„Eine Art Liberalismus, der einige Freiheiten ermöglicht“
Bombenanschläge, Krieg, Flüchtlingsströme – es ist fast immer wenig Erfreuliches, wenn die Medien über den Libanon berichten. Vielleicht hat „Spiegel online“ 2010 gerade deshalb eine Fotostrecke vom „Mr. Bear Arabia Contest“ in Beirut veröffentlicht, weil das so gar nicht in unser Libanon-Bild passt.
Dass es im Libanon eine rege Schwulenszene geben könnte, während Homosexuellen in den Nachbarländern die Todessstrafe droht und die Terrororganisation Islamischer Staat Schwule auf bestialische Weise ermordet, ist für viele in der westlichen Welt kaum vorstellbar. Aber: Es gibt sie tatsächlich. „Im Vergleich zum Rest des arabischen Raums herrscht bei uns eine Art Liberalismus, der einige Freiheiten ermöglicht“, erklärt Bertho Makso, der den Bear Contest organisiert hatte. „In Beirut haben wir eine Schwulensauna, es gibt jede Menge Bars und Clubs. Zugleich aber werden Männer wegen ihrer Homosexualität verhaftet und länger, als gesetzlich erlaubt, in Gewahrsam genommen – ohne dass man sie anklagt.“
Für „unnatürliches sexuelles Verhalten“ droht Haft bis zu einem Jahr
Offiziell ist Homosexualität im Libanon nicht verboten. Doch der Paragraf 534 ahndet „unnatürliches sexuelles Verhalten“ mit Haft bis zu einem Jahr. Was darunter zu verstehen ist, wird nicht erklärt – ein Gummiparagraf also und damit ein Freifahrtschein für Polizeiwillkür. „Es gibt zwar von vielen Seiten Bemühungen, das Gesetz zu reformieren, aber an der Situation hat sich nichts geändert, allenfalls zum Schlechten“, sagt Bertho.
Dabei gab es zuletzt hoffnungsvolle Zeichen. Gerichte hatten festgestellt, dass weder Homosexualität noch Transsexualität automatisch als unnatürlich gelten. Haben diese Urteile das Coming-out für Schwule, Lesben und Trans* erleichtert? Bertho lacht. „Niemand outet sich freiwillig. Und wer’s dennoch tut, muss damit rechnen, dass er verstoßen und ausgegrenzt wird.“ Bertho berichtet von Männern, die wegen ihrer Homosexualität von den Eltern aus dem Haus geworfen wurden und nun buchstäblich auf der Straße leben.
„Es gibt zwar Persönlichkeiten im Land, von denen man weiß, dass sie schwul sind, aber die würden das nie öffentlich zugeben“, sagt Bertho. Daher gibt es keine Vorbilder für die Schwulen im Libanon. Ein Klaus Wowereit oder Thomas Hitzelsperger – im Libanon derzeit nicht vorstellbar.
Ein Klaus Wowereit oder Thomas Hitzelsperger ist derzeit nicht vorstellbar
Damit sich das zumindest auf lange Sicht ändert, hat Bertho Proud Lebanon ins Leben gerufen. Die Organisation kümmert sich um die Belange von Schwulen, Lesben und Trans* und bietet unter anderem Rechts- und Gesundheitsberatung, HIV- und STI-Tests an. Proud Lebanon versucht aber auch, direkt in die Gesellschaft hineinzuwirken, beispielsweise mit Seminaren für Journalisten, um diese für das Thema Homosexualität zu sensibilisieren. Ein großer Coup ist dem Team um Bertho zum Internationalen Tag gegen Homophobie (IDAHOT) gelungen. Für eine prominent besetze Veranstaltung und einen Videofilm hatte man nationale Persönlichkeiten gewinnen können, und alle drei großen Fernsehstationen des Landes berichteten darüber.
„Wir sind nicht krank“, lautet frei übersetzt die Botschaft, die Proud Lebanon per Plakat und in einem Videoclip (auch mit deutschen Untertiteln) vermittelt. In ihrer Kampagne stellt die Organisation Schwule und Lesben in eine Reihe mit anderen Gruppen, über die in der Öffentlichkeit abschätzig geredet wird: Übergewichtige, Kleinwüchsige und Alte oder auch Rocker und Behinderte.
Dass diese Arbeit überhaupt geleistet werden kann, liegt daran, dass Proud Lebanon offiziell und staatlich anerkannt als Nicht-Regierungsorganisation (NGO) eingetragen ist. Also doch ein Zeichen des Fortschritts in Sachen Homosexuellenrechte? Bis dahin sei es ein langer Kampf gewesen, erklärt Bertho. Von einem Sieg aber möchte er nicht sprechen. Offiziell ist Proud Lebanon eine gemeinnützige Organisation, die sich um die Wahrung der Menschenrechte von Randgruppen kümmert. Dass damit vor allem auch LGBT gemeint sind, hat man bei der Antragstellung nicht erwähnt. „Die Anerkennung ist ein wichtiger Erfolg, aber auch ein Risiko“, sagt Bertho. „Denn nun wissen Regierung, Justiz und Polizei, wo wir zu finden sind und was wir tun.“ Die Angst, dass sich binnen kürzester Zeit die Situation der LGBT im Libanon dramatisch verschlimmern könnte, ist berechtigt.
Die Arbeit ist nur mit ausländischen Fördermitteln zu stemmen
Der NGO-Status ermöglicht es Proud Lebanon, ausländische Fördermittel zu beantragen. Mit Geldern des Europäischen Demokratiefonds konnten Büroräume angemietet, renoviert und ausgestattet und für zwei Jahre die Gehälter der sechs fest angestellten Mitarbeiter finanziert werden. Anders wäre die Arbeit nicht zu stemmen. Um sich ganz dem Aufbau von Proud Lebanon widmen zu können, hat Bertho nicht nur die Organisation des „Mr. Bear-Contest“ auf Eis gelegt, sondern auch sein Reiseunternehmen, das selbst dem „Wall Street Journal“ einen ausführlichen Bericht wert war.
Der Tourismusmanager hat über viele Jahre erfolgreich Reisen im Mittleren Osten für Schwule organisiert, auch in Nachbarländer wie Syrien. Aus heutiger Sicht mag das fast unglaublich klingen. Doch auch dort gab es vor gar nicht so lange Zeit eine lebendige queere Szene, berichtet Bertho. Heute dagegen müssen Schwule in Syrien befürchten, vom IS verhaftet zu werden.
Eine eigene, auf dem Arabischen basierende Geheimsprache hatte es den Schwulen in der Region ermöglicht, sich auch in der Öffentlichkeit zu unterhalten. Selbst ihm, der viele enge Kontakte nach Syrien pflegte, sei das schwer gefallen, sagt Bertho. Silben wurden weggelassen, andere hinzugefügt und neue Wörter in das Vokabular übernommen. Die Geheimsprache war lange Zeit ein guter Schutz, doch damit ist es nun vorbei: Die syrische Geheimpolizei hat sie Schwulen in der Folterhaft abgepresst. Jetzt werden verhaftete Schwulen von Polizeikräften verhört, die die Sprache perfekt beherrschten.
Ihre Geheimsprache schützt Schwule nicht mehr vor Polizeigewalt
Bereits ein bei einer Razzia oder Straßenkontrolle beschlagnahmtes Smartphone kann zum Risiko werden. Findet die Polizeit dort beispielsweise Nacktfotos oder Verbindungsdaten zu Datingportalen wie GrindR, kann das ein Todesurteil sein. Wer kann, flieht und wagt den Weg ins Ungewisse.
Viele von Berthos syrischen Freunden sind so – oft durch Haft und Folter körperlich und seelisch schwer geschädigt – in Beirut gestrandet und benötigen dringend Hilfe. Die Zahl der LGBT-Flüchtlinge aus Syrien, aber auch aus anderen Nachbarstaaten wie etwa Jordanien, Irak und Palästina wächst stetig. Ihnen zumindest eine Anlaufstelle bieten zu können, wo sie Beratung und Hilfe bekommen, war für Bertho ein wichtiger Grund, Proud Lebanon ins Leben zu rufen.
Er kann darauf stolz sein, was er mit seinen Leuten in so kurzer Zeit auf die Beine gestellt hat. Doch zufrieden ist das rund 25-köpfige Team aus Ehrenamtlichen und Angestellten nicht. Man fühlt sich für die LGBT im Land verantwortlich, stößt aber längst an die Grenzen des finanziell und personell Leistbaren. Bisweilen fehlt es an den einfachsten Dingen, gerade was die Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen angeht.
„Hepatitis-Impfungen anzubieten ist derzeit ein unerreichbarer Traum“, sagt Bertho. Aber auch Gleitgel steht auf seiner Wunschliste. „Die Regierung hat uns zwar Kondome – Billigimporte aus Indien – zur Verfügung gestellt, die wir in Szene-Locations verteilen dürfen. Aber Gleitgel gibt’s dazu keines: Es ist im Libanon einfach nicht erhältlich. Statt das Infektionsrisiko für die Leute zu reduzieren, setzen wir sie ungewollt einem Risiko aus, weil die Gefahr besteht, dass das Gummi reißt“, ärgert sich Bertho.
Etwa 8 % aller schwulen Männer im Libanon haben vermutlich HIV
Klassische Präventionsarbeit, wie wir sie hierzulande von der Deutschen AIDS-Hilfe und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kennen, gibt es im Libanon nicht. Genauer gesagt: nicht mehr. Eine staatliche Kampagne wurde aus Kostengründen einfach gestoppt. Dabei wäre sie wichtiger denn je, denn die HIV-Infektionsraten gerade bei den Schwulen steigen. Derzeit geht man davon aus, dass etwa acht Prozent aller schwulen Männer im Land HIV-infiziert sind. Bertho befürchtet, dass sich das Virus explosionsartig ausbreiten könnte, wenn nicht bald etwas passiert.
Und derzeit passiert einfach zu wenig. Immerhin hat die Gesundheitsbehörde den HIV-Schnelltest kostenfrei bereitgestellt. „Aber alles Weitere ist ein Problem“, sagt Bertho. „Wenn ein HIV-Positiver arm ist, hat er kaum Chancen auf eine HIV-Therapie. Uns selbst ist es nicht möglich, die Medikamente und die regelmäßigen Untersuchungen zu bezahlen. Manchmal können wir Ärzte überreden, den einen oder anderen Patienten kostenlos zu behandeln, aber das gelingt nur in Einzelfällen.“
Und wer sich die HIV-Therapie leisten kann, hat deshalb nicht automatisch Zugang zu den Medikamenten. Denn die Geschehnisse in Syrien wie auch in Israel wirken sich auch auf den Libanon aus. „Unser Gesundheitssystem ist ähnlich instabil wie das in der Ukraine“, sagt Bertho. Der Import von Medikamenten ist immer wieder unterbrochen, sodass es passieren kann, dass bestimmte Präparate zeitweilig nicht erhältlich sind. Wer deshalb eine HIV-Therapie unterbrechen muss, muss befürchten, dass das Virus gegen die Wirkstoffe resistent wird.
Geringe Chancen auf eine kontinuierliche HIV-Therapie
Dabei wächst der Bedarf an HIV-Medikamenten mit jedem Tag. Ein großer Teil der positiven HIV- und Hepatitis-Befunde, die bei Proud Lebanon ermittelt werden, entfallen auf Flüchtlinge. Sie benötigen nicht nur Essen und ein Dach über dem Kopf, sondern auch psychologische Betreuung. Was sie überlebt haben, lässt sich meist nicht in Worten schildern. „Ich bewundere ihren Mut“, sagt Bertho. „Viele sind sprichwörtlich durch die Hölle gegangen und zum Teil schwer verletzt. Ihr Körper ist von Kopf bis Fuß mit Hämatomen übersät – Spuren unerträglicher Folter.“
Der Flüchtlingsstrom verursacht allerdings auch Probleme mit der LGBT-Community im eigenen Land. „Vielen Flüchtlingen fehlt es an den elementarsten Dingen, sie benötigen deshalb Hilfe“, erklärt Bertho. „Vielen Libanesen ergeht es allerdings nicht viel anders. Auch hier gibt‘s Schwule, die alles verloren haben: den Arbeitsplatz, die Wohnung, die Unterstützung durch die Familie, und wir wissen nicht, wo wir sie unterbringen sollen.“
Bertho fürchtet, dass die Stimmung in der queeren Szene Libanons umschlagen könnte. Da ist zum einen der Neid, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und der internationalen NGOs ganz auf das Schicksal der Flüchtlinge gerichtet ist. Und während diese den Libanon in der Regel nur als Zwischenstation auf dem Weg nach Kanada, Europa oder Australien sehen, bleiben die libanesischen Lesben und Schwulen zurück – ohne Chance auf ein besseres Leben. Zum anderen sorgen sich manche um das öffentliche Ansehen der Homosexuellen, weil viele LGBT-Flüchtlinge sich mit Sexarbeit durchschlagen.
Ressentiments und Vorurteile machen sich in der Szene breit
Proud Lebanon will gegen diese Ressentiments angehen und versucht, Flüchtlinge in die Community zu integrieren, sodass beide Seiten sich kennenlernen und ihre Vorurteile abbauen können. Und neben HIV- und STI-Tests bietet man Flüchtlingen auch Kunst- und Theaterworkshops an, wo sie sich mit ihren Traumata auseinandersetzen können. Zugleich will man ihnen eine beruflich Perspektive geben, beispielsweise durch Englischunterricht, aber auch Schneider-, Koch- und Friseurausbildungen. „Wir unterscheiden nicht zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Alle haben die gleichen Bedürfnisse und Nöte, und dafür fühlen wir uns verantwortlich“, sagt Bertho.
Es sind viele Baustellen, an denen Proud Lebanon derzeit arbeitet. Ohne Unterstützung aus dem Ausland wird man es nicht schaffen, gibt Bertho zu und hofft nicht nur auf Spenden. „Wir sind offen für alle Angebote und Ideen“, sagt Bertho. So möchte man auch von den langjährigen Erfahrungen europäischer NGOs in der LGBT-Arbeit und HIV-Prävention profitieren, etwa durch Trainings und Hilfe beim Auf- und Ausbau entsprechender Angebote. Erste Kontakte gab es beispielsweise mit der Schwulenberatung Berlin und der Deutschen AIDS-Hilfe.
Klar ist: So schnell wird sich die Lage im Mittleren Osten nicht entspannen. Auch die Schwulen und Lesben im Libanon beobachten die Entwicklungen im Nachbarland Syrien mit Sorge. Was, wenn der Islamische Staat die Grenze zum Libanon durchbricht? Auszuschließen ist das nicht, zumal es, wie Bertho sagt, durchaus Menschen im Lande gibt, die mit dem IS sympathisieren. Sollte es soweit kommen, würde auch er den Libanon verlassen, sagt Bertho. Noch aber sieht er seine Aufgabe darin, das Leben für LGBT im Lande – Flüchtlinge wie Einheimische – zu erleichtern.
Autor: Axel Schock
Proud Lebanon kümmert sich in Beirut derzeit um mehrere Hundert queere Flüchtlinge. Die zur Verfügung stehenden Finanzmittel und personellen Ressourcen reichen dazu längst nicht mehr aus. Dringend nötig sind deshalb Spenden. Dazu wurde eine Crowdfunding-Plattform eingerichet. Auch kleine Beträge helfen!
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