Der Heilige Geist der Christopher Street
Liebe CSD-Gemeinde!
Manchmal tauchen plötzlich Menschen auf, die etwas vollkommen Unerwartetes tun. Sie sind unbeirrbar, Hindernisse akzeptieren sie nicht. Sie tun, woran sie glauben. Und hinterher ist nichts mehr, wie es war.
Die Geschehnisse in der Christopher Street 1969 waren so ein Moment. Unsere Vorkämpferinnen und Vorkämpfer haben uns gezeigt, dass wir stolz auf uns sein können. Und heute verleihen wir hier den Soul of Stonewall Award an: zwei katholische Nonnen! Ich glaube, wir können von einer echten Sensation sprechen.
Schwester Juvenalis Lammers und Schwester Hannelore Huesmann haben 1992 ihr Kloster in Münster verlassen und sind nach Berlin gekommen, weil hier – in der Schwulenszene – Aids am schlimmsten wütete. Hier wollten sie leben und helfen.
„Franziskaner sind, wie wir alle hier, ein bisschen anders“
Als Franziskanerinnen folgen sie dem Heiligen Franz von Assisi. Der war, wie es heißt, von seinem hohen Ross gestiegen und hatte vor den Toren der Stadt die ausgestoßenen Leprakranken gepflegt – und er nahm sie in den Arm. Sie sollten keine „Aussätzigen“ mehr sein.
Franziskaner sind, wie wir alle hier, ein bisschen anders. Für ihr Vorhaben bei den Schwulen in Berlin bekamen Schwester Juvenalis und Schwester Hannelore von ihrer Ordensleitung sofort grünes Licht. Die Schwulen in Berlin waren anfangs nicht alle begeistert. „Da hab ich schon Aids –und jetzt auch noch ‘ne Nonne am Hals!“, sagte einer ihrer ersten Schützlinge. Und das war kein Einzelfall.
Die beiden hatten dafür Verständnis. Denn sie wussten ja, was die katholische Kirche schwulen Männern angetan hatte: Die Rede ist von Aids als „Strafe Gottes“. Sie waren bestürzt von dieser Feindseligkeit ihrer Kirche. Also haben sie laut und deutlich widersprochen.
„Wenn einer schwul ist, dann hat der liebe Gott ihn wohl so gemacht“
Es ist ja so einfach: „Wenn einer schwul ist, dann hat der liebe Gott ihn wohl so gemacht.“ Danke, liebe Schwester Juvenalis, für diese klaren Worte. „Wir glauben an einen bedingungslos liebenden Gott. Ein Urteil über die Lebensentscheidungen anderer Menschen steht uns nicht zu!“ Danke, liebe Hannelore.
Seit 19 Jahren begleiten die beiden gelernten Krankenschwestern nun mit ihrem Hospizdienst Tauwerk Menschen mit Aids in ihren letzten Monaten, Wochen, Tagen, Stunden. Oft ermöglichen sie, dass Menschen zu Hause sterben können. Sie reden mit ihnen über Gott und die Welt, über Leben und Tod. Sie unterstützen die Partnerinnen und Partner im Alltag. Sie helfen bei der Planung der Beerdigung. Sie machen was zu essen oder gehen mit dem Hund raus. Wenn einer ein Problem mit der Bekleidung von Nonnen hat, gehen sie in Zivil hin.
Sie tun, was hilft, und stülpen niemandem etwas über. Wenn ein Mensch einen Priester sehen will, rufen sie einen. Wenn einer Dosenbier will, gehen sie zum Späti. Was im Leben wichtig war, soll in der letzten Lebensphase nicht fehlen. Und so hat Schwester Juvenalis auch schon einmal einem Sterbenden einen letzten Joint gebaut und aufs Sterbebett gereicht. Als ich sie gefragt habe, ob ich das hier erwähnen darf, war ihre Antwort: „Da bin ich heute noch so stolz drauf!“
Es ist diese Mischung aus Selbstlosigkeit und Lebenstüchtigkeit, die diese Pionierinnen so besonders macht. Längst tun sie ihre Arbeit nicht mehr alleine. Mitarbeiterin Katharina Wönne, Mitschwester Margret, ein engagiertes Team von 30 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern – sie alle sind Tauwerk. Und viele Menschen, die Geld geben oder sammeln, denn Tauwerk finanziert sich überwiegend aus Spenden.
Im Büro von Tauwerk hängen an einem Vorhang 391 gelbe Kärtchen. Jedes erinnert an einen Verstorbenen, für den Tauwerk ein Segen war. Anderen Menschen haben sie zurück ins Leben geholfen – heute ist das selbst bei einer Aidserkrankung zum Glück immer häufiger möglich.
50.000 Stunden haben die Tauwerker bei Kranken und Sterbenden verbracht. Viele letzte Stunden, viele in der Nacht. Oft war sonst niemand mehr da. Diesem Liebesdienst in unserer Community haben die beiden Nonnen, die gleich auf die Bühne kommen, ihr Leben gewidmet.
„Danke, dass ihr widersprecht in Worten und Werken!“
In den letzten Wochen haben wir von Vertretern der katholischen Kirche wieder gehört, dass unsere Art zu leben wertlos ist und die göttliche Ordnung bedroht.
Liebe Schwester Juvenalis, liebe Schwester Hannelore! Danke, dass ihr widersprecht in Worten und Werken. Danke, dass ihr vorlebt, was wahre Liebe bedeuten kann. Danke, dass ihr Türen geöffnet habt in eurer Kirche und in unserer Community. Ihr seid längst ein Teil davon. Ihr gehört zu uns – seid „echte Schwestern“ in jeder Hinsicht.
Die Botschaft aus der Christopher Street lebt ihr vor, auf eure ganz persönliche, einmalige Weise. Dafür bekommt ihr heute den Soul of Stonewall Award. Er ist eine Liebeserklärung. Der Preis soll euch sagen: Danke, dass ihr da seid!
Herzlichen Glückwunsch an Schwester Juvenalis und Schwester Hannelore und ihr Team vom Hospizdienst Tauwerk!
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