„Ich weiß, wo ich stehe“
(Dieser Text erschien zuerst im HIV-Magazin hello gorgeous. Herzlichen Dank an Herausgeber Leo Schenk, Autorin Marleen Swenne und Fotografin Linelle Deunk für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.)
1986 hatte ich zum ersten Mal mit HIV zu tun. Ein Freund von mir hatte Aids. Damals konnte man in Trinidad nirgends gute Hilfe bekommen. Das Tabu und die Unwissenheit waren zu groß, und es gab keine Betreuer oder Pfleger, die helfen wollten. Zusammen mit Freunden haben wir uns um ihn gekümmert. Seine Krankheit dauerte nicht lange, er starb bereits nach ein paar Wochen. An diesem Punkt begann ich, als Freiwillige über HIV und Aids aufzuklären.
Ich war ein gesittetes Mädchen und hatte nur wenige Beziehungen. Ich heiratete und bekam eine Tochter, doch meine Ehe zerbrach. Als meine Tochter drei Jahre alt war, zog ich nach St. Maarten. Ich wollte ein oder zwei Jahre später wieder nach Trinidad zurückkehren. Doch ich blieb in St. Maarten, um dort Aufklärungsarbeit zu leisten.
„Ich war ratlos, der Arzt gab mir noch ein bis zwei Jahre“
Ich ließ mich jedes Jahr untersuchen und 1993 auch auf HIV testen. Dafür gab es keinen konkreten Anlass, ich war nicht krank, fühlte mich gut – es galt nur der Vorsorge. Der HIV-Test fiel positiv aus. Ich hatte mir das Virus während einer Beziehung nach meiner Ehe eingefangen. Wie so viele damals haben wir uns erst geschützt, aber nach einer Weile vertraute ich ihm, und wir hatten ungeschützten Sex. Ich dachte keinen Moment daran, dass ich ein Risiko eingehe. Ich nehme mir das nicht übel, aber es war vielleicht naiv.
Ich war ratlos, der Arzt gab mir noch ein bis zwei Jahre. Wie würde es mit meinem Kind laufen? Glücklicherweise habe ich eine intakte Familie, die mich immer unterstützt, egal was kommt. Bei ihr habe ich mich immer wohlgefühlt, und das ist immer noch so. Sie hätten sich sicherlich um meine Tochter gekümmert, aber das wollte ich natürlich nicht. Ich wollte sie aufwachsen sehen und bei ihr bleiben, bis sie erwachsen ist.
Ich wurde zu Hause katholisch erzogen und bin streng gläubig. Ich wandte mich an Gott. Zuerst mit all den Fragen, die sich wahrscheinlich jeder nach einer solchen Diagnose stellt: Warum ich? Was kann ich daraus lernen? Wer hilft mir weiter?
„Ich schloss mit Gott einen Pakt“
Letztendlich – ich weiß, dass ich das als Gläubige eigentlich nicht darf – schloss ich mit ihm einen Pakt: Lass mich leben, bis meine Tochter alt genug ist, um auf eigenen Beinen zu stehen. Lass mich wenigstens einen HIV-Positiven unterstützen und wenigstens einem Menschen dabei helfen, sich nicht durch naives Vertrauen anzustecken, wie das bei mir der Fall war. Das verschaffte mir Ruhe.
Nach einer Weile bekam ich eine Stelle im Versorgungssystem für Menschen mit HIV/Aids, sodass ich viel länger in St. Maarten blieb als geplant. Als meine Tochter ihren Oberschulabschluss hatte, war mein Geschäft mit Gott beendet. Was nun?
Mehr als zehn Jahre war ich kerngesund, doch irgendwann gab es Anzeichen, dass es mit meinem Immunsystem bergab ging, und ich begann, Medikamente zu nehmen. Der HIV-Welt war ich müde geworden. Ich hatte all die Jahre gearbeitet, meine Aufgaben waren erledigt, mein Netzwerk war gewachsen, es war schwerer geworden. Ich hatte eigentlich genug davon und wollte mich auf etwas anderes konzentrieren. Ich war HIV-müde.
„Ich war HIV-müde“
Genau zu dem Zeitpunkt suchte GNP+ einen neuen Direktor. Mehrere Leute rieten mir, ich sollte mich bewerben, aber alles in mir sagte: Nein! Dann habe ich lange nachgedacht, mich gefragt, was ich möchte und wie ich es möchte. Und ich wandte mich erneut an Gott, denn das war ein Teil von mir. Ich sagte: „Wenn es so sein soll, dann lass es geschehen.“ So schrieb ich einen Bewerbungsbrief.
Als sie mich anriefen, um mir mitzuteilen, dass ich in der engeren Auswahl war, beschloss ich, mich der Sache voll und ganz zu widmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man mich haben wollte. Als ich hörte, dass ich den Posten habe, fand ich das seltsam. Ich akzeptierte, dass es so sein sollte.
Ich habe es keine Sekunde bereut und gebe 100 Prozent in meinem Job. Die Arbeit ist ganz anders als in St. Maarten, hier kann ich für alle HIV-Positiven etwas bewirken, und das fühlt sich gut an.
„Ich gebe 100 Prozent in meinem Job“
GNP+ will die Lebensqualität von HIV-Positiven weltweit verbessern. Hauptziele sind die Förderung der Kompetenzen von Menschen mit HIV, die Verbesserung des Zugangs zu guter gesundheitlicher Versorgung und der Abbau von Diskriminierung und Stigmatisierung.
Die allgemeine Zielsetzung wird in verschiedenen Bereichen umgesetzt. Daher arbeiten wir mit regionalen Abteilungen wie auch mit internationalen Institutionen und Netzwerken zusammen.
Im Allgemeinen ist die Herangehensweise überall gleich: Uns geht es vor allem um gute Interessenvertretung, größeren Einfluss von Menschen mit HIV/Aids auf die Politik sowie gute Aufklärung und Prävention. Alles steht und fällt mit Empowerment: Je mehr Menschen sich auf regionaler Ebene starkmachen und organisieren, desto eher werden sie erhört.
„Je mehr Menschen sich organisieren, desto eher werden sie erhört“
Ich wünsche mir, dass GNP+ in zehn Jahren überflüssig ist, aber ich fürchte, dass das Gegenteil der Fall sein wird. Für das neue Jahrtausend sind tolle Ziele formuliert worden, die 2015 umgesetzt sein sollten. Aber davon wurde nur wenig realisiert. Die Eindämmung von HIV/Aids steht an sechster Stelle der Liste. Das ist in manchen Regionen gelungen, in anderen jedoch überhaupt nicht. Außerdem glaube ich, dass HIV und Aids mit Armut und der Menschenrechtsproblematik zusammenhängen, und hier ist wenig passiert. UNAIDS hat nun für 2030 Ziele formuliert, aber weil wir unsere Ziele für 2015 nicht einhalten konnten, sehe ich nicht, dass wir sie vor 2030 erreichen werden.
Ich bin überzeugt, dass wir als GNP+ in Sachen Menschenrechte eine starke Stimme haben könnten. Diese Stimme müssen wir hören lassen, aber hier mache ich mir große Sorgen. Vor allem die Rechte von doppelt stigmatisierten Menschen, zum Beispiel Trans*Menschen oder Homosexuelle mit HIV, werden in vielen Ländern missachtet. Ich sehe, dass die Diskriminierung auf der ganzen Welt eher noch zunimmt.
„Ich brauche mich nicht zu schämen und will zeigen, wer ich bin“
Im Vergleich zu vielen anderen Menschen mit HIV habe ich Glück gehabt. Ich musste erst dann HIV-Medikamente nehmen, als sie einfacher einzunehmen waren, ich habe eine Familie, die immer für mich da ist, und bin nicht diskriminiert worden.
Durch meine Arbeit wusste ich, dass einem das Stigma zu schaffen machen kann. Deshalb war ich vorsichtig mit meiner Offenheit, wenn ich mir nicht sicher war. Heute bin ich, was HIV angeht, vollkommen offen. Das gehört auch zu meiner Funktion: Ich brauche mich nicht zu schämen und will zeigen, wer ich bin.
Ich bin die erste Frau auf diesem Posten, und natürlich haben wir in Regionen, wo es notwendig und möglich ist, spezielle Projekte für Frauen mit HIV. Aber ich hoffe, dass ich für jeden Menschen mit HIV etwas tun kann, nicht nur für Frauen. Ich finde es jedoch gut, wenn ich anderen HIV-positiven Frauen Vorbild und Inspiration sein kann.
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