GEBOREN MIT HIV

„Letztlich musste ich da allein durch“

Von Philip Eicker
In Deutschland wird am 20. September der Weltkindertag begangen. Wir nehmen dies zum Anlass, den Blick auf Kinder mit HIV zu richten. Ein Beitrag von Philip Eicker.

„Kinder brauchen Zeit“ lautet das Motto des Weltkindertags 2012. Foto: Gerd Altmann, pixelio.de

Sandra* war wohl das einzige Kind, das Nutella gehasst hat. Die inzwischen 23-Jährige ist seit ihrer Geburt HIV-positiv. Ihre Mutter starb an Aids, als Sandra fünf Jahr alt war. Seit ihrem zehnten Lebensjahr muss Sandra Medikamente nehmen. „Ich habe lange gebraucht, um die Tabletten überhaupt runterzubekommen“, erinnert sie sich. 16 Stück musste sie damals über den Tag verteilt einnehmen. „Bekannte von uns kamen auf die Idee, die Tablette in einem Löffel Nutella zu verstecken. Jahrelang konnte ich keine Nutella essen, weil ich schon beim Gedanken daran würgen musste.“

Mit sechs Jahren hat Sandra von ihrem Vater erfahren, dass sie HIV-positiv ist. Mit der Erklärung hat er sich viel Mühe gegeben. „Es gab da ein Kinderbuch über die Körperpolizei, die die bösen Viren jagt“, erinnert sich Sandra. „Ich wusste trotzdem nicht, was die Krankheit bedeutet und was auf mich zukommen könnte. Entsprechend leichtfertig bin ich damit umgegangen.“ Die erste unangenehme Erfahrung hat sie mit elf gemacht. Eine Freundin in der Hauptschule drohte nach einem Streit damit, Sandras „Geheimnis“ überall herumzuerzählen. „Man kann in so einem Alter mit so viel Vertrauen noch gar nicht umgehen“, bilanziert Sandra. „Im Nachhinein betrachtet, wäre es vielleicht besser gewesen, mein Vater hätte es mir erst zwei, drei Jahre später gesagt.“

„Die Kinder merken ja selbst, dass etwas nicht in Ordnung ist“

Elke Adler (54), Mitbegründerin des Heidelberger Vereins Aids und Kinder, hält nichts davon, Kinder zu lange im Ungewissen zu lassen – egal ob das Kind selbst HIV-positiv ist oder nur die Eltern betroffen sind. „Die Kinder merken ja selbst, dass etwas nicht in Ordnung ist“, sagt Adler. Da sind die Medikamente, regelmäßige Arzttermine, häufige Blutentnahmen. „Es gibt Möglichkeiten, auch einem kleinen Kind altersgerecht zu erklären, was diese Krankheit bedeutet.“ Nur mit den Begriffen HIV und Aids solle man warten, bis das Kind aus der Grundschule sei – zu ihrem eigenen Schutz.

Ansteckungsängste und Vorurteile belasten die Kindheit mit HIV. Foto: Dieter Schütz, pixelio.de

„Ein kleines Kind kann mit den Wörtern HIV und Aids nicht viel anfangen. Aber wenn es sie im Kindergarten oder in der Grundschule erwähnt, dann herrscht helle Aufregung.“ Oft helfe dann nicht einmal Aufklärung durch Mediziner oder Aidshilfen. „Die Angst um die Kinder ist zu groß.“ Da würden dann abstruse Beispiele konstruiert, in denen sich das eigene Kind entgegen aller Wahrscheinlichkeit anstecken könne. Dazu kommen unausrottbare Vorurteile: Was muss das für eine Familie sein, wo so etwas passieren kann?

In Deutschland kommen nur sehr wenige Kinder mit HIV zur Welt

In den meisten Fällen bleibt HIV ein Familiengeheimnis. Der Verein Aids und Kinder bietet deshalb regelmäßig Begegnungsmöglichkeiten. „Das Wichtigste ist, dass sich die Familien in einem geschützten Rahmen treffen und austauschen können“, sagt Elke Adler. „Unsere Gesellschaft hat sich nie richtig mit dem Thema auseinandergesetzt. Viele sind verwundert, wenn sie erfahren, dass es auch bei uns HIV-positive Kinder gibt. Man bringt das mit Afrika in Verbindung, aber nicht mit Westeuropa.“

Tatsächlich kommen in Deutschland nur sehr wenige Kinder mit HIV zur Welt. 2011 wurden dem Robert Koch-Institut sechs Fälle gemeldet. Dazu kommen neun Diagnosen bei Kindern, die erst nach ihrer Geburt nach Deutschland kamen.

Das Virus kann in der Schwangerschaft, bei der Geburt und beim Stillen von der Mutter auf das Kind übertragen werden. Ohne Schutzmaßnahmen beträgt das Übertragungsrisiko 20 %. Es lässt sich aber auf weniger als 1 % senken, wenn die Mutter während der Schwangerschaft HIV-Medikamente einnimmt und nach der Geburt auf das Stillen verzichtet, wenn für die Geburt ein Ärzteteam bereitsteht, das sich mit HIV auskennt, und das Neugeborene eine Prophylaxe mit HIV-Medikamenten erhält. Seit 2007 sind Ärztinnen und Ärzte in Deutschland verpflichtet, jeder Schwangeren einen HIV-Test anzubieten.

„Er hat sogar verstanden, warum es ihm erst jetzt gesagt wurde“

Auch Rebekka* (45) hat einen HIV-Test machen lassen, als sie schwanger wurde. Diagnose: positiv. Doch ihr Sohn Juri* gehörte zu jenen wenigen Neugeborenen, die sich trotz optimaler medizinischer Betreuung bei ihrer Mutter anstecken. Mittlerweile ist er elf Jahre alt. Aber erst im Sommer 2012 hat er erfahren, dass er HIV-positiv ist. „Das Schweigen ist mir immer schwerer gefallen“, berichtet Rebekka. „Es ist schon belastend genug, in der Gesellschaft mit einem Geheimnis zu leben, aber noch schlimmer ist das gegenüber dem eigenen Kind.“

Familien mit HIV brauchen geschützte Räume für Treffen und Austausch. Foto: Dieter Schütz, pixelio.de

Eigentlich wollte Rebekka selbst damit rausrücken. „Ich hab mir das für die Sommerferien vorgenommen, wenn er wenigstens die Schule aus dem Nacken hat. Aber es ging nicht. Ich war total blockiert.“ Also bat Rebekka Juris HIV-Schwerpunktarzt um Hilfe. „Er konnte das besser erklären, und seine Worte haben ein ganz anderes Gewicht als meine.“ Eine Stunde hat sich der Mediziner Zeit genommen. Rebekka erzählt begeistert von dem Termin: „Juri war fantastisch. Er hat viele Fragen gestellt und sich alles genau erklären lassen.“ Er wollte wissen, ob auch andere Familienmitglieder HIV haben und wie seine Mutter positiv geworden ist. „Er wirkte fast erleichtert und hat sogar verstanden, warum es ihm erst jetzt gesagt wurde.“ Zu groß war die Sorge, dass er es früher einem Freund verraten hätte.

„Es finden sich immer genug Idioten, die einem das Leben schwer machen“

„Er hat auch so schon am eigenen Leib erfahren, dass Kinder grausam sein können“, sagt Rebekka. „Er sieht ein bisschen kränklich aus: sehr schmal und bleich.“ Von Beschimpfungen wie „Bleichgesicht“ oder „Brillenschlange“ hat ihr Juri schon erzählt. „Man braucht ja nur ein bisschen aus dem Rahmen zu fallen und schon wird man ausgelacht“, stellt Rebekka fest. „Ich will gar nicht behaupten, dass die Mehrheit negativ reagieren würde. Aber es finden sich immer genug Idioten, die einem das Leben schwer machen.“

Sandra hatte nach ihrem leichtfertigen Outing Glück: Die kleine Familie zog kurz danach in einen anderen Ort. „Dort habe ich bewusst gewählt, wem ich es erzähle und wem nicht“, erzählt die inzwischen ausgebildete Kauffrau. An ihrer neuen Schule wussten nur die Lehrer Bescheid. Sandras Vater hatte die Schulleitung eingeweiht. „Nur für den Fall, dass ich mich verletzen sollte. Damit keine Ansteckungsgefahr besteht.“

Im Schulalltag kann HIV nicht übertragen werden. Foto: Dieter Schütz, pixelio.de

Eine generelle Informationspflicht gegenüber Kindergärten und Schulen haben die Eltern HIV-positiver Kinder nicht. „Da HIV im Alltagskontakt nicht ansteckend ist, schätzt der Gesetzgeber die Gefahr der Stigmatisierung der betroffenen Personen höher ein als eine Gefährdung Dritter“, betont die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendliche im Umfeld von HIV/AIDS in einer Handreichung für Schulen und Kindergärten. Dort erfahren Erziehungsprofis auch, dass sie nicht nur eine Schweigepflicht gegenüber Dritten haben, sondern auch die betroffenen Kinder nicht gegen den Willen der Eltern aufklären dürfen.

Heute lacht Sandra über ihre Geheimnistuerei

Obwohl sich Sandras Lehrer korrekt verhalten haben, hat sie keine guten Erinnerungen an ihre Kindheit mit HIV: „Die Schulzeit war die Hölle für mich. Gerade in der Pubertät, wenn man eh unzufrieden ist.“ Es sei wichtig, dass sie mit ihrem Vater und anderen Verwandten immer offen über ihre Krankheit reden konnte. Aber: „Letztlich musste ich da allein durch.“

Mit allen möglichen Taktiken hat Sandra versucht, ihre Infektion zu verschleiern. Auf Klassenfahrt in Salzburg sicherte sich die damals 13-Jährige im Mädchenschlafsaal bewusst ein Bett in einer Mauernische. So konnte sie ungesehen ihre Tabletten nehmen, portionsweise abgefüllt in unverdächtige Fotodosen. Heute lacht Sandra über ihre Geheimnistuerei. „Keiner hat was gesehen. Aber in dem Alter macht man sich ja jede Menge Gedanken.“

*Name geändert

3 Kommentare

Markus 20. September 2012 15:17

Auch wenn das Thema in Deutschland glaube ich nicht ganz so akut ist, sollte es vor allem mal eine globale Drogenpolitik geben, denn die HIV-Gefährdung durch das Spritzen mit Nadeln ist sehr groß: http://www.drogenmachtweltschmerz.de/schmerz/soziale-folgen/gesundheitsgefahrdung/

Götz 22. September 2012 16:08

Hallo Elke,

ich sage Dir danke für den Artikel.

Lieben Gruß 🙂

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