Dieses Jahr wird’s ruhiger
Ich hatte es mir so fest vorgenommen: 2019 sollte ruhiger werden. Nur die Reise zum Worldpride war geplant, und weil ich New York so mag, hatte ich die leise Hoffnung, mich dort zu verlieben. Ansonsten wollte ich zu Hause bleiben, mehr schreiben und mehr meditieren. Finde den Fehler.
Ein gutes Jahr später sitze ich in Moskau auf dem Sofa eines Freundes und schaue auf die Skyline von Moskau City, dem neuen Herzen des galoppierenden russischen Kapitalismus, über den ich damals ebenso wenig wusste wie von der Schönheit Moskaus.
Russland sah für mich noch immer so aus wie auf den farbentsättigten Fotos aus der Sowjetzeit. Stalin-Bauten wie an der Berliner Karl-Marx-Allee hinter einem Film von Smog aus den Zweitaktmotoren altertümlich eckiger Autos. Ein paar Leute mit Fellmützen vielleicht noch, die den deutschen Fernsehnachrichten unkritische O-Töne geben. Putin, okay. Ich hatte keine Ahnung.
Ich sitze hier nun ohne meinen russischen Liebhaber, der meine Liebe für Moskau entfacht hat. Es ist kompliziert, und es ist alles ganz anders gekommen als erwartet.
Mein russischer Lover und ich haben keine feste Beziehung, schon gar keine monogame. Man könnte vielleicht von einer privilegierten Partnerschaft sprechen, Nähe und Distanz ohne Beitritt sozusagen, wir leben eine einzigartige Form von Liebe. Zugleich sehen wir uns so gut wie nie. Es ist nicht leicht, eine Nicht-Beziehung zu führen, wenn man sich nicht trifft.
Dementsprechend gehe ich in Moskau, ganz im Gegensatz zu Berlin, gerne aus und beschäftige mich zu viel mit Tinder und Grindr. Diese Dating-Apps funktionieren dort irgendwie besser, zumindest bei mir. Auf diese Weise angefixt, wische ich nun auch andernorts verstärkt darauf herum. Dem Vorsatz, mich in New York zu verlieben, konnte ich so gerecht werden. Nur ein bisschen, aber es reichte, um nicht ruhiger zu werden.
Zusammenfassend lässt sich vielleicht sagen, dass ich im letzten Jahr etwas über die Stränge geschlagen habe. Mein Ex hat mir sogar unterstellt, ich würde die erotische Weltherrschaft anstreben. Das ist natürlich maßlos übertrieben.
Genau genommen lief das Jahr 2019 schon am Neujahrsmorgen aus dem Ruder, und zwar so gegen 1:30. Die Silvester-Party hatte ich noch, wie geplant, früh verlassen. Ich war zum Neujahrsfrühstück verabredet und wollte wach ins neue Jahr starten.
In der U-Bahn auf dem Weg nach Hause fiel mir ein attraktiver junger Mann auf. Er war sehr viel jünger als ich und stritt mit seinen Freunden. Seine Freunde stiegen aus, er blieb in der U-Bahn.
Als ich an der nächsten Station umsteigen wollte, nahm ich versehentlich den falschen Ausgang. Keine S-Bahn weit und breit. Stattdessen blieb der Junge aus der U-Bahn neben mir stehen. Das neue Jahr ging gut los.
„Weißt du, wie ich von hier am schnellsten zum S-Bahnhof komme?“, eröffnete ich das Gespräch.
„I don’t understand“, antwortete er. „Can you show me the way to Central Station?“
Wir gingen zurück auf den warmen U-Bahnsteig, wo die Netzpläne hängen. Er war betrunken, mindestens. Er hatte seinen Geldbeutel verloren, sein übriges Hab und Gut steckte in einem Schließfach am Zentralen Omnibusbahnhof, den Schlüssel hatten die Freunde, die ihn sitzen gelassen hatten. Sie anzurufen sei keine gute Idee, sagte er, sie seien aggressiv. Er war allein.
Über seinen Aufenthaltsort wusste er nur, dass es sich um Berlin handelte. Er stammte aus einer kleinen Stadt in Polen, ziemlich weit im Osten. Züge fuhren vermutlich nicht mehr, und er schien mir nicht transportfähig.
„Mir fällt nur eine Lösung ein“, sagte ich. „Du kommst mit zu mir, schläfst dich aus und morgen früh kaufe ich dir ein Zugticket.“
„Aber ich weiß nicht, ob ich dir trauen kann“, sagte er und fiel mir weinend um den Hals.
Vor meiner Haustür fiel mir auf, dass auch ich nicht wusste, ob ich ihm trauen konnte. Aber da war irgendwie schon alles klar. In meiner Wohnung blieb er lange im Flur stehen und atmete durch. Unter seiner Jacke trug er nichts als ein Netzhemd aus steifem schwarzem Kunststoff. Seine Freunde hatte ihn in den KitKat-Club schleppen wollen und ihn notdürftig für das Sex-Ambiente ausstaffiert.
„Would you like another shirt?“, fragte ich.
„Maybe cotton?“, kam es bescheiden zurück.
Mein kleinstes T-Shirt war drei Nummern zu groß. Er sah darin aus, als hätte ich ihm eine Decke umgelegt. Und langsam wurde ihm wärmer. Als ich ihm erzählte, dass ich für die Aidshilfe arbeite und dass wir uns für die Rechte von Schwulen einsetzen, schien ihn das sehr zu erleichtern.
„You chose the right person“, sagte ich.
Eine Stunde später ahnte ich seine Lebensgeschichte. Seinen Eltern war er egal. Er lebte bei der Oma, der er nur erzählt hatte, dass er Silvester in einer anderen Stadt feiere. Eine Narbe an seinem Arm stammte von Messerstichen irgendwelcher Dealer. Er wollte reden und Umarmungen, endlich schlief er neben mir ein. Am nächsten Morgen brachte ich ihn zum Bahnhof.
Abends erhielt ich eine E-Mail: “My dream came true / I’m safe in my home and going to sleep / Thank you so much.”
Danach habe ich nie wieder von ihm gehört. Es war mir tatsächlich gelungen, mich einigermaßen selbstlos um ihn zu kümmern, auch wenn ich nicht in jedem Moment seine Hand nur aus Nächstenliebe hielt.
„Instant Karma’s gonna get you“, wusste schon John Lennon. Mit anderen Worten: Was wir säen, ernten wir, und manchmal folgt die Antwort auf unsere Handlungen im Handumdrehen. Dabei zählt nach der buddhistischen Lehre immer die Absicht hinter dem, was wir tun. Was wir bekommen, ähnelt oft den Taten, die zugrunde liegen. Karma ist eine gute Möglichkeit zu erklären, was dann geschah.
Schon wenige Tage nach meiner guten Tat für den jungen Polen wurde ich mit einem Liebhaber aus Osteuropa belohnt, nämlich aus Moskau. Und weil ich den jungen Polen nicht völlig selbstlos eingesammelt hatte, gestaltete das Karmagesetz die Liebschaft mit dem Russen äußerst kompliziert, mit vielen geplatzten Treffen. Einmal verschwand er einfach für einige Wochen von der Bildfläche, während ich in der fremden großen Stadt im Hotel saß.
Am Anfang jedoch wartete mein russischer Liebhaber unverhofft im Whirlpool einer Sauna auf mich. Ich hatte dort eigentlich nur ganz kurz vorbeischauen wollen. Nun sagten wir beide „Hallo!“ und blieben bis zum frühen Morgen. Gleich am nächsten Abend besuchte er mich zu Hause.
Am Morgen danach hinterließ er Moskauer Liebesgrüße auf der teddybärförmigen Tafel in meiner Küche, auf der ich sonst notiere, was ich einkaufen will. Er schrieb „Danke!“ und „Ich werde dich vermissen!“ auf Englisch und auf Russisch. „Nur ein Scherz“, fügte er schnell hinzu und schrieb das auch gleich noch hin. Ich hätte gewarnt sein können.
Der Rest ist schnell erzählt: Ich stellte überrascht fest, dass Moskau nicht einmal so weit von Berlin entfernt ist wie Madrid, man kann einfach hinfliegen. Ich verliebte mich in die Stadt, begann Russisch zu lernen. Ich habe jetzt Freunde in Moskau, eine Metrokarte und eine russische Handynummer.
Was ich mit meinem Lover erlebe, passt in keine Kolumne. Ich muss einen Roman draus machen, schon allein deswegen, weil meine Freunde begonnen haben, die Augen zu verdrehen, wenn ich davon erzähle. Sie sollen alles nachlesen, wenn ich ein gutes Ende gefunden habe. Denn mein Leben ist tatsächlich etwas aus den Fugen geraten.
Zuerst habe ich gedacht, was man eben so denkt: dass einem das Schicksal halt immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Dann wurde mir klar, dass ich alle meine Reisen selbst gebucht habe.
Man muss nicht an Karma glauben, um das zu verstehen: Ich wollte nach Hause und bereiste die Welt. Ich nehme fremde Männer mit nach Hause, da darf man sich über nichts wundern. Wer auf die Suche geht, der findet. Wer sich verlieben will, ob in Menschen oder Städte, darf nicht mit Ruhe rechnen.
Eine der häufigsten Lügen unserer Zeit lautet: Nächstes Jahr wird’s ruhiger. Trotz allem glaube ich immer noch an die Macht guter Vorsätze. Man darf sich nur nicht davon schrecken lassen, dass man ab und zu zurück auf Los! geht. Ich vertraue auf kleine Schritte, und der Kutscher kennt den Weg. Seit dem Neujahrstag meditiere ich wieder täglich.
Auch in Moskau.
Holger Wicht ist der Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe. Was er hier schreibt, spricht für sich.
Was in New York geschah:
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