KALENDERBLATT

„Solange man noch stehen kann, solange kann man auch tanzen“

Von Axel Schock
Er war der erste Popstar des klassischen Balletts: Vor 20 Jahren, am 6. Januar 1993, starb der Tänzer und Choreograf Rudolf Nurejew an den Folgen von Aids. Ein Kalenderblatt von Axel Schock

Portrait Rudolf Nureyev
Rudolf Nurejew, 17. März 1938–6. Januar 1993 (Foto: Allan Warren)

Das klassische Ballett ist nicht jedermanns Sache, vielen erscheint diese Welt mit ihren Pirouetten und Pliés als verstaubt und anachronistisch. Das war bereits in den 1960er Jahren nicht anders. Damals allerdings schaffte es ein einzelner Tänzer, selbst jene Massen zu begeistern, die bis dahin kaum ein Theater von innen gesehen hatten.

Eine männliche Ikone des Balletts

Als erster und einziger klassischer Tänzer nach Vaslav Nijinsky wurde Rudolf Nurejew zu einer Ikone, die Männer wie Frauen gleichermaßen zu hysterischen Bewunderern machte. Bei einem Gastspiel in London kreischten Teenager „We want Rudi in the nude!“ (Wir wollen Rudi nackt sehen) von den Rängen.

Als er im Pariser Théâtre des Champs-Élysées den Prinzen in „Dornröschen“ tanzte, flogen ihm allabendlich Hotelzimmerschlüssel, getragene Slips und Wagenladungen Blumen zu. Sogar ein Nerzmantel wurde ihm auf die Bühne geworfen. Seine Fans wussten, womit man ihrem Idol eine Freude machen konnte.

Tanzgott mit Sex-Appeal

Abgesehen vom klassischen Repertoire hatte Nurejew in der Tat mit verstaubter Ballettkunst nichts gemein. Der neue Tanzgott begeisterte auf dem Parkett nicht nur durch übermenschliche Sprünge, sondern auch durch sein ungezügelt eingesetztes Sex-Appeal. Und ganz nebenbei sorgte er im Alleingang für einen Paradigmenwechsel auf der Ballettbühne:

Bis dato waren Tänzer vor allem als „Hebebühnen“ und „drittes Bein“ der Primaballerinen beschäftigt. Nurejew entdeckte durch seine psychologisierenden Interpretationen und seine herausgehobenen technischen Möglichkeiten nicht nur das russische Repertoire von „Schwanensee“ bis „La Bayadère“ neu, sondern emanzipierte zugleich auch den männlichen Balletttänzer.

Die Tartaren-Diva

Was die Divenhaftigkeit angeht, übertraf Nurejew so manch eine seiner Kolleginnen. Er galt als maßlos egoistisch und von Gier nach Luxus und Erfolg getrieben. Er war jähzornig, arbeitswütig, unberechenbar wie auch rast- und heimatlos.

Dass er am 17. März 1938 in einem Zug der Transsibirischen Eisenbahn geboren wurde, auf der Fahrt durch Sibirien nach Wladiwostok, wo sein Vater als Soldat der Roten Armee stationiert war, schien wie ein Omen für seine lebenslange Unruhe.

Nureyev im Probensaal
Nurejew im Probensaal mit seiner typischen Wollmütze auf dem Kopf (Foto: A. Warren)

Zuletzt verfügte Nurejew, das Kind ärmlicher tatarischer Eltern mit österreichischem Pass, über sieben Wohnsitze, darunter ein Domizil auf einer Insel bei Capri, ein Schloss bei Monte Carlo sowie Apartments in New York, London und Paris.

Sein Wohlstand war hart erarbeitet. In seinen besten Zeiten absolvierte er bis zu 250 Vorstellungen im Jahr. „Kunst braucht Anstrengung“, sagte Nurejew und perfektionierte seinen Körper fast täglich bis zu dreizehn Stunden im Probensaal. Die Zeit für Schlaf war knapp bemessen, für ausschweifende Orgien und exzessive Partys hingegen weniger. „Ferien mache ich nachts“, beliebte er zu scherzen.

Sexsucht und körperliche Selbstausbeutung

Sex war ihm wichtig. Sein Tatarenblut fließe nun mal schneller, „es ist immer kurz davor zu kochen“, erklärte er seine Sexsucht. Sex sei wie eine gute Mahlzeit, die ihn nach anstrengenden Probentagen wieder aufbaue. Mit Frauen sei die Sache anstrengend. „Das befriedigt mich nicht besonders.“ Mit Männern hingegen, fasste Nurejew seine Erfahrungen zusammen, sei es ein „großes Vergnügen“.

Emotionale Stütze in seinem die Grenzen der körperlichen Selbstausbeutung immer wieder überschreitenden Leben war über zwei Jahrzehnte der dänischstämmige Tänzer und Choreograf Erik Bruhn. Nurejew hatte den Premier Danseur 1961 gleich nach seiner Flucht in den Westen kennengelernt.

Bei einem Gastspiel des Leningrader Kirow-Balletts war Nurejew unmittelbar vor der Abreise auf dem Flughafen Le Bourget über eine Barriere gesprungen und hatte um politisches Asyl gebeten. Bruhn half dem damals 27-jährigen Tänzer, sich in der westlichen Ballett-Szene zurechtzufinden und seinen Stil zu verfeinern und bot ihm darüber hinaus in den Jahren des steilen Aufstiegs zum Tanzstar fachlichen Rat und emotionale Stabilität.

Seine Aids-Erkrankung verleugnete er

1986 starb der zehn Jahre ältere Bruhn an Lungenkrebs. Nurejew, bei dem zu diesem Zeitpunkt bereits Aids diagnostiziert worden war, blieb nun auf sich allein gestellt. Seine Erkrankung ignorierte und verleugnete er, soweit dies möglich war. Bruhn hätte ihm sicherlich zu einem eleganten Rückzug geraten.

Nurejew aber hielt sich an das Lebensmotto, das er von seiner langjährigen Tanzpartnerin Margot Fonteyn übernommen hatte: „Solange man noch stehen kann, solange kann man auch tanzen.“ Also verausgabte er sich weiter, die künstlerischen Leistungen freilich ließen deutlich nach. Ihn, den man in London mit legendären 40 Minuten Standing Ovations und in Wien mit 89 Vorhängen gefeiert hatte, wagte das Publikum nun auszubuhen. Aus dem Gott des Tanzes war ein gefallener Engel geworden.

In seiner letzten Lebens- und Arbeitsphase als Chef-Choreograf der Pariser Oper konnte sich Nurejew kaum mehr auf den Beinen halten. Er starb  54-jährig am 6. Januar 1993 im American Hospital in Paris, in eben jener Klinik, in der acht Jahre zuvor Rock Hudson seiner Aids-Erkrankung erlegen war.

Grab von Nurejew
Nurejews Grab auf dem russischen Friedhof in Sainte-Geneviève-des-Bois (Foto: V. Muratov)

Seinem letzten Willen entsprechend wurde Nurejew öffentlich aufgebahrt und auf dem russischen Friedhof in Sainte-Geneviève-des-Bois bei Paris beigesetzt. Sein Grabmal, geschaffen vom italienischen Bühnenbildner Ezio Frigerio, ist dort eines der imposantesten und sicherlich das außergewöhnlichste: Ein hyperrealistischer, farbenprächtiger orientalischer Teppich aus Mosaiksteinchen scheint mit seinem eleganten Faltenwurf wie auf den Sarkophag hinabgeschwebt zu sein.

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