„So groß die Hoffnung war, so schnell ist sie wieder verflogen“
Als vor 30 Jahren AZT in den USA zur HIV-Behandlung auf den Markt kam, sorgte das damals noch existierende Bundesgesundheitsamt dafür, dass das Medikament unter dem Namen Retrovir auch in Deutschland schnell verfügbar wurde. Was hatte das bei dir, Ulli, deinen Freund_innen und innerhalb der HIV-Community ausgelöst?
Vor AZT gab es ja jahrelang nichts. Zumindest nichts, was wirklich gegen HIV wirkte, was unser Leben verlängern konnte. Wer damals die Diagnose HIV-positiv bekam – und oft war das erst der Fall, wenn auch schon Aids-Symptome vorhanden waren –, der wusste sicher: Du hast nicht mehr lange, und es gibt nichts, was man tun kann. Wir haben also auf dieses erste Medikament lange gewartet, und als es verfügbar war, wirklich große Hoffnungen damit verbunden.
Diese Hoffnungen aber haben sich in diesem Maße nicht erfüllt.
Richtig, AZT wirkte zwar, aber meist nur für wenige Wochen oder Monate. Man darf heute in Zeiten hochwirksamer Kombi-Therapien nicht vergessen: Es gab damals erst mal nur AZT. Das neue Medikament wurde also alleine, als Mono-Therapie eingesetzt. Entsprechend schnell kam es meist zu Resistenzen. So hielt die Wirkung nicht lange an. AZT führte meistens „nur“ zu einer Lebensverlängerung von wenigen Wochen oder Monaten.
„Man hatte das Gefühl: Der stirbt nicht an Aids, der stirbt vorher an AZT“
Hinzu kamen die bisweilen unerträglichen Nebenwirkungen, weil das Medikament zunächst zu hoch dosiert wurde.
Es waren nicht allein die Nebenwirkungen, die Probleme bereiteten. AZT war lange nicht so bequem einzunehmen wie heutige Medikamente. Die Tabletten mussten strikt alle vier Stunden genau nach Plan genommen werden. Ältere Positive werden sich sicherlich noch an die Pillenwecker erinnern, die es vom Hersteller damals „großzügig“ dazu gab: eine kleine weiße Kunststoff-Schachtel, die alle vier Stunden piepste – auch nachts. Aber du hast recht, viel schlimmer waren natürlich die Nebenwirkungen.
Wie haben die sich gezeigt?
Viele, die damals AZT nahmen, kotzten sich die Seele aus dem Leib. Sie hatten Schüttelfrost und gleichzeitig hohes Fieber. Schlimm war zudem diese unendlich große Müdigkeit und Kraftlosigkeit. Man hatte überhaupt keine Energie mehr. Das führte bei vielen zu dem Eindruck, dass es ihnen oder ihren Freunden, bei denen sie das erlebten, mit AZT noch schlechter ging als vorher ohne Medikament. Ich habe das damals selbst im Freundeskreis erlebt. Man hatte manches Mal das Gefühl: Der stirbt jetzt nicht an Aids, der stirbt schon vorher an AZT.
Die Patient_innen standen vor der Entscheidung: die Nebenwirkungen ertragen – und so vielleicht ihr Leben verlängern. Oder das Medikament wieder absetzen – und damit möglicherweise die einzige medizinische Chance ausschlagen. Wie sind die Leute mit diesem Dilemma umgegangen?
Die Gerüchte über massive Nebenwirkungen verbreiteten sich unter den HIV-Positiven sehr rasch. So groß die Hoffnung war, so schnell ist sie wieder verflogen. Viele wollten diese Pillen deshalb auch nicht mehr nehmen. Wenn man erlebt hatte, wie schlecht es vielen mit AZT damals ging, konnte man diese Haltung gut verstehen. Ich selbst habe mich damals zunächst ebenfalls dagegen entschieden, AZT zu nehmen.
Die Entscheidung war oft nicht leicht. Wie sollten wir abwägen zwischen dem Fünkchen Hoffnung, einige Wochen länger zu leben, und der Aussicht auf diese Qualen? War es das wert? Wie viel wert ist es, eventuell ein wenig länger zu leben, wenn das heißt, dass du nur noch mehr kotzt, fieberst, leidest?
Viele Freunde und Partner verstanden dieses Ringen, die mögliche Entscheidung gegen „die erste große Hoffnung“ nicht. Wie kann man so eine Chance ausschlagen? Und besonders bei Ärzten, selbst sehr Community-nahen Ärzten, hab ich viel Unverständnis und manchmal Verzweiflung erlebt, wenn Positive sagten „nein, das nehme ich nicht“.
„Die Hersteller müssen sich dumm und dusselig verdient haben“
AZT/Retrovir galt seinerzeit als das teuerste verschreibungspflichtige Medikament. In den USA wurden die Kosten dafür von den Versicherungen meist nicht übernommen, die Behandlung war daher für viele kaum zu finanzieren.
Als AZT auf den Markt kam, verlangte der Hersteller dafür etwa 10.000 US-Dollar – pro Patient und Jahr. Die Hersteller müssen sich damals dumm und dusselig verdient haben. Denn erforscht worden war AZT ja zunächst größtenteils von staatlichen Stellen in den USA wie dem National Institute of Health und der Duke University in Durham. Den Profit aber sackten andere ein …
In Deutschland, wo zugelassene Medikamente von der Krankenversicherung bezahlt werden, stellte dieser als monströs empfundene Preis für den einzelnen Patienten, anders als für die Krankenkassen, kein so großes Problem dar – wohl aber zum Beispiel in den USA, wo viele Positive nicht oder schlecht krankenversichert waren. Konkret hieß das: Es gab etwas, das wirken konnte, das Hoffnung gab – aber es war so teuer, dass man es sich nicht leisten konnte.
Die Ohnmacht, Todesangst und Wut der von HIV und Aids betroffenen Menschen hat auch viel Energie und Widerstand ausgelöst. Wie wurde auf die Preispolitik des AZT-Herstellers Burroughs Wellcome reagiert?
In den USA gab es bereits Ende der Achtziger erste Proteste von Aids-Aktivisten. Am 14. September 1989 zum Beispiel drangen ACT UP-Mitglieder in die New Yorker Börse ein, störten den Börsenverkehr und protestierten, unter anderem mit Transparenten wie „Sell Wellcome“ (auf Deutsch: Verkauft Wellcome; Anm. d. Red.) und durch Anketten an den VIP-Balkon, gegen die Preispolitik des Pharmakonzerns. Die Proteste führten schließlich immerhin zu einer Senkung des AZT-Preises in den USA um 20 Prozent.
In Deutschland und Europa griff ACT UP das Thema ebenfalls auf. Auf dem 3. Deutschen Aids-Kongress 1990 in Hamburg zum Beispiel – dem ersten, auf dem wir als Positive, damals noch uneingeladen, präsent waren – protestierten wir mit einer „Geldsack“- Aktion gegen den hohen AZT-Preis. Wir waren ungeheuer wütend, dass andere sich auch noch an unserem Leiden und Sterben bereicherten.
„AZT war eine Chance – es barg Hoffnung auf Hilfe und das Risiko des Scheiterns“
Und man darf nicht vergessen: Genau zu der Zeit, als mit AZT erstmals ein Medikament verfügbar wurde und es trotz aller Probleme Grund zu vorsichtiger Hoffnung gab, schwadronierten Politiker und „Berater“ darüber, dass eine lebensverlängernde Therapie, bei der die Betroffenen nicht mehr – schnell – sterben, „das Aids-Problem der Bevölkerung vergrößern“ würde. Was uns retten kann, wird also als eine Gefahr für die Bevölkerung bezeichnet?! Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich mich an diese Formulierungen erinnere. Damals vergrößerten solche Äußerungen unsere Wut nur noch.
Erst 1994 mit Veröffentlichung der Concorde-Studie war belegt, dass man AZT viel zu hoch dosiert hatte – mit zum Teil tödlichen Folgen für die Patient_innen. Wie betrachtest du heute die Entscheidung, AZT auch ohne Langzeitstudie freizugeben?
Aids bedeutete damals den sicheren und meist baldigen Tod. Ich halte die für viele der im Bundesgesundheitsamt Zuständigen sicher mutige Entscheidung auch heute noch für richtig. Viele von uns gingen eh davon aus, dass sie bald sterben müssten. In dieser Situation ist jeder Strohhalm, der mit gewisser Berechtigung Hoffnung bietet, meines Erachtens den Versuch wert, solange jeder und jede Einzelne frei entscheiden kann. AZT war eine Chance – es barg Hoffnung auf Hilfe und das Risiko des Scheiterns. Ich habe diese Position auch später vertreten, zum Beispiel, als es bei dem HIV-Medikament ddI (Didesoxyinosin, Anm. d. Red.) später eine ähnliche Situation gab.
Dass das Medikament noch vor einer abschließenden Prüfung verordnet werden konnte, war damals eine außergewöhnliche Entscheidung.
Die Forderung, Substanzen schneller verfügbar zu machen, hat ACT UP damals in Europa wie in den USA vertreten und dazu Werkzeuge wie „expanded access“, „accelerated approval“ und „parallel track“ mitgestaltet. Auch die Community-Beteiligung in der klinischen Aidsforschung und bei Aids-Kongressen ist aus diesen Erfahrungen heraus entstanden. Heute, in Zeiten breit verfügbarer, gut verträglicher und vor allem hoch wirksamer Medikamente gegen HIV stellt sich die Frage nach frühzeitiger Verfügbarkeit neuer Substanzen eigentlich nicht mehr. Bei anderen Erkrankungen, für die es bislang keine oder nur wenige Medikamente gibt, dürfte sich die Situation ähnlich darstellen wie damals bei AZT.
Anmerkung der Redaktion:
Auch nach 30 Jahren wird AZT/Retrovir noch in der HIV-Therapie eingesetzt – in Industrieländern allerdings nur noch zurückhaltend. Heute wird es wesentlich schwächer dosiert und, um eine Resistenzentwicklung zu verhindern, mit anderen Präparaten kombiniert.
Ulli Würdemann hat auf www.ondamaris.de bis 2012 in über 2.300 Beiträgen die gesellschaftspolitischen wie medizinischen Entwicklungen rund um HIV/Aids begleitet. Mit seinem Mann Frank bloggt er mittlerweile auf 2mecs.de.
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