denn auch er kämpft um seine Existenz und ums finanzielle Überleben.

„Ich weiß, ich muss diese Arbeit fortsetzen, aber ich weiß nicht, wie ich sie fortsetzen kann. Dieser Konflikt zermürbt mich. Zugleich aber darf ich es mir nicht anmerken lassen, sondern muss die Kolleg*innen, denen es ja auch nicht viel anders geht, aufbauen und motivieren. Denn die Menschen benötigen unsere Hilfe und wir können sie nicht einfach im Stich lassen.“

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