MEDIENKRITIK

Sorglosigkeit und die Rettung der Lüste

Von Ulrich Würdemann
Formulierungen wie „die Sorglosigkeit nimmt zu“ wird man in den Wochen rund um den Welt-Aids-Tag und neue HIV-Infektionszahlen wieder gehäuft begegnen. Ulrich Würdemann geht der Frage nach, warum vor der „Sorglosigkeit“ gewarnt wird.

Die „neue Sorglosigkeit“ als Bedrohung

Die als Vorwurf oder Bedrohung behauptete „neue Sorglosigkeit“ verfolgt insbesondere (aber nicht nur) Schwule schon seit langem in der Aidskrise. Nur einige Beispiele aus den vergangenen 15 Jahren:

Ende der 1990er-Jahre. Kaum hatten wirksame Kombitherapien endlich für neue Hoffnung unter Aidskranken, Positiven und Schwulen gesorgt, vermeldeten Medien wie beispielsweise der Tagesspiegel, eine „neue Sorglosigkeit“ habe sich breitgemacht. Eine Formulierung, die in den kommenden Jahren eine eigenartige „Karriere“ machen sollte.

So konstatiert 2001 etwa die Pharmazeutische Zeitung, das RKI zitierend, gerade bei jungen Menschen wirke womöglich der „Aids-Schock“ (welch demaskierendes Wort in diesem Kontext!) nicht mehr, weswegen es das Phänomen der „neuen Sorglosigkeit“ gebe. Und die ZEIT polemisiert, Schwule seien wieder „ahnungslos und risikobereit“. Auch das Handelsblatt und die Bundesgesundheitsministerin sorgen sich angesichts der „neuen Sorglosigkeit“. Speziell die jungen Schwulen sind dabei im Fokus, so zum Beispiel 2004 in der Rheinischen Post oder 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

„Selbst die Bundeswehr macht sich Sorgen“

Steigen die HIV-Neudiagnose-Zahlen einmal – auf einem im internationalen Vergleich sehr niedrigen Niveau – etwas an, ist als Schuldiger schnell die „neue Sorglosigkeit“ identifiziert, wie etwa 2005 in der Ärztezeitung oder 2006 in der Welt. Das sei alles „besorgniserregend“, warnen schon 2003 führende HIV-Ärzte. Und drei Jahre später ist die Lage bereits so dramatisch, dass selbst die Bundeswehr sich über die „neue Sorglosigkeit“ Sorgen macht.

Als dann mit dem Anfang 2008 veröffentlichten EKAF-Statement langsam der Gedanke in die Öffentlichkeit drang, erfolgreich behandelte Positive könnten vielleicht sexuell gar nicht mehr infektiös sein, kommt als Reaktion (auch in Aidshilfen), es bestehe doch die Gefahr, dass diese Erkenntnis „missbraucht“ werde (wieder so eine demaskierende Wortwahl). So etwas dürfe man doch nicht laut sagen, weil es zu mehr Sorglosigkeit führe…

Erinnern wir uns schließlich an die Justiz- und Medienaffäre um das unfreiwillige Outing der Sängerin Nadja Benaissa im Jahr 2009. Zahllose Blätter wie etwa das Hamburger Abendblatt schrieben über die „neue Sorglosigkeit“, die nicht nur in der Homosexuellenszene anzutreffen sei. Warum? Na klar, weil „Aids seinen Schrecken verloren hat“. Hören wir da etwa einen Unterton des Bedauerns?

Unter anderem für den Tagesspiegel besteht 2012 „kein Grund für neue Sorglosigkeit“. 2013 schließlich ist die „neue Sorglosigkeit“ derart schlimm, dass sie in der Welt als Grund für eine Operngala herhalten darf. Derweil müsste sie bestimmt schon bald ihren 20. Geburtstag feiern und dürfte so neu gar nicht mehr sein…

Die neue Sorglosigkeit als Konstrukt eines Generalverdachts

Wann immer also eine gewisse Entspannung möglich wird und das Bedrohungsszenario rund um Aids abgebaut werden kann, genau dann kommt als Reaktion (nicht nur der Medien) die Mär von der „neuen Sorglosigkeit“, vor der selbstverständlich gewarnt und die, möglichst mit allen Mitteln, bekämpft werden müsse. Gerade so, als wäre Sorglosigkeit das Schlimmste, was der Gesellschaft passieren könnte. Positive, Schwule oder junge Leute werden dabei unter Generalverdacht gestellt.

„Als wäre Sorglosigkeit das Schlimmste, was der Gesellschaft passieren könnte“

Abgesehen davon, dass die vorgeworfene „neue Sorglosigkeit“, soweit mir bekannt, nie mit Fakten begründet werden konnte, sondern sich vielmehr als „Virus-Mythos“ erweist: was ist eigentlich so schlimm an der Sorglosigkeit?

Ich will jetzt gar nicht mit Foucaults Dispositiven der Macht kommen und damit, welche Bedeutung die Kontrolle der Sexualität für gesellschaftliche Kontrolle und Machtausübung hat (wer das nachlesen mag, dem sei unter anderem Foucaults Werk „Sexualität und Wahrheit” oder mein Beitrag auf ondamaris.de aus dem Jahr 2011 empfohlen). Ein Blick in die Geschichte reicht auch…

Exkurs: Sanssouci oder Friedrichs Sorglosigkeit.

Friedrich II. verfügte mit Kabinettsorder vom 13. Januar 1745, dass ihm zu Potsdam „ein neues Lust-Haus” gebaut werde. Schon kurz darauf folgte die Grundsteinlegung. Friedrich II. wählte den Namen seines Schlosses mit Bedacht; er ist im Mittelbau über dem mittleren Rundbogen-Fenster in goldenen Buchstaben genannt: Sans Souci, „ohne Sorge“. Nicht ohne Grund wurde gerade dieses Schloss Friedrichs „maison de plaisance“ (= Lustschloss, intimer Rückzugsort abseits von Zeremoniell und Staatspflichten), sein Sommersitz und Lieblingsort. Er selbst formulierte es so: „Quand je serai là, je serai sans souci“ („Wenn ich dort bin, werde ich ohne Sorgen sein“).

Sorglosigkeit – Bedrohungsszenario oder erstrebenswertes Ziel?

Ein Leben ohne Sorge oder auch nur sorglose Momente: ist das nicht genau der Zustand, den wir erreichen wollen? Lassen wir uns den Begriff der „Sorglosigkeit“ nicht nehmen, lassen wir ihn nicht zu etwas Negativem, Bedrohlichem umdeuten!

Was gibt es Schöneres als Sex, bei dem ich mich unbeschwert, völlig sorglos und selbstvergessen fallenlassen kann? Ist es nicht geradezu unser Ziel, dass wir Schwulen, dass jede und jeder – zumindest im Kontext HIV/Aids – sich beim Sex möglichst keine Sorgen (mehr) machen muss? Ist diese Sorglosigkeit nicht eigentlich unser Ziel? Sie zu ermöglichen, ist das nicht geradezu Sinn und Zweck von Aidshilfe?

Dies wäre, nebenbei bemerkt, vielleicht auch eine Chance, ein kleines Stück der Verwüstungen, die Aids in den vergangenen 30 Jahren angerichtet hat, zu „heilen“.

„Streiten wir für das Recht auf mehr Sorglosigkeit!“

„Hans Peter Hauschild verband messerscharfe Analyse mit uneingeschränkter Solidarität für die Schwächsten und mit einer charismatischen Begeisterungsfähigkeit für die Rettung der Lüste.“ Mit diesen Worten begründete Carsten Schatz, bis Oktober 2014 im DAH-Vorstand, warum die Deutsche AIDS-Hilfe Hans Peter Hauschild zum Namenspatron ihres Preises gewählt hat. Liegt damit die von ihm formulierte „Rettung der Lüste“ nicht geradezu in dem – heute wieder möglich erscheinenden – Wiedererlangen der Möglichkeit von Sorglosigkeit?

Stellen wir uns dem infamen Vorwurf der „neuen Sorglosigkeit“ entgegen, wo immer er uns begegnet! Und streiten wir für das Recht auf und die Möglichkeit von mehr Sorglosigkeit!

 

Wir danken Ulli Würdemann für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung seines Beitrags (Erstveröffentlichung am 3. November 2014).

 

1 Kommentare

fink 8. Dezember 2014 13:04

Eine augenöffnende Analyse. Danke dafür.

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