Der Fotograf und Autor Philipp Spiegel liebt das Leben und die Frauen. 2014 bekommt er seine HIV-Diagnose. Nach zahlreichen HIV-Coming-outs lüftet er nun sein HIV-bezogenes Pseudonym.

„Ich hätte lieber Krebs als HIV!“, sagt die Studentin in die Runde.

„Klar doch!“, sagt daraufhin eine andere.

„Ich hätte lieber Krebs als HIV!“

Alle nicken mit.

Ich starre ungläubig.

Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn.

Ich verkrampfte, bekomme zittrige Hände. Ich beiße die Zähne zusammen – ich koche vor Wut.

In meinem Kopf fängt es laut zu rattern an: „Soll ich was sagen? Aufklären? Erzählen von der Nichtübertragbarkeit unter HIV-Therapie? Von meinem Leben?

Doch wenn ich zu viel erzähle, vermuten sie dann etwas? Ahnen Sie, dass ich HIV-positiv bin? Wie kann man so dumm sein? Wie kann man so etwas sagen?“

Nur nichts anmerken lassen

Ich will schreien. Die Mädchen anbrüllen. Auf den Tisch schlagen. Mein Glas gegen die Wand werfen. Irgendwas, um dieser angestauten Mischung aus Frust, Wut und Verzweiflung freien Lauf zu lassen.

„Nur nichts anmerken lassen“, versuche ich mir stattdessen zu sagen. Sie wissen nicht von mir. Lange Atemzüge folgen.

Die dunkle Bar stinkt nach kaltem Rauch und altem Bier. Im Hintergrund dröhnt die „Best-of“-CD von Queen. Ein Gespräch über Queen führte zu Freddie führte zu HIV führte zu Aids.

Ich kenne das Geburtstagskind auf dieser Party nur flüchtig, ihre Freundinnen kenne ich gar nicht – aber sie hinterlassen einen prägenden Eindruck.

Hätte ich etwas sagen sollen?

Ein paar Minuten halte ich noch aus, dann schleiche ich mich aus der Bar, um mich in Luft aufzulösen.

Die Aussagen der jungen Frauen bleiben noch lange an mir kleben.

In den folgenden Nächten quäle ich mich in den Schlaf. „Hätte ich etwas sagen sollen? Wäre es nicht egal gewesen? Was wäre, wenn?“

Meine HIV-Beichten waren ein erschöpfendes Ritual

Ich kann nicht aufhören, an die zurückliegenden drei Jahre zu denken. An die vielen Male, wo ich Freund_innen oder Familienmitgliedern von meinem Status erzählt habe – und an die Narben, die meine „HIV-Beichten“ hinterließen.

Es war ein erschöpfendes Ritual, stets begleitet von Schuldgefühlen und entsetzten Blicken.

Die ersten Male waren die schlimmsten. Die Worte blieben mir immer im Hals stecken. Sie wollten nicht ausgesprochen werden. Das Aussprechen würde sie zu real machen.

Mit viel Anstrengung schaffte ich es dann aber doch immer wieder, den magischen Fluch zu flüstern: „Ich bin HIV-positiv“.

Damit übergab ich meinem Gegenüber jedes Mal einen tonnenschweren Rucksack – voller Fragen, Sorgen, Erzählungen und Vorurteile.

Und ich musste auf eine unvorhersehbare Reaktion warten. Wut? Angst? Sorge? Meistens kam ein verhaltenes Schweigen als Antwort.

Warum ist es für HIV-positive Menschen so schwer, sich zu zeigen?

Bis jetzt hatte ich Glück. So schwer die Annahme meines Rucksacks auch für meine Freunde und Familie war, ich wurde niemals ausgestoßen oder schlecht behandelt.

Trotzdem schleppte ich eine Schuld mit.

Mit jedem neuen Mal Erzählen blieb eine Nervosität – aber sie wurde immer erträglicher.

Wiederholungen führten zu einer Normalisierung. Zu einer neuen Realität.

Mein Wissen über HIV fing an, mich zu beruhigen

Mittlerweile kannte ich mich gut mit den HIV-Medikamenten und der Wirkung der HIV-Behandlung aus. Mein Wissen über HIV fing an, mich zu beruhigen.

Dadurch erkannte ich, dass ich das Gewicht des Rucksacks mitbestimmen konnte. Je souveräner ich erzählte, desto leichter wurde der Rucksack angenommen.

Wenn HIV kein größeres Problem für mich selbst mehr darstellte, warum sollte es das für mein Gegenüber tun?

Trotzdem fragte ich mich – wie nach dieser Party – immer wieder: Warum ist es für HIV-positive Menschen so schwer, sich zu zeigen?

Warum verstecken sich so viele Betroffene? Warum habe auch ich diese Angst, mich zu zeigen? Sogar Angst, diesen Text zu schreiben?

Aus Scham? Aus dem Nicht-wahrhaben-Wollen?

Oder ist es die Angst vor Konsequenzen? Angst vor gesellschaftlicher Ächtung?

HIV hinterlässt Gerüchte

„Erzähl es bloß niemanden!“, flüsterten mir die einen zu.

„Du musst ganz vorsichtig sein, wem du das anvertraust!“, rieten mir die anderen.

Denn HIV hinterlässt Gerüchte, die sich im Umfeld verbreiten. Meine Familie und Freund_innen wurden auf mich angesprochen. Und schon wieder fühlte ich mich schuldig – schon wieder hatte ich für Unbehagen bei meinen Mitmenschen gesorgt.

Jedes Mal, wenn ich Gespräche über HIV oder Aids in meinem Umfeld mitbekam, spitzte ich die Ohren. Ich war immer wieder erstaunt von den Theorien, Beschimpfungen und Anschuldigungen.

„Das haben ja nur Schwule, Nutten oder Perverse“

„Das haben ja nur Schwule, Nutten oder Perverse“, hörte ich immer wieder.

Hinter jedem Kommentar steckte stets ein vorwurfsvoller Ton.

Aids. Unmoralisch. Grauslich. Selber schuld.

Und ich schwieg. Ohnmächtig in meinem Versteck des Schweigens. Gelähmt vor der Angst, entlarvt zu werden.

Von HIV erzählen

Doch mein Bedürfnis, von HIV zu erzählen, wuchs.

Meine Faszination für das Virus und seine gesellschaftlichen Auswirkungen und mein Wunsch nach Aufklärung gaben mir langsam den Mut, mich zu äußern.

Zaghaft fing ich an. Ein Interview hier, eine Erzählung da – oft mit denselben dummen und stigmatisierenden Fragen, die zeigten, dass der Wissensstand in den 1980er-Jahren steckengeblieben war.

„Wie ist das denn so für dich?“

Immer wieder bei Null anfangen: „Was ist der Unterschied zwischen Aids und HIV?“ und „Wie ist das denn so für dich?“.

Die Interviewer_innen hatten stets mitleidige Blicke und Samthandschuhe – und mir ging das tierisch auf die Nerven.

Ich erzählte immer offener und lockerer über HIV.

Zuspruch und Ermutigung, aber auch Empörung

Und ich fand Zuspruch. Ärzt_innen, Lehrer_innen und andere Menschen mit HIV meldeten sich bei mir und bedankten sich für meine aufklärenden Worte.

Ein Lehrer sagte, er würde meine Texte in seiner Klasse verbreiten.

Eine Ärztin fing an, mir von ihren Erfahrungen zu erzählen.

Ich erfuhr von vielen Menschen, die sich, so wie ich, verstecken, in Einsamkeit leben und pausenlos Angst haben, entlarvt zu werden.

Der HIV-positive Mann im Gasthaus, der still schweigend ein Lächeln vortäuscht, während seine Freunde auf die „Schwuchteln“ schimpfen und sagen, dass Conchita Wurst Aids verdient habe.

Das Mädchen, das sich nicht traut, seinen Eltern zu erzählen, dass es HIV-positiv ist. Sie beschmutzt den Ruf der Familie, denkt sie. Was würden denn die Nachbarn denken?

Die Erzählungen motivierten mich, mehr zu machen.

„Ist doch selbstverschuldet!“

Parallel dazu wuchs die Wut vieler Leser_innen auf mich.

„Mein Mitleid hält sich in Grenzen,“ kommentierten einige.

„Der verheimlicht sicher perverse Praktiken!“, meinten andere.

„Wie kommt der Steuerzahler dazu, so jemanden zu finanzieren? Ist doch selbstverschuldet!“

Nachrichten über HIV und Aids haben noch immer ständige Begleiter: Angstgetriebener Hass und empörte Moralprediger_innen, die mit erhobenem Finger „Sünde“ rufen.

Ich erzählte immer mehr

Ich legte noch eins drauf – ich fing an, über Dating, Sexualität und mein Sexleben zu erzählen, von der Nachweisgrenze, Kondomen und Safer-Sex-Praktiken. Und dass ich manchmal meinen positiven Status nicht erwähne.

„KRIMINELL!“, schrieb einer in den Kommentaren. „Der verseucht unschuldige Frauen mit dieser Schwulenseuche!“

„So etwas gehört kastriert!“, forderte ein anderer.

„Der ist eine Gefahr für die Gesellschaft! Wegsperren! HIV Positive sollen registriert werden! Das Strafrecht muss ausgeweitet werden!“

„Die Nachweisgrenze? Pah! Lügenpresse!“

Ich befand mich in einem Dilemma. Zeigte ich kein Gesicht, war ich ein Feigling. Eine „erfundene Geschichte“. Nur Angstmache.

Zeigte ich mich, war ich der selbstverliebte Egomane. Der Selbstdarsteller.

Die Angst der anderen verzeiht nicht

Die Angst der anderen verzeiht nicht.

Jedoch musste ich noch zu viel mit mir selber ausmachen. Der emotionale Rucksack, den mir HIV gegeben hatte, war noch zu schwer.

„Hätte ich doch…“

„Wenn ich doch nur…“

„Warum habe ich nicht…“

Das Mantra fraß meine Seele auf.

Viele leiden ohne Ansprechpartner_in

So leiden viele. Ohne Stimme. Ohne Ansprechpartner_in.

Ein verschwiegenes Doppelleben inmitten der Gesellschaft, ohne Ahnung, wem man die HIV-Diagnose tatsächlich anvertrauen kann. Dem besten Freund? Den Eltern? Dem Stammtisch? Wer wird mich verurteilen? Wer wird es weitererzählen? Wem wird es egal sein?

HIV ist unbehandelt tödlich.

HIV ist behandelt ebenfalls tödlich: Der soziale Tod wird begleitet von Schuld, Scham und Sühne. Von zerstörerischen Selbstzweifeln. Isolation.

Die Beichte ist eine Einbahnstraße – einmal ausgesprochen, kann ich es nie wieder zurücknehmen.

Aber die Beichte ist auch eine Befreiung.

Ich bin HIV-positiv. Na und?

Ich probierte immer wieder neue Wege aus, um von meinem Status zu erzählen.

Bei einem spannungsgeladenen Date fragte ich mit einem frechen, Grinsen: „Wie würdest du reagieren wenn ich dir sagen würde, dass ich HIV-positiv bin?“.

Sie blickte neugierig. Überlegte kurz. Lächelte.

„Du verdammter Bastard. Du weißt genau, dass du gerade viel interessanter geworden bist.“ Womit eine kurze, intensive und wunderschöne Beziehung anfing.

Ich bin HIV-positiv. Na und?

Ich habe Familie und Freund_innen, die mich nie be- oder verurteilt haben. Von denen ich, in aller Demut und Dankbarkeit, nichts als Empathie und Liebe erfahren habe.

Ich habe Geliebte, die kein Problem mit meinem Status haben, und eine hervorragende Therapeutin.

Ich schreibe und organisiere Ausstellungen zu HIV und Sexualität.

Trotz der Abhängigkeit von Medikamenten bereise ich die Welt.

Ich entscheide, welchen Platz HIV in meinem Leben einnehmen soll

Ich habe ein ziemlich geiles Leben. Ich will aufklären. Ich will mit HIV arbeiten, über HIV berichten. Ich will erzählen und motivieren.

Schließlich kann ich entscheiden, welchen Platz HIV in meinem Leben einnehmen soll – und nicht umgekehrt. Und ich durfte schon einigen Menschen damit helfen.

Ich scheue nicht mehr davor zurück, mein Gesicht zu zeigen. Ich will mich vom erdrückenden Gewicht des Versteckens befreien und endlich auf den Tisch schlagen.

Nur so besitze ich die Glaubwürdigkeit, über HIV aufzuklären.

Nur mit meinem Gesicht kann ich einem alten Thema, dem niemand mehr zuhört, neues Gehör verschaffen.

Lieber selbstverliebt aufklären als selbstverhasst schweigen

Wenn ich souverän mit meinem HIV-Status umgehen kann, können mir Angstkommentare nichts anhaben.

Sofern Menschen weiterhin versteckt bleiben, ihre Stimme nicht erheben, um sich gegen haltlose Anschuldigungen zu wehren, werden genau dieselben Ängste, Theorien und Vorurteile bestehen bleiben.

HIV ist weiterhin tödlich, weshalb es essenziell ist seinen Status zu kennen. Zum Selbstschutz und zum Schutz der anderen.

HIV betrifft Heterosexuelle. HIV betrifft Homosexuelle. HIV betrifft Frauen und Männer, Trans* und Inter*. HIV differenziert nicht.

Lieber selbstverliebt aufklären als selbstverhasst schweigen.

In meinem Leben als Fotograf heiße ich Christopher Philipp Klettermayer. In meinem Leben als Autor und Künstler heiße ich Philipp Spiegel. Ein Pseudonym, das ausschließlich für meine HIV-bezogenen Arbeiten steht und als persönliche Abgrenzung dient.

Website von Philipp Spiegel: https://philipp-spiegel.com/

Weitere Beiträge von Philipp Spiegel:

Dating mit HIV

Gestern war …

Die letzten zwölf Tage meines bisherigen Lebens

E-Mails, die niemand bekommen möchte

Nebenwirkungen des Lebens

 

Zurück

„Die Perspektiven von Schwarzen Menschen und People of Color sichtbar machen”

Weiter

Eine Beziehung auf dem Prüfstand

Über

Philipp Spiegel

Philipp Spiegel ist das Pseudonym von Christopher Klettermayer. 2014 bekam er seine HIV-Diagnose. Als Fotograf, Autor und Künstler beschäftigt er sich unter anderem mit Themen rund um HIV.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

+ 88 = 98

Das könnte dich auch interessieren