Stigma tötet

„Wir nehmen doch keinen Junkie mit“

Von Axel Schock
Rettungswagen mit Blaulicht
©Gunnar Assmy/stock.adobe.com

Gleich zweimal wird ein Mann, der nach einer Drogeninjektion medizinische Hilfe sucht, abgewiesen – und stirbt deshalb am 22. Mai vermutlich infolge einer unbehandelten Sepsis. Der Fall aus Wilhelmshaven steht beispielhaft für Vorbehalte gegenüber drogengebrauchenden Menschen und mangelnde Empathie.

Es ist Montag, der 19. Mai, eine Wohnung im Wilhelmshavener Stadtteil Bant. Eigentlich hatte Manfred* die Situation schnell erfasst und richtig reagiert. Sein Freund Bernhard* hatte sich Kokain gespritzt, und die Wirkung der Droge setzte wie erwartet ein. Doch kurz nach der Injektion schwoll der Arm an und wurde völlig taub. Das Kokain, so die naheliegende Vermutung, war gestreckt bzw. verunreinigt und hatte so zu der Schwellung geführt. 

Die Sanitäter*innen weigerten sich, Bernhard zu helfen

Manfred rief sofort über die Notrufnummer den Rettungsdienst. Binnen weniger Minuten traf tatsächlich auch ein Krankenwagen ein, doch als die Sanitäter*innen die Situation erkannten, weigerten sie sich, Bernhard zu helfen: „Wir nehmen doch keinen Junkie mit“, hieß es ihrerseits. Stattdessen wird ihm empfohlen, sich ein Taxi ins nächstliegende Krankenhaus zu nehmen.

So schilderte Manfred die Ereignisse einige Tage später einer Mitarbeiterin der Aidshilfe in Wilhelmshaven, die in Kontakt mit Bernhard war. Zu diesem Zeitpunkt war Bernhard bereits gestorben.

Der schnelle Tod lässt als Ursache eine Sepsis vermuten. Er hätte leicht verhindert werden können, doch die Infektion infolge der verunreinigten Injektion war unbehandelt geblieben.

Nachdem der Rettungsdienst die Hilfe verweigert hatte, blieb Bernhard zu Hause. Die Zurückweisung hatte ihn womöglich entmutigt, sich selbst ins Krankenhaus aufzumachen. Vielleicht war er in dieser Situation auch schlicht nicht in der Lage, den Weg dorthin zu schaffen.

Auch in der Hausarztpraxis bekam er keine Hilfe

Sein Gesundheitszustand verschlimmerte sich zunehmend. Am Mittwoch wurde Bernhard deshalb von Manfred zu einer Hausarztpraxis gebracht. Da dort auch Patient*innen substituiert werden, sollte das Personal im Umgang mit Drogengebraucher*innen erfahren sein. Doch weil Bernhard die offizielle Sprechzeit an diesem Tag offenbar verpasst hatte, wurde er von einer Praxismitarbeiterin an eine Bereitschaftspraxis verwiesen. Dass Bernhard sich in einer ernsten Notlage befand und bereits der Weg in diese Substitutionspraxis nur unter großen Anstrengungen bewältigt hatte, wurde entweder nicht bemerkt oder ignoriert.

Bernhards Zustand hatte sich über Nacht drastisch verschlechtert. Manfred rief daher erneut den Rettungsdienst. Der Notarzt konnte dann jedoch nur noch den Tod feststellen.

Dass die Umstände überhaupt ans Licht gerieten, ist Manfred zu verdanken, der den Mut aufbrachte gegenüber einer vertrauten Person von der örtlichen Aidshilfe über den Vorfall zu sprechen.

„Hier hat ein Mensch aktiv und mehrfach Hilfe bei unserem medizinischen System gesucht und ist abgewiesen worden.“

„Sehr oft kann Drogengebrauchenden bei Problemen nicht rechtzeitig geholfen werden, weil sie sich schämen, den Rettungsdienst zu rufen oder zu einem Krankenhaus oder einer Arztpraxis zu gehen“, sagt die Geschäftsführerin des Landesverbandes Sexuelle Gesundheit Niedersachsen (Aidshilfe Niedersachsen), Christin Engelbrecht, in Hannover.

Bei diesem konkreten Fall in Wilhelmshaven sei die Situation allerdings eine ganz andere: „Hier hat ein Mensch aktiv und mehrfach Hilfe bei unserem medizinischen System gesucht und ist abgewiesen worden. Als Folge ist er seinem Leiden erlegen“. Das sei nicht nur inakzeptabel, sondern unmenschlich.

„Sollte sich herausstellen, dass die Verantwortlichen die Not des Mannes ignorierten, ist das ein Skandal und unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge“, betont Engelbrecht. Tatsächlich aber muss ausgerechnet Manfred, der den Rettungsdienst gerufen hat, womöglich mit einem Verfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge rechnen. Das drohte ihm zumindest der Rettungssanitäter im Verlauf des zweiten Einsatzes, als nur noch Bernhards Tod festgestellt werden konnte.

Die Feuerwehr Wilhelmshaven will sich nicht äußern

Die Feuerwehr Wilhelmshaven, die für den Rettungsdienst verantwortlich ist, will sich zu den Geschehnissen nicht äußern. Eine Sprecherin der Stadtverwaltung begründete das gegenüber der Deutschen Aidshilfe (DAH) mit Verweis auf den Datenschutz, bestritt die Vorwürfe allerdings auch nicht.

Sie betonte vielmehr, dass „die im Rettungsdienst eingesetzten Notfallsanitäter*innen sowie Rettungskräfte regelmäßige Fort- und Weiterbildungen“ erhielten – „auch zum professionellen und empathischen Umgang mit suchtkranken oder intoxikierten Personen“. Ziel sei stets, für „eine niedrigschwellige, diskriminierungsfreie und medizinisch fundierte Notfallversorgung für alle Menschen in Wilhelmshaven“ zu sorgen.

Im Falle von Bernhard wurde dieses Ziel definitiv nicht erreicht.

„Wir brauchen mehr Mitgefühl und Einsatz in Notsituationen.“

„Wir erleben bei Beschäftigten im Gesundheitswesen wie auch bei Polizeikräften immer wieder einen stigmatisierenden Umgang gegenüber Menschen, die Drogen konsumieren“, konstatiert Dirk Schaeffer, DAH-Referent für Drogen und Strafvollzug. „Es muss unser aller Anliegen sein, das Wissen über Drogenkonsum und Menschen, die Drogen konsumieren, zu erhöhen und dann Haltungen zu verändern.“ Schon seit vielen Jahren fordern Drogen- und Aidshilfen bundesweit bessere Schulungen des medizinischen Personals zu Drogenproblematiken – gerade auch im ländlichen Raum.

„Gerade vor diesem Hintergrund darf der Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende am 21. Juli keine leere Worthülle sein“, mahnt Christin Engelbrecht. „Wir brauchen mehr Bewusstsein für die Probleme suchtkranker Menschen, mehr Aufklärungsarbeit und vor allem mehr Mitgefühl und Einsatz in Notsituationen.“

*Namen von der Redaktion geändert


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