„Die Vorenthaltung einer Substitution ist nach meinem Verständnis Folter“
Herr Haas, Ihr Klient hat Ihnen erlaubt, mit seinem Schicksal an die Öffentlichkeit zu gehen. Was können sie berichten?
Florian Haas (H): Mein Mandant ist chronisch krank. Er hat HIV, Hepatitis C und eine schwere Neuropathie, die ihn weitgehend aus dem sozialen Leben ausschließt. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist er heroinabhängig. Eine traumatisierende Kindheit mit einem gewalttätigen Stiefvater, unzählige Entgiftungen, Entzüge und gescheiterte Therapieversuche prägten sein Leben, ebenso immer wieder neue Gefängnisaufenthalte wegen Beschaffungskriminalität.
Der etwa 60-Jährige wird regelmäßig von der Lebensgefährtin und seiner Tochter besucht. Sein Gesundheitszustand ist jämmerlich, aber er ist strukturiert, nett, offen und kämpferisch. Die Neuropathie ist so stark ausgeprägt, dass er nicht nur massive Bewegungseinschränkungen hat, sondern auch höllische Schmerzen. Ursächlich ist das kaum behandelbar, aber man kann die Schmerzen lindern. Unter der Methadontherapie in Freiheit waren seine Schmerzen deutlich geringer. Er nahm als einer der Ersten an Substitutionsprogrammen teil. Die Substitution wäre in den meisten Gefängnissen der Republik auch anstandslos weitergeführt worden, nicht aber in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim in Bayern, wo er zurzeit einsitzt.
Der Leiter dieser JVA soll laut TAZ vom 25. 4. 2012 erklärt haben: „Wir geben ihm hier die einmalige Chance, von den Drogen loszukommen, Ich sehe keinen Sinn darin, jemandem ohne Not eine Ersatzdroge zu verabreichen.“ Er sei auch der Auffassung, Drogensucht sei keine Krankheit.
H: Das erklärt, warum in der JVA Kaisheim bisher noch nie jemand substituiert wurde und die Anstalt und ihr Arzt sich weigern, ihre Insassen erfahrenen Suchtmedizinern zur konsiliarischen Beratung vorzustellen. Das Problem liegt darin, dass die Anstaltsärzte entscheiden, wann sie einen Spezialisten brauchen und wann nicht.
Müssen Gefängnismediziner nicht zwangsläufig zu Experten der Suchtmedizin werden?
Florian Schäffler (S): Das würde eine entsprechende Fortbildung voraussetzen. Die Suchtforschung fordert, dass der medizinische Apparat der Haftanstalten Sucht-, Infektionsmedizin und intensive Psychotherapie abdecken müsse. Etwa ein Drittel der männlichen und die Hälfte der weiblichen Inhaftierten sind drogenabhängig. Bei einer kürzlich in Bayern durchgeführten Befragung unter ehemals inhaftierten Drogenabhängigen zeigten sich alarmierende Infektionsraten: 46 % der Befragten hatten eine HCV-, 2 % eine HBV- und 3 % eine HIV-Infektion angegeben. Setzt man diese Zahlen in Bezug zu dem ebenfalls abgefragten Konsumverhalten in Haft – dabei ergab sich ein häufiger gemeinschaftlicher Spritzengebrauch –, wird das enorme Risiko deutlich.
Auf ganz Deutschland bezogen gehen Forscher davon aus, dass 17,6 % aller Gefangenen eine Hepatitis C und 10,6 % eine Hepatitis B haben oder hatten und dass 0,8 % HIV-positiv sind. Jeder fünfte bis sechste Gefangene hat mindestens eine dieser Infektionskrankheiten. Das sollte ein hinreichender Grund sein, sich mit Sucht- und Infektionsmedizin zu beschäftigen.
H: Ich bezweifle, dass sich der in Kaisheim tätige Anstaltsarzt mit den Entwicklungen in der Suchtmedizin auseinandergesetzt hat, sonst müsste er der Gefängnisleitung vermitteln, dass Sucht eine Krankheit und für manche Verläufe auch unter Haftbedingungen die Substitution mit Methadon die Behandlung der Wahl ist.
„Gefangene haben bisher keine Lobby in der Ärzteschaft“
Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass der Bund den Ländern sogar den Weg für die Originalstoffvergabe in Haft freigemacht hat; Baden-Württemberg etwa hat sie zugelassen, bisher aber noch nicht in die Praxis umgesetzt. Ich weiß natürlich, dass die medizinische Versorgung bundesweit sehr unterschiedlich ist. Aber es scheint schon ein besonderer Menschentyp zu sein, der sich der Gefängnismedizin verschreibt.
Für die Ärzte im Strafvollzug gelten aber doch auch die Behandlungsleitlinien der Bundesärztekammer. Sie an ihre berufsrechtliche Verpflichtung zu erinnern, zum Wohle der Patienten zu arbeiten, hilft wohl nicht weiter?
S: Im Grunde müssten sich die Ärztekammern mit diesen Fragen auseinandersetzen. Ich bin da aber skeptisch, denn die Gefangenen haben bisher keine Lobby in der Ärzteschaft. Auch mit dem Gleichheitsgedanken kommen wir nicht weiter, weil sofort als Gegenargument kommt, jeder Fall sei einzeln zu beurteilen. Anders als in Großbritannien haben wir in Deutschland kein etabliertes Verfahren, die Qualitätssicherung und Gleichbehandlung in der Justiz sicherzustellen.
„Es wird Zeit, dass Gefangene endlich renten- und krankenversichert werden“
Von Aidshilfe-Mitarbeitern, die Inhaftierte begleiten, ist immer wieder zu hören, dass auch in substituierenden Anstalten nicht nur medizinische Kriterien gelten, sondern die Dosierung auch als Disziplinarmaßnahme genutzt wird.
H: Die Vorstellung, dass die Inhaftierten zur Strafe einsitzen und das auch deutlich spüren sollen, ist in manchen Haftanstalten spürbar vorhanden.
Aber Gefangene geben doch nicht alle Rechte an der Gefängnispforte ab! Eine zweckmäßige, ausreichende und zugleich notwendige Gesundheitsvorsorge und Krankenbehandlung steht ihnen doch zu.
S: Das ist zwar richtig, aber wir haben ein strukturelles Problem. Gefangene sind nicht krankenversichert. Ihre Behandlung wird aus dem Justizetat bezahlt, und die Anstaltsleitungen stehen unter Kostendruck. Diesen Druck herauszunehmen, könnte eine Veränderung einleiten. Es wird Zeit, dass Gefangene, die ja schließlich auch arbeiten, endlich renten- und krankenversichert werden.
Von externen Ärzten, denen Gefangene zugeführt werden, höre ich ja auch, dass es immer wieder mal Diskussionen mit den JVA-Verwaltungen gibt, ob notwendige Behandlungen nicht warten könnten, bis jemand aus der Haft entlassen ist. Bei einer Hepatitis C bleiben die meisten ohne Rücksicht auf Spätschäden unbehandelt, weil man ja sonst wegen des Reinfektionsrisikos auch den Spritzenumtausch ermöglichen müsste.
S: Alle wissenschaftlich begleiteten Modellversuche zur Spritzenvergabe in Haft haben diese Maßnahme der Infektionsprophylaxe positiv bewertet, Probleme waren nicht aufgetaucht. Trotzdem wurden die Projekte bis auf ein einziges eingestellt, weil sie zugleich offenlegten, in welchem Ausmaß der Vollzugsalltag ein Drogenproblem hat. Das macht deutlich, dass die repressive Drogenpolitik scheitern muss, wenn sie noch nicht einmal hinter Gefängnisgittern durchzusetzen ist.
„Juristen schreiben die Unfähigkeit, ohne illegale Drogen zu leben, dem fehlenden Willen zu“
H: Es kommt noch ein anderes Problem hinzu. Wenn sich jemand in Freiheit unzureichend behandelt oder versorgt fühlt, stehen Rechtsmittel zur Verfügung, die eine erneute Beurteilung durch den fachlich kompetenten Medizinischen Dienst der Krankenkassen erzwingen können. In Haftsachen dagegen entscheiden die Juristen, ob der Anstaltsmediziner die notwendige Fachkompetenz hat – eine weitere medizinische Überprüfung findet nicht statt.
Und wie die Juristen bei süchtigen Delinquenten entscheiden, hängt davon ab, welche Bilder sie vom süchtigen Gebrauch verbotener Substanzen haben. Sie sehen Sucht nicht als Krankheit, sondern schreiben die Unfähigkeit, ohne illegale Drogen zu leben, dem fehlenden Willen zu. Da wird zwar die schwere Kindheit gesehen, aber auf die Folgen von Missbrauch oder Gewalt für die kindliche Seele und für die weitere Biografie lassen sich die Gerichte dann doch nicht ein.
Sie müssten sonst nämlich erkennen, dass manche Biografien so heftig sind, dass Drogen als der einzige Ausweg erscheinen. Drogenkonsum wird als lästiges Verhalten gesehen wie etwa das Rauchen, das viele, natürlich unter Mühen, doch auch aufgegeben hätten. Nach Meinung der Gerichte sind die Bedingungen für Abstinenz im Knast ja gar nicht so schlecht. Dass damit die Ursachen und Folgen der Sucht völlig verkannt werden, scheinen sie nicht wahrzunehmen. Womit wir zu Ihrem Mandanten zurückkommen: Wie hat sich die anwaltliche Vertretung ergeben?
S: Da war ich nicht unbeteiligt. Bei einer Podiumsdiskussion an der Hochschule über die Verhältnisse in Haft wurde für mich deutlich, dass ich über das Universitäre hinaus einen Beitrag zur Beseitigung der unwürdigen Zustände leisten muss. Man muss Anlässe für öffentliche Skandalisierung schaffen. Und ich habe die Aidshilfe ins Boot geholt, die den Kontakt in den Knast vermittelte. Das alles hat mich dann mit dem von mir sehr geschätzten Anwalt Haas zusammengebracht.
H: Wir versuchen nun, die Substitution gerichtlich zu erzwingen oder wenigstens zu erreichen, dass zur Beurteilung ein Suchtmediziner hinzugezogen wird. Vor den deutschen Gerichten sind wir damit gescheitert. Zwar erkennt der eine Senat des Oberlandesgerichts München an, dass mein Mandant nicht in Richtung Abstinenz therapiefähig ist. Gleichwohl verweist der für die Strafvollstreckung zuständige Senat desselben Gerichts meinen Mandanten darauf, er könne den Empfehlungen des Anstaltsarztes, dessen suchtmedizinische Kompetenz nicht zu bezweifeln sei, folgen und einfach drogenfrei leben. Der körperliche Entzug sei abgeschlossen, der Mandant brauche nur die vielfältigen Therapieangebote der JVA zu nutzen.
„Man unterstellt ihm eine asoziale Persönlichkeit, weil er auch in Haft Drogen gebraucht“
S: Zwar gibt es in der Haftanstalt einen Sozialdienst und eine Drogenberatung, aber auf angemessene psychotherapeutische Angebote kann der Gefangene nicht zurückgreifen, weil sie einfach nicht im erforderlichen Maße vorgehalten werden.
H: Stattdessen wird ihm eine asoziale Persönlichkeit unterstellt, weil er den Drogengebrauch in Haft fortsetzt. Das geht natürlich nur unter Bedingungen, die gesundheitsgefährdend sind.
S: Fehlende Substitution erhöht im Übrigen nach der Haftentlassung das Mortalitätsrisiko aufgrund von Überdosierungen. Wir können davon ausgehen, dass knapp die Hälfte aller Drogenabhängigen am ersten Tag in Freiheit wieder zur Nadel greift. In vielen Fällen ließe sich bei einer Substitution in Haft die geregelte Überleitung in eine draußen fortgeführte Behandlung gewährleisten. Das würde tödlichen Überdosierungen entgegenwirken und die Entlassenen gleich wieder an das Hilfesystem anbinden.
„Wir brauchen eine breite Lobby für die Rechte der Gefangenen“
Substituierende Haftanstalten sehen die positiven Effekte aber nicht nur für den einzelnen Gefangenen, sondern auch für den Vollzug selbst, weil sich substituierte Drogenabhängige besser in den Haftalltag integrieren, der Drogenhandel zurückgeht usw.
H: In der JVA Kaisheim sieht man das anders. Die Gewährung einer Substitution begreift man dort wohl als eine Gnade oder Belohnung, statt zu erkennen, dass das die einzige für meinen Mandanten sinnvolle Therapieform ist. Ihm diese vorzuenthalten, ist nach meinem Verständnis Folter, weswegen wir inzwischen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind.
Aber eigentlich brauchen wir etwas anderes, nämlich eine schonungslose Bestandsaufnahme zur Gesundheitsversorgung in Haft und eine breite Lobby für die Rechte der Gefangenen. Es wäre schön, wenn wir die kritischen Medien, die Ärzteschaft und die Juristen als Bündnispartner gewinnen würden.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
„Menschenrechte müssen hinter Gitter“ – die Deutsche AIDS-Hilfe setzt sich für die Achtung des Rechts Gefangener auf Gesundheit und für eine Versorgung in Haft ein, die derjenigen „draußen“ entspricht.
Sie fordert deshalb auch die (Wieder-)Einführung der Vergabe steriler Spritzen zur HIV- und Hepatitis-Prävention. Unterstützen können Sie diesen Aufruf unter www.drogenundmenschenrechte.de.
Am 10. Dezember 2013, dem Tag der Menschenrechte, findet in Berlin außerdem die Fachtagung „HIV- und Hepatitis-Prävention in Haft: Keine Angst vor Spritzen!“ statt, mit der dieser Forderung Nachdruck verliehen werden soll.
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