Vergessener Vorkämpfer

Als erster offen schwuler Bundestagsabgeordneter hat Herbert Rusche Geschichte geschrieben und sich von Beginn an für die Aidshilfe engagiert. Und doch war der umtriebige, unangepasste Pionier bereits fast in Vergessenheit geraten, als er Ende 2024 starb.
Es ist ein geplanter fliegender Wechsel. Die Grünen, seit März 1983 erstmals im Bundestag, haben ihre Mandate geteilt. Im Herbst scheidet planmäßig der Abgeordnete Milan Horáček aus dem Bundestag aus und zu Beginn der Bundestagsitzung am 4. Oktober begrüßt Vizepräsident Heinz Westphal mit freundlichen Worten den Nachrücker. Das Rotationsprinzip der jungen Partei ist da schon Routine. Dennoch ist es ein besonderer Tag in der Geschichte des deutschen Bundestages, denn mit Herbert Rusche zieht erstmals ein offen schwuler Politiker ein.
Der 31-Jährige hatte da bereits eine bewegte Biografie aufzuweisen. Seit den frühen 70er Jahren war er in der Schwulenbewegung aktiv. Er gehörte zu den Mitbegründern der „Homo Heidelbergensis“ und engagierte sich im Frankfurter Schwulenzentrum „Anderes Ufer“. Beruflich hingegen fasste er nur schwer Fuß. Eine Buchdruckerlehre brach er ab, eine Ausbildung zum Heilerzieher scheiterte wegen seines offenen Umgangs mit dem Schwulsein. 1977 eröffnete er schließlich in seiner Wahlheimat Offenbach mit seinem Lebenspartner einen der ersten Bioläden der Republik. Mit der Anti-AKW-Bewegung kam er zu den neu gegründeten Grünen; 1981 wurde er Geschäftsführer des hessischen Landesverbandes, zwei Jahre später Mitglied ihrer ersten Bundestagsfraktion.
Als schwuler Einzelkämpfer im Visier
Selbstverständlich gab es auch in anderen Fraktionen Homosexuelle, die das jedoch diskret behandeln. Dass Rusche sich dezidiert auch für queere Belange einsetzt, nötigt ihnen Respekt ab, doch solidarisch will man sich doch lieber nicht zeigen. Dazu wäre beispielsweise Gelegenheit gewesen, als Rusche im Namen der Grünen 1984 und 1986 Anträge zur Streichung der Paragrafen 175 einbringt. Die Bundestagsdebatte dazu läuft zeitweilig derart aus dem Ruder, dass die – erste offen lesbische – Grünen-Abgeordnete Jutta Oesterle-Schwerin zwei Jahre später in einer Rede darauf zurückkommt. Demnach äußerte ein CSU-Abgeordneter, dass allein das Wort „schwul“ nicht mit der Würde des Hohen Hauses vereinbar sei, und eine CDU-Politikerin beschimpft Rusche gar als „AIDS-Kranken“.
„Herbert war ein schwuler Einzelkämpfer“, sagt Hans Hengelein, sein damaliger Sachbearbeiter im Bundestag und später DAH-Mitarbeiter. „Er war eben der erste und einzige.“ Ein solidarisches schwules Umfeld, wie es heute selbstverständlich ist, gab es damals faktisch nicht. In der damaligen gesellschaftlich-repressiven Situation – 1984 wurde im Zug der sogenannten Kießling-Affäre ein vermeintlich homosexueller Bundeswehrgeneral wegen möglicher Erpressbarkeit aus dem Dienst entlassen – wäre umso wichtiger gewesen. Sich im Bundestag für die Streichung des Paragrafen 175 einzusetzen, konnten nicht nur hämische Beschimpfungen, sondern auch tätliche Angriffe zur Folge haben. Als Herbert Rusche im März 1984 auf einer Veranstaltung zu dem Thema sprach, wurde er von einem Neonazi angeschossen.
Unkonventionell für Frieden und Gerechtigkeit
Sein politisches Engagement reichte aber weit über die Belange der homosexuellen Community hinaus. Der erklärte Pazifist stellte Anfragen zu Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien und zur menschenrechtlichen Situation in Tibet. Sein Mandat nutzte er auch, um sich für Menschen mit HIV/Aids einzusetzen. Durch eine Kleine Anfrage machte er öffentlich, dass ausländische Stipentiat*innen auf Veranlassung der Bundesanstalt für Arbeit ohne deren Wissen auf HIV getestet wurden – und er bot sich an, in den entscheidenden Ausschüssen Gelder für die noch junge Aidshilfe einzufordern. Hans Hengelein erinnert sich noch gut an ein Gespräch Rusches mit der Deutschen Aidshilfe. Der damalige eher konservativ positionierte Vorstand sei recht arrogant gegenüber Rusche aufgetreten. „Sie waren sich offensichtlich nicht sicher, ob ein grüner Fürsprecher, der so gar nicht dem Bild entsprach, wie man sich im bürgerlichen Lager Homosexuelle wünschte, sie strategisch weiterbringt.“ Statt mit dem Vertreter dieser jungen Oppositionspartei wollte man lieber direkt mit den Regierungsparteien verhandeln.
Hans HengeleinHerbert Rusche hat sich immer aus dem Bauch heraus gegen Ungerechtigkeit eingesetzt. Damit lag er zwar richtig, aber er war kein Stratege.
1986 war Rusches Zeit im Bundestag schon vorbei. Nach der ersten Legislatur im Bundestag hatten sich die Grünen etabliert. „Für einen bunten Hund wie Herbert, zumal ohne formale Abschlüsse, war da kein Platz mehr“, sagt Hengelein. „Er hat sich immer intuitiv und aus dem Bauch heraus gegen Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung eingesetzt. Damit lag er zwar richtig, aber er war kein Stratege.“
„Es waren vorwiegend die Rampensäue, die Chefideologen und deren Gefolgsleute, die zunächst in der Bundestagsfraktion … und dann nach und nach auch in der Partei das Heft in der Hand hatten“, hatte Rusche später die wachsende Entfremdung erklärt. Die Forderung nach der Homoehe war ihm suspekt. Mit dem Kriegseinsatz im Kosovo 1999 unter Rot-Grün wechselte zur neu gegründeten Piratenpartei. „Seine Erfahrung im Umgang mit innerparteilichen Dynamiken und sein Wissen über Machtprozesse waren eine wertvolle Quelle der Orientierung“, porträtieren ihn die hessischen Piraten in ihrem Nachruf. Er sei ein Mensch gewesen, „der uns zeigte, was es bedeutet, standhaft zu sein und gleichzeitig idealistisch zu bleiben.“
Coming-out-Begleiter im Pornoshop
Das Ende seiner Bundestagskarriere hatte Rusche unerwartet getroffen. Er brauchte ein ganzes Jahr, um sich zu sortieren. Auch, weil er mittlerweile unter einer Gürtelrose litt, die vermutlich durch seine HIV-Infektion einen besonders schweren Verlauf nahm. Kurzzeitig arbeitet er als Staubsaugervertreter, dann leitet er in Frankfurt einen schwulen Buch- und Pornoladen. Ende der 80er Jahre betritt ein junger Mann das Geschäft und schaut sich unsicher um. „Herbert erkannte sofort, dass ich eine ungeoutete Jungschwuppe war“, erinnert sich Thomas Schwarz. „Er hatte eine Ader dafür, für Menschen da zu sein, und ich habe das sehr gerne zugelassen.“
Thomas SchwarzEr hat mir gezeigt, dass man Herausforderungen, die einem das Leben stellt, mit einem optimistischen Blick auf die Dinge begegnen muss.
Es ist der Beginn einer engen Freundschaft: „Herbert war mein Lebensbegleiter und Coming-out-Berater. Mit ihm konnte ich über alles reden.“ Durch die Art und Weise, wie Rusche mit seiner HIV-Infektion umgeht, lernt Thomas Schwarz eine angstfreie Auseinandersetzung mit dem Thema. „Er hat mir gezeigt, dass man Herausforderungen, die einem das Leben stellt, mit einem optimistischen Blick auf die Dinge begegnen muss. Das hat mir geholfen, später in Berlin mein neues Leben aufzubauen.“ Ohne ihn hätte er vielleicht nie den Mut erlangt, aus Hessen wegzugehen. Zehn Jahre hat Schwarz als Kampagnenleiter der DAH-Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU gearbeitet, heute ist er für LSVD Berlin-Brandenburg tätig. Neuanfänge gab es auch in Rusches Leben immer wieder – auch bei leider kurzlebigen technischen Innovationen. So gehört er zu den ersten Anbietern von Telefonsex-Nummern und er startete 1988 mit „BTX für Freunde“ im Bildschirmtext-Systems der Deutschen Bundespost das erste Onlineangebot für schwule Männer.
Von Buddhismus und ART gerettet
Was ihn durch all die bewegten Jahrzehnte getragen hat, war der Buddhismus, den er in den 70er Jahren für sich entdeckt hatte. Und auch hier übernahm er wieder tragende Funktionen: „Er hat viel für die Tibeter und überhaupt alle Menschen, die er kannte, getan, war immer mitfühlend und gleichzeitig humorvoll kritisch“, beschreibt ihn Elke Hessel von der Deutschen Buddhistischen Union, bei der er Ratsmitglied war. Petra Kelly hatte ihm eine erste Begegnung mit dem Dalai Lama ermöglicht. Als Rentner begleitete er das geistliche Oberhaupt von Tibet mehrfach auf seinen Reisen in Deutschland.
Mitte der 90er Jahre war seine Aidserkrankung soweit fortgeschritten, dass er zeitweilig auf eine Gehhilfe angewiesen war und ihm Ärzt*innen einen baldigen Tod prognostizieren. Gerade noch rechtzeitig erhielt 1996 das Medikament Crixivan die Zulassung als Baustein der antiretrovirale HIV-Therapie, rettete Rusche das Leben und schenkte ihm drei weitere Jahrzehnte. Erst in der Nacht auf den 22. Dezember 2024 starb er in einem Frankfurter Seniorenheim.
Späte Dankbarkeit für frühes Engagement
Öffentlich bekannt wurde sein Tod Wochen später durch eine Mitteilung der Deutschen Buddhistischen Union. Auch die vielen ehemaligen Mitstreiter*innen und Parteigenoss*innen erfahren erst dadurch, dass Rusche nach einem Schlaganfall vor einigen Jahren teilweise gelähmt war und kaum noch spreche konnte. Fast alle erinnern sich sehr lebendig an Rusches Lebenslust und Humor – und bedauern es, ihn aus den Augen verloren zu haben. Wie schnell ein Mensch, der als Wegbereiter einst für Schlagzeilen sorgte, in Vergessenheit geraten kann. Wie wenig bleibt von einem solchen Leben voller Engagement und Kampfgeist. Rusches Biografie war offenbar zu inkonsistent, als dass sein Wirken nachhaltigen Eindruck hinterlassen hätte.
Volker Beck„Wir verdanken ihm Einiges in der schweren Zeit der beginnenden AIDS-Krise.“
„Er geriet in der Schwulenbewegung in Vergessenheit. Aber er war ein Pionier, vielleicht nicht immer geschickt, aber mutig und beherzt“, kommentiert sein einstiger Parteikollege Volker Beck Rusches Tod. Die wenigen Nachrufe stützen sich vor allem auf Rusches Wikipedia-Eintrag und übernehmen darin enthaltene Unstimmigkeiten. Rusches Anteil an der grünen Politik zu HIV/Aids während der zweiten Kohl-Regierung wird nie in Gänze deutlich werden. Denn als Nachrücker konnte er erst in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode Kleine Anfragen stellen und dies nur im parteiinternen Arbeitskreis „Recht und Gesellschaft“. Was er zuvor als Fraktionsassistenz und später als Abgeordneter dem Bereich „Gesundheit und Soziales“ zuarbeitete, ist nicht dokumentiert und lässt sich nur erahnen. „Wir verdanken ihm Einiges in der schweren Zeit der beginnenden AIDS-Krise“, schreibt Volker Beck.
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