Arzneimittelversorgung

Keine Markteinführung für HIV-Medikament – oder: Wie viel darf ein Leben kosten?

Von Siegfried Schwarze
Arzneimittel-Regal Apotheke
©benjaminnolte/stock.adobe.com

Ein neues HIV-Medikament kommt nicht auf den deutschen Markt, weil die herstellende Firma einen „zu niedrigen“ Preis erwartet. Menschen mit mehrfach resistenten HI-Viren, die mit anderen Medikamenten nicht ausreichend behandelt werden können, sind die Leidtragenden.

In Deutschland waren die meisten Menschen es bisher gewohnt, ärztliche Leistungen und Arzneimittel zu bekommen, wenn sie diese brauchten. Dank einer umfassenden Krankenversicherung sind gesundheitliche Leistungen für die einzelne Person – bis auf relativ geringfügige Zuzahlungen – kostenlos.

Verantwortlich sind auf den ersten Blick Lieferengpässe. Forscht man aber genauer nach, stellt es sich komplizierter dar.

Doch langsam ändern sich die Dinge: Immer wieder wird berichtet, dass wichtige Arzneimittel zeitweise nicht lieferbar seien! Verantwortlich sind auf den ersten Blick Lieferengpässe. Forscht man aber genauer nach, stellt es sich komplizierter dar:

Generika-Preise wurden immer weiter gesenkt

Die Gesundheitsminister der letzten Jahre haben immer verzweifeltere Anstrengungen unternommen, um die ausufernden Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen. Dies führte unter anderem dazu, dass die Preise für Medikamente, deren Patent abgelaufen ist (sogenannte Generika), immer weiter gesenkt wurden. 2021 fielen nur knapp 18 Prozent der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung auf Arzneimittel!

Inzwischen ist ein Preisniveau erreicht, bei dem viele herstellende Firmen aufgegeben haben. Die verbleibenden Unternehmen kaufen die für die Medikamente notwendigen Wirkstoffe oft bei demselben Hersteller in Indien oder China ein. Fällt dieser aus (wegen Covid, eines Brandes in der Fabrik, Mängeln bei der Herstellung oder zig anderen möglichen Ursachen), ist das entsprechende Arzneimittel oft wochenlang nicht lieferbar. Das kann für Menschen, die darauf angewiesen sind, erhebliche gesundheitliche Konsequenzen haben – bis hin zum Tod.

Doch auch am anderen Ende der Preisspanne, bei den patentgeschützten rezeptpflichtigen Medikamenten, wird sehr viel getan, um die Preise zu senken. Nach der Zulassung eines neuen Arzneimittels kann die herstellende Firma inzwischen nur noch für 6 Monate den Preis selbst festlegen. Danach greift die „Zusatznutzenbewertung“. Dabei muss die herstellende Firma nachweisen, dass ihr Präparat gegenüber einer „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ einen „Zusatznutzen“ aufweist. Kann sie diesen Nachweis nicht erbringen bzw. kann das „Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen“ (kurz: IQWIG) die Argumentation des Herstellers nicht nachvollziehen, wird der Preis automatisch auf den der „zweckmäßigen Vergleichstherapie“ abzüglich 10 Prozent abgesenkt. Mit dieser Regelung wollten die Gesetzgebenden verhindern, dass immer mehr Arzneimittel den Markt überschwemmen, die gegenüber den bereits zugelassenen Medikamenten keinen oder nur einen geringen Zusatznutzen für die Patient*innen bieten.

Die Grenzen der Zusatznutzenbewertung

Im Prinzip ist dieser Ansatz nachvollziehbar, er hat in der Vergangenheit auch schon zu deutlichen Einsparungen geführt. Allerdings sieht es so aus, als würden wir jetzt die Grenzen dieses Systems erreichen: Schon vor einiger Zeit hat ein Hersteller ein HIV-Medikament (Ibalizumab/Trogarzo®) vom Markt genommen, da ihm kein Zusatznutzen bescheinigt wurde und der zu erzielende Preis angeblich unter dem lag, was dieses Medikament (ein monoklonaler Antikörper) in der Herstellung kostet.

Ibalizumab war zugelassen für Menschen mit HIV, bei denen mit anderen Medikamenten keine Absenkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze möglich war. Mit anderen Worten: Dieses Medikament durfte überhaupt nur eingesetzt werden, wenn es keine andere Behandlungsmöglichkeit mehr gab. Damit gibt es aber auch keine „geeignete Vergleichstherapie“. 

Im Prinzip muss ein Pharmaunternehmen für jedes Land eine eigene Studie konzipieren – was aufwendig, teuer und manchmal schlicht unmöglich ist.

Außerdem gibt es in Deutschland glücklicherweise nicht sehr viele Menschen mit HIV, deren Virus eine so ausgeprägte Resistenz aufweist, dass sie dieses Medikament benötigen (man geht von ca. zehn bis maximal 100 Patient*innen aus). Damit ist es praktisch unmöglich, statistisch aussagekräftige Studien (wie sie das IQWIG fordert) durchzuführen, die einen „Zusatznutzen“ belegen könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass andere Länder ähnliche Verfahren haben, die sich aber im Detail unterscheiden. Im Prinzip muss ein Pharmaunternehmen also für jedes Land eine eigene Studie konzipieren – was aufwendig, teuer und manchmal, wie in diesem Fall, schlicht unmöglich ist.

Warum kein Zusatznutzen bei „Reserve-Virustatika“?

Übrigens hat der Gesetzgeber längst erkannt, dass auf bestimmten Gebieten die „Zusatznutzenbewertung“ notwendige Neuentwicklungen ausbremst. So gilt beispielsweise bei Reserveantibiotika der „Zusatznutzen“ als gegeben. Warum diese Regelung aber nicht auf „Reserve-Virustatika“ bei HIV angewendet wird, bleibt rätselhaft.

Wer auf Ibalizumab angewiesen war, kann dieses Medikament inzwischen nur noch über internationale Apotheken importieren – mit erhöhten Kosten und bürokratischem Aufwand.

Ebenfalls ausgenommen von der Zusatznutzenbewertung sind „Orphan Drugs“, also Medikamente gegen sehr seltene Erkrankungen. Nun könnte man argumentieren, eine multiresistente HIV-Infektion sei eine solche sehr seltene Erkrankung. Das IQWIG aber vertritt offenbar dieselbe Ansicht wie die Europäische Zulassungsbehörde EMA: Eine HIV-Infektion sei eine HIV-Infektion – und auch ein multiresistentes Virus rechtfertige keinen „Orphan-Status“. Ob diese Ansicht einer Klage vor Gericht standhielte, bleibt abzuwarten.

Was bedeutet das nun für Menschen mit HIV? Wer auf Ibalizumab angewiesen war, kann dieses Medikament inzwischen nur noch über internationale Apotheken importieren – mit erhöhten Kosten und bürokratischem Aufwand. Wenn es keine andere Therapiemöglichkeit gibt, müssen die Kassen die Kosten aber übernehmen, auch wenn sie dies üblicherweise zunächst ablehnen!

Lenacapavir: Seit Mai 2022 zugelassen – aber in Deutschland nicht erhältlich

Aber es geht weiter: Seit Mai 2022 ist das Medikament Lenacapavir (Sunlenca®) von Gilead zugelassen. Lenacapavir ist, ähnlich wie zuvor Ibalizumab, in Kombination mit anderen HIV-Medikamenten zugelassen, wenn keine andere Therapie zusammengestellt werden kann, die die Viruslast unter die Nachweisgrenze senkt. Das Besondere an Lenacapavir ist, dass es nach einer Einleitungsphase mit Tabletten nur noch alle sechs Monate als Spritze verabreicht wird. Allein dies würden viele Ärzt*innen und Patient*innen als deutlichen Zusatznutzen werten!

Aber Gilead geht davon aus, dass – wie zuvor bei Ibalizumab – das IQWIG keinen Zusatznutzen zugestehen wird (im Bereich HIV gab es das letzte Mal 2012 einen „Zusatznutzen“ beim Vergleich von Rilpivirin mit Efavirenz). Damit würde der Preis automatisch auf 10 Prozent unter den des Vergleichspräparats abgesenkt.

Schwer nachvollziehbare Kosten

Dieses „Vergleichspräparat“ wird vom IQWIG oft recht eigenwillig definiert. Im Falle von Lenacapavir könnte man sich vorstellen, dass Fostemsavir (Rukobia®) herangezogen wird, das auch nur bei Patient*innen mit multiresistenten HI-Viren zum Einsatz kommt. Rukobia® kostet derzeit (Stand Ende Mai 2024) 2.662 € pro Monat, entsprechend 31.944 € pro Jahr. Abzüglich 10 Prozent ergäbe das 28.750 € pro Jahr, die für Lenacapavir in der Apotheke fällig wären. Da das Präparat aber nur zweimal im Jahr verabreicht wird, entspricht das 14.375 € für knapp ein Gramm Wirkstoff! Selbst bei diesem „abgesenkten“ Preis dürfte der Hersteller also noch Gewinn machen. Aber: Die Pharmafirmen werden nicht müde zu betonen, dass ja auch die Entwicklung bezahlt werden müsse und es viele Substanzen nicht bis zur Marktreife schafften. Diese Kosten sind aber von unabhängiger Stelle schwer nachzuvollziehen.

Hinzu kommt, dass Deutschland von vielen anderen Ländern (zum Beispiel Japan) als Preisreferenz gesehen wird. Das bedeutet, die Preise, die in Deutschland für Arzneimittel erzielt werden, dienen auch in anderen Ländern als Grundlage für die Preisfindung. Außerdem plant Gilead für die Zukunft Kombinationen anderer Wirkstoffe mit Lenacapavir und die Vermutung liegt nahe, dass man sich den Preis nicht vorab „verderben“ will.

Zusatznutzenbewertungsverfahren anpassen und Kosten offenlegen

Das alles führt zu der für Deutschland noch recht ungewohnten Situation, dass ein Arzneimittel in der EU zwar zugelassen ist, auf dem deutschen Markt aber nicht erhältlich sein wird. Menschen, die auf dieses Medikament angewiesen sind, können es zwar über den Importweg bekommen, aber die bürokratischen Hürden schrecken auch manche Ärzt*innen ab, da vor jeder Verordnung die Krankenkasse gefragt werden will. Letztendlich läuft es auf die Frage hinaus, was ein Menschenleben kosten darf.

Gilead sollte seine Kostenkalkulation und die Entwicklungskosten klar offenlegen

Keine Frage, das Zusatznutzenbewertungsverfahren in seiner heutigen Form muss dringend an die Realität besonderer Krankheitsbilder wie HIV (und besonders multiresistentem HIV) angepasst werden. Indem Lenacapavir dem deutschen Markt vorenthalten wird, versucht Gilead offenbar, politischen Druck aufzubauen. Es ist zu erwarten, dass die Firma versucht, Patient*innen und Ärzt*innen mit „ins Boot“ zu holen. Um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, sollte Gilead aber seine Kostenkalkulation und die Entwicklungskosten des Medikaments klar offenlegen. Sonst bleibt der Verdacht, dass ein Pharmaunternehmen versucht, schwer kranke Menschen als Geiseln zu nehmen, um maximalen Profit zu erwirtschaften.

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