Spuren der Gewalt
Wer wenig Grund zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat, ist umso anfälliger für Versprechungen. Der kaum 20 Jahre alten Mascha* bietet sich mit der Aussicht auf einen gut bezahlten Job in Deutschland die Chance, aus der russischen Provinz hinauszukommen. Ein wahrer Glücksfall, wie es scheint. Doch nichts davon bewahrheitet sich. Kurze Zeit später findet sich Mascha in Bayern wieder, gewaltsamen Zuhältern ausgeliefert und zur Prostitution gezwungen.
Mehrere Monate dauert ihr Martyrium, dann kann sie fliehen. Sie fasst Mut und offenbart sich den Behörden. Maschas Aussage trägt schließlich dazu bei, dass ein Menschenhändlerring gesprengt werden kann. Bis zum Prozess bleibt Mascha unter Polizeischutz. Mit der Entlassung aus dem Zeugenstand ist für sie dann allerdings auch die Schonzeit vorbei: Weil Mascha illegal eingereist war, wird sie des Landes verwiesen.
Nach allem, was ihr in den Monaten zuvor widerfahren ist, gibt es für Mascha aber kein Zurück. Sie entschließt sich abzutauchen und lebt fortan als „Illegale“, ganz auf sich allein gestellt. Doch Mascha ist tough. Sie lernt die deutsche Sprache und verdient ihren Lebensunterhalt in der Gastronomie.
Mutiger Schritt hinaus aus der Ilegalität
Und mit einem Male gibt es wieder einen Hoffnungsschimmer und die Aussicht auf ein bisschen Glück: Sie hat einen Mann kennengelernt, schmiedet Heiratspläne und entschließt sich zum Schritt aus der Illegalität. Mascha stellt einen Asylantrag. In Bayern ist dafür seit Einführung des Aids-Maßnahmenkataloges von 1987 auch ein HIV-Zwangstest obligatorisch. Bei Mascha werden sowohl eine Hepatitis-C- als auch eine HIV-Infektion diagnostiziert.
Mit einem Male ist alles wieder da. All die schrecklichen Erlebnisse während ihrer Zeit als Zwangsprostituierte. Die Angst, die Erniedrigungen, die Vergewaltigungen. Alles, was sie bislang so erfolgreich verdrängen konnte, bricht durch diesen Befund wieder hervor.
Als eine klassische „Retraumatisierung“ bezeichnet der Sozialpädagoge Wladislaus Rzepka von der Aids-Beratung in der Stadtmission Nürnberg, was Mascha damals widerfahren ist. Für die junge Frau, die bereits durch den ungeklärten Asylstatus unter schwerer psychischer Belastung stand, war die Nachricht von der Doppelinfektion ein kaum zu verarbeitender Schock.
Dass dies eine direkte Folge ihrer traumatischen Erlebnisse als Gefangene der Menschenhändler war, entzog ihr schließlich völlig den Boden unter den Füßen. Zweimal nur habe Mascha die Beratungsstelle aufgesucht, erzählt Rzepka, danach sei sie nicht wiedergekommen und auch nicht mehr auffindbar gewesen. Mascha war wieder abgetaucht.
Schicksale wie das von Mascha sind kein Einzelfall. Wladislaus Rzepka betreut viele HIV-positive Klienten in ähnlichen Situationen. Rund 150 Menschen aus über 40 Nationen kommen übers Jahr in seine Beratung. Jedes Jahr erweitert sich seine Klientendatei um 20 bis 30 Menschen mit neu diagnostizierter HIV-Infektion.
Klienten aus über 40 Nationen
Es sind Menschen aus Russland und Paraguay, aus Uganda, Äthiopien oder auch Nigeria. Manche haben bereits einen kaum vorstellbar langen Fluchtweg hinter sich: ein bis zwei Jahre auf dem Landweg von Vietnam und Irak bis nach Deutschland. Andere sind vor einem Krieg in ihrer Heimat geflohen.
Nicht selten haben sie ihre Kinder und andere Familienangehörige zurücklassen müssen und leiden unter Schuldgefühlen, weil sie sie in ihren Augen im Stich gelassen haben. In die Heimat zurückzukehren hieße für die Betroffenen, ihre HIV-Behandlung abbrechen zu müssen, die sie in Deutschland in Anspruch nehmen können.
Das Leben dieser Menschen, so berichtet Rzepka aus seiner langjährigen Erfahrung, ist von massiven Ängsten und quälenden Fragen bestimmt: Wann bricht die Krankheit aus? Wann muss ich sterben? Habe ich jemanden angesteckt? Werde ich abgeschoben? Werde ich jemals wieder Sexualität angstfrei erleben können oder meine Familie sehen können?
Die Betreuung dieser Klienten gestaltet sich häufig komplex, mühsam und entsprechend zeitaufwendig. Manche stammen aus abgelegenen ländlichen Gebieten, sind Analphabeten, haben bisweilen noch nie etwas von Aids gehört und sind mit vielem, was für uns im Alltag selbstverständlich erscheint, völlig unvertraut.
Zu den sprachlichen Problemen, denen man mit Kulturvermittlern und Dolmetschern beizukommen versucht, kommt gerade bei afrikanischen oder auch vietnamesischen Klienten die Angst, beim Betreten oder Verlassen der Beratungsstelle zufällig von anderen Menschen aus ihrer Community gesehen zu werden. Selbst das Gerücht einer HIV-Infektion kann schon dazu führen, ausgegrenzt zu werden und damit die wichtige Bindung zu den eigenen Landsleuten zu verlieren.
Dennoch können die Berater immer wieder kleine Erfolge feiern. Wenn es ihnen trotz all dieser Hindernisse gelingt, dass die Klienten zur Beratung kommen und sich über ihre Krankheit aufklären lassen, oder wenn sie ihnen zu einer guten ärztlichen Betreuung verhelfen und sie bei ihrem Asylersuchen unterstützen können. Und manchmal gelingt es sogar, das Schweigen aufzubrechen und, über Jahre hinweg, kleine Netzwerke von HIV-Positiven innerhalb der migrantischen Commnitys aufzubauen.
Doch dann gibt es immer wieder auch Momente, in denen die Sozialarbeiter in der Aidsberatung schlicht überfordert sind. Zum Beispiel, wenn bei einem Beratungsgespräch Traumatisierungen aufbrechen und eine Klientin sich plötzlich weinend und schreiend auf dem Boden wälzt. Später wird sich herausstellen, dass sie ein halbes Jahr lang als Sklavin in einem Keller festgehalten worden war.
Manche Dinge spricht man besser nicht an
Wladislaus Rzepka und seine Kollegen stecken in einem Dilemma. „Wir sind keine Trauma-Beratungsstelle, andererseits können wir diesen Dingen nicht aus dem Weg gehen. Bestimmte Dinge versuche ich in meinen Beratungsgesprächen möglichst nicht anzuschneiden, weil ich weiß, dass ich damit etwas auslösen könnte, was ich im Zweifelsfalle nicht mehr auffangen kann.“
Eine Untersuchung des Klinikums Nürnberg-Nord unter den Bewohnern der Zentralen Aufnahme-Stelle Zirndorf hatte ergeben, dass rund 75 Prozent der dort untergebrachten Asylbewerber traumatisiert sind. „Es gibt jedoch keinerlei Kapazitäten, um diesen Bedarf an therapeutischer und psychologischer Betreuung aufzufangen“, stellt Rzepka resigniert fest.
Einrichtungen wie das Psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge in Nürnberg sind rar und die Wartelisten lang. Mit einem Dreivierteljahr Wartezeit muss derzeit gerechnet werden. In anderen Städten sieht die Situation nicht wesentlich besser aus.
Doch nicht nur an fachspezifischen Einrichtungen mangelt es, sondern auch an niedergelassenen Psychologen und Therapeuten, die sich speziell um Flüchtlinge und Asylbewerber kümmern. Die Gründe dafür sind vielfältig, wie die Münchner Psychologin Michaela Müller erklärt.
Viele ihre Kollegen trauten sich diese Arbeit aufgrund mangelnder Erfahrung nicht zu, weil die kulturellen Unterschiede und Sprachprobleme die Therapiegespräche sehr schwierig machen. Oft seien solche Sitzungen nur mit Dolmetschern durchzuführen.
Erschwerend komme hinzu, dass häufig erst einmal sehr langwierig eine gemeinsame Arbeitsbasis zwischen Therapeut und Klient geschaffen werden müsse. „In vielen Kulturen gibt es weder Psychotherapie noch Sozialarbeit. Dementsprechend kennen diese Menschen auch unsere Funktionen und Berufsstände nicht“, erklärt Michaela Müller. Sie müssen erst lernen, dass sie jemandem gegenübersitzen, mit dem sie über alles sprechen dürfen, aber auch, dass es gut tun kann, über belastende Dinge zu reden.
Professionelle Freundin
Für viele Migranten, gerade aus afrikanischen Ländern, ist die Rolle des Psychologen zunächst nicht einzuordnen. Da gibt es also jemanden, der ihnen helfen will, so wie ein Verwandter es tun würde; er macht dies aber professionell. „Ich bin nicht deine Freundin, aber du magst mich“, versuchte eine von Michaela Müllers Klientinnen das Beziehungsverhältnis für sich zu fassen.
Nicht allen gelingt es, das Prinzip des therapeutischen oder sozialpädagogischen Gesprächs zu verstehen. Umso schwerer ist es für sie, das notwendige Vertrauen zu fassen und sich zu öffnen. Im therapeutischen Gespräch aber haben sie die Möglichkeit, endlich über all die schrecklichen Erlebnisse zu reden, die sie selbst gegenüber ihrer Familie und ihren Freunden nicht auszusprechen wagen: etwa über Zwangsbeschneidung und Zwangsprostitution. Gewaltverbrechen, Vergewaltigung und Vertreibung. Über Kriegsverbrechen und blutige Kämpfe. Und dann ist da auch noch die Krankheit, die wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebt, sie stigmatisiert, ängstigt und ausgrenzt.
Besonders kompliziert und schwierig erweist sich die therapeutische Arbeit, wenn der Aufenthaltsstatus der Flüchtlinge noch nicht gesichert ist. „Denn wie“, fragt Michaela Müller, „will man als Therapeutin daran arbeiten, dass sich jemand sicherer fühlt, wenn doch die äußeren Umstände völlig unsicher sind und eine reale Bedrohung darstellen?“
Schwierige Phase Ayslanerkennung
Ungeklärt ist in dieser Phase der Asylanerkennung auch die Finanzierung der psychotherapeutischen Maßnahmen. Asylsuchende haben lediglich einen Anspruch auf medizinische Versorgung. Solange Migranten aber noch keine Arbeitserlaubnis bzw. Krankenversichertenkarte besitzen, müssen psychologische Behandlungen eigens beantragt werden. Und die Bewilligungen dauern oder werden vielleicht sogar gezielt verschleppt. „Ich arbeite teilweise fast ein Jahr, ohne dass eine Kostenzusage vorliegt“, berichtet Michaela Müller.
Betreuende und Pflegende im HIV- und Aidsbereich können diese Defizite freilich kaum auffangen. Umso wichtiger ist es, dass sie auf die besonderen Herausforderungen vorbereitet sind, wenn sie in ihrem Arbeitalltag mit traumatisierten Patienten konfrontiert werden.
Im vergangenen Jahr widmete sich ein Seminar der DAH-Fortbildungsreihe „HIV und Psyche“ daher speziell dem Thema „Migration und Trauma“. Zu den Teilnehmern gehörte auch der Berliner Sozialpädagoge Carsten Reimann.
„Als Sozialarbeiter bekommen wir meist gar nicht mit, wie schwerwiegend die Traumatisierung ist, worin sie besteht oder was die Ursachen dafür sind“, erzählt er. Durch seine Tätigkeit beim Berliner Wohnprojekt „Zuhause im Kiez“ und zuvor bei der AIDS-Hilfe Nürnberg hatte Reimann immer wieder mit traumatisierten Migranten zu tun.
Nur wenige können über Gewalterfahrungen sprechen
„Nur wenige sprechen direkt über ihre Gewalterfahrungen. Meist geschieht dies eher beiläufig, wenn die Patienten von ihren Träumen berichten oder in Bildern sprechen, die für uns Westeuropäer nur schwer zu entziffern sind“.
Mit diesen Menschen zu arbeiten, erfordert Geduld, Aufmerksamkeit und besonderes Einfühlungsvermögen und ist überaus zeitintensiv. „Die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit darf ich von afrikanischen Patienten beispielsweise nicht unbedingt erwarten“, sagt Reimann. Das Prinzip des Terminkalenders ist vielen ebenso unbekannt wie der Beruf des Sozialpädagogen.
„Manche brechen auch den Kontakt ab und tauchen nicht mehr auf, sobald man im Gespräch etwas näher an sie herangekommen ist.“ Oft reichen schon scheinbar banale Äußerungen oder Erlebnisse aus, um ein tiefsitzendes psychisches Trauma aufbrechen zu lassen und damit Erinnerungen, Ängste und innere Konflikte freizusetzen, die zu mächtig und schwerwiegend sind, als dass diese Menschen aushalten könnten.
Über ein Jahr nach ihrem letzten Besuch in der Nürnberger Aids-Beratungsstelle war Mascha dort wieder aufgetaucht. „Ich musste erst in mich gehen, das Ganze für mich verarbeiten. Jetzt jetzt bin ich in der Lage, Hilfe anzunehmen“, entschuldigte sie sich bei Wladislaus Rzepka. Er konnte ihr inzwischen unter anderem dabei helfen, Arztatteste einzuholen und Anträge zu stellen – zum Beispiel für ein Einzelzimmer.
„Muss ich mir Sorgen machen?“
Bislang war Mascha in einem Mehrbettzimmer in einem Asylbewerberheim unterbracht. Mittlerweile kann sie sich auch mit ihren Erkrankungen aktiv auseinandersetzen und lässt sich von Wladislaus Rzepka zum Beispiel erklären, was ihre ärztliche Befunde eigentlich bedeuten. „Muss ich mir Sorgen machen?“, fragt sie ängstlich.
Eine Angst wenigstens wird ihr höchstwahrscheinlich bald genommen sein. Ihrem Antrag auf Asyl werden die Behörden aufgrund ihrer HIV-Erkrankung erfahrungsgemäß aus „humanitären Gründen“ stattgeben.
*Name von der Redaktion geändert
Diesen Beitrag teilen