„Ich bin ein Kämpfer“
(Dieser Text erschien zuerst im HIV-Magazin hello gorgeous. Herzlichen Dank an Herausgeber und Autor Leo Schenk sowie Fotograf Henri Blommers für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.)
Er ist gerade von einer Reise nach Jamaika, seinem Geburtsland, zurückgekehrt, das nicht gerade für Homosexuellenrechte bekannt ist. Nach einem Bericht von Human Rights Watch kam es zwischen 2009 und 2012 in Jamaica zu 231 Gewalttaten gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle und Trans*menschen (LGBTs). Zusammen mit den Anti-Homosexuellen-Gesetzen nährt das die HIV-Epidemie auf der Insel.
Nachdem er 2012 in einer jamaikanischen Zeitung öffentlich geoutet worden war und seither mit dem Tode bedroht wird, muss er bei jedem Jamaika-Besuch beschützt werden. „Ich reise unter Schutz vom Flughafen zu meinem Hotel, vom Hotel zum Gericht und wieder zurück. Meine Freunde und Familie kann ich nicht sehen. Ich lebe wie ein Gefangener, und das fühlt sich schrecklich an.“
„Ich lebe wie ein Gefangener, und das fühlt sich schrecklich an“
Seine Mutter wusste bereits seit seinem 12. Lebensjahr, dass er „anders“ ist. Doch darüber wurde in dem fundamentalistisch-christlichen Umfeld, in dem er aufwuchs, nicht gesprochen. Er selbst hat seine homosexuellen Gefühle lange unter Verschluss gehalten. Er heiratete eine Freundin in der Hoffnung, hetero zu werden, und richtete eine Selbsthilfegruppe für Männer ein, die von der Homosexualität geheilt werden wollten. „Zuerst teilten wir unsere Vorstellungen und hinterher gingen wir miteinander ins Bett. Das ist Quatsch, dachte ich. Danach habe ich damit aufgehört.“
Maurice, wann wurdest du Aktivist?
Ich war als Rechtsanwalt für einen kommerziellen Betrieb tätig und habe immer auch ehrenamtlich gearbeitet. Das brachte allerdings nicht viel, bis man mich fragte, ob ich für eine HIV-Organisation ein Training zum Thema „Menschenrechte“ durchführen möchte. In ganz Jamaika fand sich kein Rechtsanwalt, der das tun wollte. Dann hörte ich zum ersten Mal von der Gewalt gegen Schwule und Lesben.
Warum erst dann?
Vor dieser Zeit lebte ich in einer Blase. Ich wohnte in einem eingezäunten Haus und suchte mir Freunde, die genauso wie ich waren. Ich sagte mir, das sei zu meinem eigenen Schutz, doch eigentlich wollte ich nicht zu den verängstigten Queens gehören. Erst nach meiner Ehe konnte ich anders darüber denken und aktiver werden.
„Heute haben wir unsere eigenen Hassprediger“
Was macht Jamaika zu einem der unsichersten Länder für LGBTs?
Eine Kombination aus Kultur, Religion und Musik. Angefangen hat es mit der Ankunft der amerikanischen Evangelisten Ende der 1970er. Das fiel zusammen mit dem Auftreten von HIV und Aids. Die Musiker von heute wuchsen in jener Zeit auf und wurden durch ihren fundamentalistisch-christlichen Hintergrund gezwungen, in die Kirche zu gehen, wo sie die Anti-Homo-Predigten der Evangelisten hörten. Die jamaikanische Musik ist die homophobste Musik der Welt mit Texten, die zur Ermordung von Schwulen und zur Vergewaltigung von Lesben aufrufen. Die Musik hört man überall, im Bus, im Radio, auf der Straße. Heutzutage sind keine amerikanischen Evangelisten mehr notwendig, um Hass zu verbreiten. Wir haben unsere eigenen Hassprediger.
2012 hat man dich im Jamaica Observer öffentlich geoutet, danach musstest du das Land verlassen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte ich in Kanada Tom geheiratet und war dabei, auszuwandern. Mein Reisepass wurde gerade verlängert, als ein Foto von unserer Hochzeit veröffentlicht wurde – in der Zeitung und im Internet. Ich bekam allerlei Todesdrohungen und bat die Zeitung, das Foto von ihrer Seite zu nehmen, was aber nicht geschah. Daraufhin ging ich zur Polizei, um eine Anzeige zu erstatten. Sie lachten und sagten, dass sie Homos hassen, und ich wurde aus dem Büro gejagt. Zu der Zeit gab ich Vorlesungen an der Universität, und ein Student stellte meinen Vorlesungsplan online, sodass jeder sehen konnte, wann ich an welchem Ort war. Dann bin ich untergetaucht, bis ich meinen Reisepass erhielt, und flüchtete aus dem Land.
Warum haben sie das gemacht?
Wenn man glaubt, dass Homosexuelle ein Gräuel und für Katastrophen wie Orkane und Erdbeben verantwortlich sind, dann fühlt man sich verpflichtet, diese Information weiterzugeben. Das sieht man auch bei der Gewalt gegen Homosexuelle. Es geht nicht nur darum, sie zusammenzuschlagen, sondern vor allem darum, Homosexualität auszurotten. Diese Sorte Ideologie kann nur religiös begründet sein.
„Es geht vor allem darum, Homosexualität auszurotten“
Und trotzdem bist du mit einem Pfarrer verheiratet. Bist du mit deinem Glauben nie in Konflikt geraten?
Doch, sicher. Mein Vater hat sich im Fernsehen ständig die Evangelisten mit ihren Hasspredigten angeschaut. Als Kind fragte ich mich immer: Wie kann der christliche Glaube nur so gemein und hasserfüllt sein? Wie kann man an einen Gott glauben, der so viel Hass verbreitet? Jesus ging mit allen und hat niemanden ausgeschlossen. Es geht nicht um meine Sexualität, sondern um meine Menschlichkeit. Wenn man alles Negative herauswringt, bleibt ein Glaube übrig, der jeden umarmt und bereichert.
Laut UNAIDS sind 32 % der homosexuellen Männer in Jamaika HIV-infiziert. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Homophobie und Unwissen.
In der Tat. Das ist aber nicht nur ein Problem der Homosexuellen. Sechzig Prozent geben an, dass sie auch Sex mit einer Frau haben, weil sie glauben, so würden sie von ihrer HIV-Infektionen geheilt. Auf diese Weise entsteht eine Brücke in die heterosexuelle Bevölkerung.
Wo bekommt man eine gute HIV-Versorgung in einem homophoben Land?
Das ist schwierig. In kleinen Ländern wie der Dominikanischen Republik trauen sich die Menschen nicht, Hilfe zu suchen. Man wartet dort, bis man krank wird, und fliegt dann ins Ausland, um Medikamente für einen Monat zu holen. Reisen kostet Geld, man kann das nicht immer machen, sodass es eben oft keine Medikamente gibt. Dadurch können Resistenzen entstehen, was zum Tod führen kann.
Wer HIV-Medikamente braucht, muss reisen können
In Jamaika ist es etwas besser. Wenn du in Kingston wohnst, kannst du nach Montego Bay [Anm.d.R.: nach Kingston die zweitgrößte Stadt Jamaikas] fahren, um dir dort Medikamente zu besorgen. Das ist natürlich leichter, wenn du genug Geld hast, um zu reisen. “
Du arbeitest für das Kanadische HIV/AIDS Legal Network. Was genau machst du da?
Eigentlich das, was ich zuvor bei Aids Free World gemacht habe. Ich bereise die karibischen Inseln und setze bei Behörden und Organisationen das HIV-Stigma auf die Tagesordnung. Ich stelle Strategiepläne auf, spreche mit Entscheidungsträgern und Politikern in verschiedenen Ländern und strenge Prozesse gegen Länder mit Anti-Homosexuellen-Gesetzen an.
Du bist äußerst aktiv auf Facebook, wo jeder sehen kann, was du gerade tust. Warum bist du so offen?
Das ist Teil meiner Strategie, die homosexuelle Bevölkerung Jamaikas so sichtbar wie möglich zu machen. Über uns gibt es viele Mythen, und auf diese Weise hoffe ich, für mehr Klarheit zu sorgen. Man hat viel Angst vor LGBTs. Ich zeige, wie langweilig, aber auch wie fantastisch mein Leben mit meinem Mann und meinem Sohn ist.
Was hält dich auf Trab?
Es gibt vieles, was mich motiviert. Zuallererst mein Glaube. Und auch die Berichte der Menschen, für die ich arbeite und die sich ständig über Facebook an mich wenden und mich bitten, etwas für sie zu tun. Ich kenne die Gewalt, und man kann zwei Dinge tun, wenn man mit ihr konfrontiert wird: weglaufen oder sich wehren. Ich bin ein Kämpfer.
„Wir müssen aus dem Schatten treten“
Glaubst du, dass es in Sachen Menschenrechte vorangeht?
Wenn man sich in einen Sturm begibt, ist es schwierig zu sehen, wo genau man sich befindet. Aber ich sehe sehr wohl Fortschritte. Die Märchen und Unwahrheiten verschwinden so langsam. Wir werden unsere Rechte bekommen, national wie auch international. Und immer mehr Menschen offenbaren sich: Verbündete und LGBTs selbst. Dieses Sichtbarmachen ist wichtig für uns. Wir müssen aus dem Schatten treten.
Und wie ist die Lage von Menschen mit HIV?
Ich bin begeistert von den HIV-Medikamenten und der Forschung zur funktionellen Heilung. Heutzutage weiß man viel mehr über die Wirkung der Medikamente auf die Viruslast. Auch auf diesem Gebiet müssen wir hart arbeiten, um Mythen zu widerlegen. Ich bin total glücklich in meinem Job, aber eigentlich möchte ich ihn nicht. Aids muss Geschichte werden.
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