Diskriminierung

Systematische Stigmatisierung: Polizeikürzel „ANST“

Von Axel Schock
Symbolbild Datenspeicherung bei der Polizei: Serverraum mit gelben Lichter (generiert mit KI)

Medizinische Daten sind besonders sensibel und berühren in hohem Maße das Persönlichkeitsrecht. In Datenbanken der Polizei werden dennoch HIV- oder Hepatitis-Infektionen als „ANST“ gespeichert – und zwar bei einer erschreckend hohen Zahl an Personen, wie DAH-Recherchen ergaben. Die Begründungen für diese Verletzung der Persönlichkeitsrechte sind medizinisch wie juristisch mehr als fragwürdig.

Der Beitrag ist Teil einer Artikelserie zu Formen und Dimensionen von Diskriminierung bei der Polizei.

Die Art und Weise, wie derzeit Gesundheitsdaten in den Polizeidatenbanken gespeichert werden, halten wir für rechtswidrig.

Kerstin Mörsch, DAH-Kontaktstelle HIV-Diskriminierung

Es ist ein unscheinbares Kürzel, unter dem im zentralen Informationssystem der Polizeibehörden höchst sensible Informationen zu Bürger*innen abgespeichert werden: „ANST“ steht für „Ansteckungsgefahr“. Dieser Zusatzeintrag erfolgt ausschließlich bei Hepatitis B-, Hepatitis C- oder HIV-Infektionen. Die betroffenen Personen wissen oft nicht, dass ein solcher Eintrag besteht. Um welche dieser Infektionen es sich jeweils handelt, ist für die Bediensteten der Polizei und der Zollbehörden, die diese Datenbank nutzen, nicht nachzuvollziehen. Entscheidend ist für die Behörden der damit verbundene Warnhinweis: Achtung, diese Person ist infektiös und es geht daher eine mögliche Gefahr von ihr aus! Ob eine Hepatitis-Erkrankung ausgeheilt, ob eine Person in HIV-Therapie und deshalb unter der Nachweisgrenze ist – all das spielt bei diesem „personengebundenen Hinweis“ (PHW) keine Rolle.

Pauschale Vorverurteilungen und Stigmatisierung

„Selbst im Rahmen nachweislich durchgeführter Therapien wird zum Zeitpunkt des polizeilichen Aufeinandertreffens der Stand der jeweiligen aktuellen viralen Belastung nicht bekannt sein und somit auch die Frage, in welchem Umfang möglicherweise noch Ansteckungsgefahren bestehen, nicht sicher zu prognostizieren sein“, begründet eine Sprecherin des Bundeskriminalamtes (BKA) gegenüber der DAH dieses Vorgehen.

Zudem gelte es zu bedenken, „dass auch hinsichtlich des grundsätzlichen Therapiestandes (begonnen, abgebrochen, Therapiefenster und dauerhafte Medikamentengabe eingehalten) zum Zeitpunkt des Aufeinandertreffens der Polizei- oder Zollbediensteten mit der betroffenen Person keine gesicherten Erkenntnisse hierüber vorliegen“. Laut der vorurteilsbeladende Einschätzung des BKA würde es sich „in einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Fällen um Personen handel[n], die infolge der häufig vorliegenden Lebens- und Begleitumstände (BTM-Konsum, alkoholisierte und/oder ggf. hilflose Personen), entsprechende Infektionsrisiken für Dritte ggf. nur unzureichend im Blick haben“. 

Selbst bei positiven Therapieverläufen würden „bis zur ggf. möglichen ‚vollständigen Ausheilung‘ im Sinne einer nicht mehr nachweisbaren Virenlast“ immer noch gewisse, wenn auch geringere, Ansteckungsrestrisiken verbleiben. Worauf diese – medizinisch inkorrekte – Einschätzung basiert, erläutert das BKA nicht. Fachlicher Rat wurde für dieses von den Landeskriminalämtern bundeseinheitlich abgestimmte Vorgehen nicht eingeholt.

Empfehlung des Nationalen AIDS-Beirats nicht erfüllt

Der Nationale AIDS-Beirat hatte bereits 2016 dem Bundesministerium für Gesundheit empfohlen, die einst von der Innenministerkonferenz beschlossene Speicherung von HIV- sowie Hepatitis B- und C-Infektionen unter dem Kürzel „ANST“ zu beenden. Zum einen sollten Bedienstete entsprechend der Empfehlung der Ständigen Impfkommission gegen Hepatitis B selbstverständlich geimpft sein. Zum anderen wird in der Bevölkerung und offenbar auch in den Behörden das HIV-Übertragungsrisiko überschätzt. HIV kann weder durch Anspucken noch durch Kratz- oder Bisswunden, wie sie im Dienstalltag vorkommen, übertragen werden.

Dass ihr Personeneintrag in der Polizeidatenbank den Zusatz „ansteckend“ versehen ist, erfahren die Betroffenen übrigens nicht. Und wer einmal mit diesem Vermerk in der gemeinsam von den Landeskriminalämtern, der Bundespolizei, dem Zollkriminalamt und dem BKA gespeisten Datenbank INPOL-Z landet, bleibt dort mutmaßlich länger als „ansteckend“ registriert, als eigentlich vorgesehen. Denn nur so lässt sich erklären, weshalb nach BKA-Angaben bundesweit 22.361 (!) entsprechende Personen-Hinweise gespeichert sind. Die Bundespolizei hat rund 300 Personen entsprechend gekennzeichnet, die Landespolizei Thüringen hat 74, Berlin 684 und Nordrhein-Westfalen 1.608 dieser Personenhinweise eingetragen.

Nach BKA-Angaben sind bundesweit 22.361 Personen mit dem Vermerk „ANST“ gespeichert.

Dabei hatten 2020 die Behörden nach öffentlichem Druck zugesichert, den Vermerk „ANST“ nur noch in ganz besonderen Fällen zu verwenden. Der „Leitfaden zur Vergabe personengebundener Hinweise im INPOL-Verbund“ des BKA sieht vor, dass der Hinweis ‚Ansteckungsgefahr‘ nur dann vergeben werden darf, wenn die betroffene Person die Infektionskrankheit z. B. gegen Polizeibedienstete oder Gefängnispersonal „bereits eingesetzt hat oder Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie sie einsetzen, mit dem Einsatz drohen oder sich ärztlichen Schutzmaßnahmen vorsätzlich entziehen wird“. Oder es müssten Anhaltspunkte dafür vorliegen, „dass die betroffene Person bei zukünftigen Straftaten erhebliche Gewalt gegen Personen einsetzen wird und daraus Gefahren für Polizeibedienstete oder von ihnen beauftragte Personen oder Dritte resultieren können“.

Nur vermeintlich hohe Hürden für eine Speicherung

Was nach recht hohen Hürden klingt, ist bei genauer Betrachtung eine ziemlich vage Einschränkung. Was etwa sind Anhaltspunkte, aus denen das Verhalten einer Person in der Zukunft vorausgesagt werden kann? Nicht jede Person, die einmal mit dem Gesetz in Konflikt gerät, deren HIV- oder Hepatitis-Diagnose im Rahmen von Ermittlungen oder Hafteingangsuntersuchungen bekannt wird, würde demnach automatisch als „ansteckend“ gekennzeichnet. Die hohe Zahl der als infektiös markierten Personen in der Polizeidatenbank lässt das jedoch bezweifeln. Erklären lässt sie sich nur damit, dass diese Einträge offenbar dauerhaft bzw. übermäßig lange bestehen bleiben.

„Für den Personenhinweis ‚ANST‘ ist keine pauschale Lösch- bzw. Aussonderungsprüffrist festgelegt“, teilt das BKA auf Nachfrage mit und verweist darauf, dass die jeweiligen Behörden, die die Datensätze angelegt haben, sie nach bestimmten Fristen zu überprüfen und gegebenenfalls in Gänze, also auch samt dem Zusatz „ANST“, zu löschen habe. Sogenannte „Aussonderungsprüffristen“ bedeuten: Hat eine Person ihre Strafe verbüßt oder ein Verdacht sich nicht erhärtet, müssen innerhalb eines bestimmten Zeitraums die gespeicherten Daten gelöscht werden.

Für den Personenhinweis ‚ANST‘ ist keine pauschale Lösch- bzw. Aussonderungsprüffrist festgelegt.

BKA auf Anfrage

Das ist die Theorie. Denn dies geschieht nicht automatisch, wie der Rechtsanwalt Jasper Prigge erklärt. „Die Polizei muss sich vielmehr jeden Eintrag individuell anschauen, doch das wird häufig nicht zuverlässig getan.“ Für ihn ist auch fraglich, ob die Daten in dieser Form überhaupt gespeichert werden dürfen. Denn das BKA und die Landeskriminalämter argumentieren, dies geschehe auf Grundlage einer „Gefahrenprognose“. Wer sich also etwa bei einer Polizeimaßnahme infolge von Drogen- oder Alkoholkonsum aggressiv verhalten hat, bleibt für das BKA eine dauerhafte Gefahr. Wenn diese Person beispielsweise Jahre später bei einem Verkehrsdelikt oder bei einer Fahrscheinkontrolle erneut ins Visier der Behörden gerät, könnte sie auch in solchen Situationen als gefährlich behandelt werden.

„Hier aber hinkt die Argumentation des BKA“, sagt Jasper Prigge. Denn eine Gefahrenprognose erfolge stets zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie sagt nur wenig darüber aus, ob sich eine Person Jahre später noch genau so verhalten wird. „Bei einem einmaligen Vorfall müsste die Polizei also konkrete Anhaltspunkte vorbringen, warum eine gesteigerte Gefahr für eine mögliche Krankheitsübertragung bei einem Kontakt mit Beamten besteht“, erklärt Prigge.

Ein einmaliges Ermittlungsverfahren lässt nicht die Prognose zu, dass die Person später tatsächlich erneut gewaltig werden könnte.

Rechtsanwalt Dr. Jasper Prigge

In der sogenannten Datei „Gewalttäter Sport“ werden Menschen gespeichert, gegen die im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde oder die deswegen rechtskräftig verurteilt worden sind. Wer einmal im Stadion randaliert hat, gilt unter Umständen für immer als Rowdy und wird entsprechend markiert und gespeichert. Das Bundesverfassungsgericht widersprach und erkannte in dieser Praxis eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Denn „ein einmaliges Ermittlungsverfahren lässt nicht die Prognose zu, dass die Person später tatsächlich erneut gewaltig werden könnte“, erläutert Jasper Prigge das Urteil. Statt einer pauschalen Vorverurteilung sei daher jeweils eine aktuelle Einzelfallprognose notwendig. Den Personenhinweis „ansteckend“ ordnet er ähnlich ein und bezweifelt, dass für eine solche langfristige Speicherung die Voraussetzungen gegeben sind.

Massiver Eingriff in das Persönlichkeitsrecht

Es ist nicht nur eine Frage, ob ein Personenvermerk „ansteckend“ überhaupt zur Prävention einer möglichen Infektion taugt und nicht vielmehr das Risiko von Fehleinschätzungen birgt.  Mit dem hohen Stigmatisierungs- und Diskriminierungspotential verbunden ist es zudem mehr als fraglich, dass die Polizei solch sensible Gesundheitsdaten unbegrenzt und allein zu präventiven Zwecken speichern darf. Wenn, so erläutert Dr. Prigge, müsse selbstverständlich zwischen den Interessen des Staates, der Wirksamkeit der Prävention und dem Eingriff in das Persönlichkeitsrecht abgewogen werden. „Und diesen halte ich für massiv“, sagt Jasper Prigge und bezweifelt, dass hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gewahrt wird. „Eine Speicherung muss geeignet, erforderlich und angemessen sein. Erforderlich ist sie nur, wenn sie das mildeste Mittel ist, um das Ziel, Beamt*innen vor einer Erkrankung zu schützen, zu erreichen.“ Es ist zweifelhaft, dass diese Kriterien bei den über 22.000 „ANST“-Einträgen tatsächlich erfüllt sind und deshalb das Persönlichkeitsrecht verletzt wird.

Die jeweiligen Polizeibehörden erfahren häufig nicht einmal den Ausgang eines Strafverfahrens, geschweige denn, ob beispielsweise eine Hepatitis-Infektion ausgeheilt ist. Dann nämlich erst, „wenn die Tatsache einer Heilung der genannten Infektionen (…) gesichert ist und der Polizei bekannt gemacht wird und somit die Voraussetzungen für die Vergabe entfallen“, müsste nach Ansicht des BKA der „ANST“-Vermerk gelöscht werden. Eine fragwürdige Argumentation.

Kontrolle über die eigenen Daten zurückgewinnen

Wer verunsichert ist oder befürchtet, dass Informationen über die eigene Hepatitis- oder HIV-Infektion im Rahmen von Ermittlungen oder Gerichtsverfahren durch Gesundheitsämter, Justizvollzugsanstalten oder Verwaltungsbehörden an das BKA, eines der Landeskriminalämter oder das Zollkriminalamt übermittelt worden sein könnten, hat das Recht, darüber Auskunft zu erhalten. Die Kanzlei Prigge hat auf ihrer Webseite dazu kostenfrei ein Musterschreiben bereitgestellt: „Antrag auf Datenlöschung bei der Polizei“.

Einen Eintrag in der Datenbank INPOL-Z löschen zu lassen, ist weitaus aufwendiger. Es kann jedoch nicht die Aufgabe jedes*r Einzelnen sein, die von den Behörden vernachlässigten Löschungen juristisch einzuklagen. „Die Art und Weise, wie derzeit Gesundheitsdaten in den Polizeidatenbanken gespeichert werden, halten wir für rechtswidrig“, sagt Kerstin Mörsch von der DAH-Kontaktstelle HIV-bedingte Diskriminierung. „Dieses Vorgehen muss deshalb schnellst möglich beendet werden.“ Womöglich muss hier erst die Datenschutzbeauftragte des Bundes auf den Plan treten und dieser überkommenen, fehlgeleiteten Brandmarkung von Menschen mit Hepatis B, C und HIV juristisch ein Ende setzen.

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