Mann mit Diskokugel
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„Macht die schwule Szene glücklich?“ Um diese Frage ging es am 6. Oktober im Salon Wilhelmstraße der Deutschen AIDS-Hilfe. Philip Eicker hat die leidenschaftliche Diskussion verfolgt

Umstritten ist schon die Ausgangsfrage: Eine Szene könne nicht glücklich machen, wenden einige Gäste ein, für sein Glück sei schon jeder selbst verantwortlich. Natürlich wissen auch die Veranstalter – die Deutsche AIDS-Hilfe und ihre Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU – dass es zu viel verlangt ist, von der Homowelt gleich ein ganzes glückliches Leben zu verlangen. Die Frage soll nicht eindeutig beantwortet werden, sondern weitere Fragen aufwerfen: Tut die Szene schwulen Männern gut? Und schadet sie manchmal auch, etwa indem sie diejenigen, die dort ihr Glück suchen, mit Körperkult und Jugendwahn konfrontiert?

Ein junger Mann sucht die große Liebe, seine schwule Identität, eine Heimat – und landet im Nachtleben der Großstadt, in dem es vor allem um Sex geht und wo Oberflächlichkeit und Selbsthass regieren. Diese Geschichte erzählte 1971 der Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“. Ist diese pessimistische Diagnose 40 Jahre später noch gültig? Die provokante Geschichte bildet den Auftakt der Diskussion. Mit dabei: Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker, damals einer der führenden Köpfe hinter dem Film.

Zunächst aber hat der Journalist Dirk Ludigs (ehemals DU&ICH, FRONT) das Wort. Er betont, dass schwule Männer in der Regel eine schwierige Lebensgeschichte hinter sich haben: „Die Szene ist ein Ort, an dem sich Menschen mit Problemen häufen.“ Für einen selbstbewussten Menschen sei das zu verkraften, nicht aber für jemanden, „der nicht mehr viel anderes hat, auf das er stolz sein kann“. Und: „Je fester ich den Deckel zur übrigen Welt zumache, umso größer ist die Gefahr, dass ich unglücklich bin.“ Im extremsten Fall führe dies zu Depressionen oder Drogenmissbrauch.

„Kann die schwule Szene einen jungen Menschen, der aus der Provinz in die große Stadt kommt, verderben?“, provoziert Moderator Holger Wicht.

Martin Dannecker verwahrt sich dagegen. Im missfallen die Untertöne der Diskussion, in der aus seiner Sicht schwules Leben als krankhaft dargestellt wird. Sein Urteil fällt freundlicher aus als vor 40 Jahren: Szene sei weit mehr als das Nachtleben, sie reiche bis zum schwulen Hundezüchterverein. Sie helfe bei der Herausbildung eines individuellen schwulen Lebensentwurfs. „Wir sind ja kein unbeschriebenes Blatt Papier, sondern kommen mit relativ stabilen Patterns [psychologischen Musterrn, Anm. d. Red.] in die Szene“, betont Dannecker. Ihre Identifikationsangebote könne man annehmen, ablehnen oder modifizieren.

„Es gibt gerade in großen Städten sowieso nicht die eine Szene, sondern sehr viele verschiedene“, sagt Crispin Prill, Geschäftsführer der Berliner Bars „Große Freiheit“ und „Himmelreich“. Er hat sich vor Eröffnung seiner Läden mit seinem Geschäftspartner viele Gedanken gemacht, wie man eine freundliche Atmosphäre schaffen kann. Kommunikation ist Prill wichtig; deswegen gibt es in der Großen Freiheit einen helleren Gastraum mit Jukebox und Flipper ebenso wie einen „beruhigten Gastraum“, der ganz bewusst nicht Darkroom heißt.

Aber braucht es schwule Bars überhaupt noch? Ein Zuhörer fordert die Diskussionsrunde eindringlich auf, bei der Diskussion das Internet nicht zu vernachlässigen. Sofort kommt so richtig Leben in die Bude. „Macht blau glücklich?“, ruft jemand in Anspielung auf Gayromeo. Dirk Ludigs begeistert: „Das Internet bietet hervorragende Möglichkeiten, sich Sex zu organisieren – und zwar ohne dass ich bis zwei Uhr morgens im Club stehen und mich besaufen muss.“ In der gewonnenen Zeit treffe er sich lieber mit Freunden zum Essen.

Das sieht Stephan Roth, Rollenmodell von ICH WEISS WAS ICH TU, völlig anders: „Bei Gayromeo habe ich in letzter Zeit oft den Witz mit der 11 88 0 gelesen: 11 Stunden vorm Rechner, 88 Chats und null ist dabei rumgekommen. Das hört sich für mich unglücklich an!“

Unbestritten bleibt allerdings, dass sich viele Schwule von Szene-Idealen stressen lassen. Sie fühlen sich nicht schön, schlank oder jung genug. „Ist die Szene noch ein Schutzraum, wo jeder so sein kann, wie er ist?“, fragte Dirk Sander, Schwulenreferent der Deutschen AIDS-Hilfe. „Oft schaffen wir dort neue Normen, die uns unter Druck setzen.“ Aber leiden nicht auch heterosexuelle Frauen unter dem Schlankheitswahn? Martin Dannecker: „Unsere ganze Gesellschaft macht nicht glücklich – wie soll da die schwule Szene glücklich machen?“

So gegensätzlich die Blickwinkel, in einem sind sich alle einig: Viel Frust über die Szene erwächst aus den hohen Erwartungen ihrer Nutzer. „Wer mit einem heimlichen Heiratswunsch in die Cruisingkneipe geht, wird schwer enttäuscht“, konstatiert ein Zuhörer. Dirk Ludigs hebt hervor, die Szene sei in erster Linie ein Ort, um Sexpartner zu finden: „In Heterokreisen käme niemand auf die Idee darüber zu diskutieren, ob die Reeperbahn glücklich macht. Das große Problem der Schwulen ist es, dass die Szene gleichzeitig der wichtigste Heiratsmarkt ist.“

Stephan Roth ist das zu negativ. In der Schlussrunde explodiert er förmlich: „Macht die schwule Szene glücklich? Ja! Die schwule Szene macht glücklich!“ Er habe dort viel Spaß und treffe auch überwiegend glückliche Leute. Sein Fazit: „Szene ist immer das, was du daraus machst.“

Und mit dieser Aussage sind dann plötzlich doch alle einverstanden.

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