Vom Labor in die Apotheke: Medikamentenentwicklung und -vermarktung
Bis ein Medikament verschrieben werden kann, hat es einen langen Prozess durchlaufen. Wir erklären die Phasen und Prinzipien der Medikamentenentwicklung für den deutschen Markt.
Die Entwicklung von rezeptpflichtigen Medikamenten, wie zum Beispiel HIV-Medikamenten, ist ein streng regulierter Prozess, der durchschnittlich zehn bis fünfzehn Jahre dauert.
Am Anfang steht meist die Entdeckung eines neuen Rezeptors, eines Signalwegs oder anderer biochemischer Mechanismen, die mit einem Krankheitsprozess in Zusammenhang stehen. In der präklinischen Phase werden im Rahmen des „Screenings“ zunächst Tausende mögliche chemische Verbindungen auf ihre potenziellen Wirkungen hin untersucht. Dies geschieht mithilfe von Tests im Labor und zunehmend durch In-silico-Modelle (computergestützte Simulationen).
Erfolgversprechende Wirkstoffkandidaten werden anschließend in In-vitro-Tests (z. B. an Zellkulturen oder Gewebeproben) weiter untersucht. Zeigen sich positive Ergebnisse, folgen In-vivo-Studien an Tieren, um die toxikologischen Eigenschaften (z. B. Nebenwirkungen und deren Dosisabhängigkeit) und pharmakologischen Parameter (z. B. Absorption, Verteilung, Verstoffwechselung und Ausscheidung) zu ermitteln.
Hat ein Wirkstoff in diesen präklinischen Untersuchungen gut abgeschnitten, beginnt die klinische Phase, die in drei Hauptphasen unterteilt ist:
Phase I: Sicherheit und Verträglichkeit am Menschen
In dieser Phase wird die Substanz erstmals an 20 bis 100 gesunden Freiwilligen getestet. Ziel ist es, die Sicherheit und Verträglichkeit zu bewerten sowie erste Daten zur Pharmakokinetik (Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechselung und Ausscheidung) und Pharmakodynamik (Wirkung der Substanz im Körper) zu sammeln. Das Ergebnis dieser Phase sind Daten über die höchste sichere Dosis und erste Informationen zu Nebenwirkungen.
Phase II: Dosisfindung und Wirksamkeit
In Phase II wird der neue Wirkstoff erstmals an 100 bis 300 Patient*innen getestet, die an der zu behandelnden Erkrankung leiden. Ziel ist es, die Wirksamkeit des Medikaments zu belegen und die optimale Dosierung zu ermitteln – also das beste Verhältnis zwischen Wirkung und Nebenwirkungen. Zudem werden in dieser Phase häufige Nebenwirkungen dokumentiert. Die Ergebnisse bilden die Grundlage für die Dosis, die in Phase III getestet wird.
Phase III: Wirksamkeit im Vergleich
Nun wird der Wirkstoff an 1.000 bis 5.000 Patient*innen getestet, oft an mehreren Studienzentren weltweit. Diese Phase dient dem Vergleich des neuen Medikaments mit der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) – entweder einer bestehenden Standardtherapie („Goldstandard“) oder einem Placebo, falls es keine etablierte Behandlung gibt. Die Ergebnisse dieser Phase sind entscheidend für den Zulassungsantrag.
In manchen Fällen gibt es nach der Zulassung noch eine Phase IV, beispielsweise wenn neue Anwendungsgebiete für das Medikament entdeckt werden. Diese Phase ist meist vereinfacht, da viele der erforderlichen Daten bereits vorliegen, und dient zusätzlich der Langzeitüberwachung von Sicherheit und Wirksamkeit (Pharmakovigilanz).
Medikamentenzulassung
Nach Abschluss der klinischen Studien erfolgt die Einreichung des Zulassungsantrags bei den Behörden. In Europa wird dies zentral von der European Medicines Agency (EMA) oder, bei rein nationalen Vermarktungen, vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geregelt. Der Hersteller muss Daten aus der präklinischen und klinischen Phase sowie Dokumentationen zur Herstellung, Qualität und Sicherheit einreichen. Die Zulassungsbehörde prüft, ob ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis besteht. Erst nach der Zulassung darf das Medikament vermarktet werden.
In Deutschland kann ein neues Medikament nach der Zulassung zu einem beliebigen Preis in den Handel gebracht werden. Allerdings beginnt hier ein spezifischer Bewertungs- und Preisfindungsprozess.
Zusatznutzenbewertung und Preisverhandlungen
Innerhalb von drei Monaten nach Markteinführung muss der Hersteller ein Dossier beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) einreichen. Dieses Dossier dient der Zusatznutzenbewertung, bei der überprüft wird, ob das neue Medikament Vorteile gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT) bietet. Ein Zusatznutzen wird nur anerkannt, wenn das Medikament in mindestens einem für Patient*innen relevanten Endpunkt besser abschneidet als die Vergleichstherapie. Diese Endpunkte umfassen:
• Verlängerung der Lebensdauer,
• Verringerung von Krankheitssymptomen,
• Verbesserung der Lebensqualität (z. B. weniger Schmerzen, bessere Beweglichkeit, psychisches Wohlbefinden),
• Verringerung von Nebenwirkungen oder
• Behandlungserfolg bei bestimmten Patient*innengruppen (z. B. Kindern oder älteren Menschen).
Wird ein Zusatznutzen anerkannt, verhandeln der Hersteller und der GKV-Spitzenverband über den endgültigen Erstattungsbetrag (Listenpreis), der für die gesetzlichen Krankenkassen gilt. Falls kein Zusatznutzen festgestellt wird, darf der Preis des neuen Medikaments die Kosten der Vergleichstherapie nicht überschreiten.
Der ausgehandelte Preis gilt rückwirkend ab dem Tag der Zulassung. Hat der Hersteller zunächst einen zu hohen Preis gefordert, kann es dazu kommen, dass er die Differenz zum später vereinbarten Erstattungsbetrag zurückzahlen muss.
Nach Abschluss der Preisverhandlungen wird der endgültige Preis des Medikaments in der Lauer-Taxe veröffentlicht, einer zentralen Arzneimitteldatenbank, die von Apotheken genutzt wird. Ab diesem Zeitpunkt können Apotheken das neue Medikament an Patient*innen abgeben.
Fazit
Die Entwicklung und Vermarktung von Arzneimitteln in Deutschland folgt einem klar definierten und evidenzbasierten Prozess. Die Zusatznutzenbewertung und Preisverhandlungen sollen dafür sorgen, dass Patient*innen Zugang zu effektiven und gleichzeitig bezahlbaren Therapien erhalten. Obwohl das System der Medikamentenentwicklung gut etabliert ist, gibt es Kritik, insbesondere in Bezug auf die Flexibilität bei der Preisgestaltung und die Versorgungssicherheit bei Lieferengpässen. Eine kontinuierliche Optimierung dieses Prozesses könnte sowohl die Patient*innenversorgung als auch die Kostenkontrolle weiter verbessern.
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